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Das hat sie nicht verdient!
"Weißt du, was ich getan habe?", fragte Emil und blickte von der Seite auf Antons Gesicht. Anton schüttelte den Kopf.
"Eigentlich will ich nicht davon reden. Aber...alles ist so bedrückend, seitdem es geschah. Immer wieder scheint es mir, als schauen Blicke in meinen Kopf, als könnten ihre Augen greifen, was in meiner Erinnerung steckt. Ich muss es loswerden." Jetzt rückte Emil an den Freund heran und näherte sein Gesicht dem von Anton, bis dieser die tiefen starken Ausstöße von Atem an seiner Wange spürte. Auf dem Wasser schwammen vier Enten, während auf der anderen Seite des Sees zwei Personen den Weg entlang des Ufers spazierten, einen kurzen Augenblick nahe des Wassers stehen blieben und dann einige Brotkrümmel hinein warfen. Die Enten registrierten das Futter erst nach mehreren prüfenden Blicken. Sie wirkten ein wenig verwirrt. Dann schwammen sie eilig in Richtung des Brotes, wobei sie zwischenzeitlich immer wieder mit ihren Flügeln schlugen und kämpften schließlich mit den Schnäbeln um ihren Anteil. Ein kühler unangenehmer Wind strich über das Ufer, während die kahlen Äste der Fichten leicht zitterten. Emil flüsterte nun leise; wie ein Geheimagent auf wichtiger Mission:
"Du darfst es nie jemanden erzählen. Das hier bleibt unser kleines Geheimnis!"
Anton hob die Augenbrauen und nickte verwirrt. Sein Haar wurde von einer Windböe aufgewirbelt.
"Weißt du; manchmal vollbringen Menschen Taten, auf die sie nicht stolz sein können. Dinge, die wirken, als wären sie nicht von dieser Welt. Ich bin jung. Das ist keine Entschuldigung, aber es ist ein Grund. Was ich getan habe, muss ein anderer wissen. Denn jeden Tag, scheint es in mir zu wachsen. Als hätte ich das Ei eines Tintenfischs gegessen. Und jetzt ist er in meinem Magen, wächst und wächst, bis seine Tentakel mich schmerzen!", erklärte Emil
Daraufhin holte er eine Schachtel Zigaretten und sein braunes Gasfeuerzeug aus der Jackentasche, griff sich eine aus der Packung, zündete sie an und zog zwei tiefe Züge. Er richtete seinen Oberkörper auf und beobachtete die Enten in der Ferne, während er wieder zu sprechen begann:
"Ich glaube; das nennt man schlechtes Gewissen. Hab davon gehört, aber nie geglaubt, das ich selbst es einmal spüren werde."
Anton nickte. Er wunderte sich. Noch nie hatte er Emil so erlebt. Dieser war nie der Typ tiefgehender Worte gewesen; die Gefühle waren in ihm, Anton wußte das. Kein Mensch ist frei von jeder schmerzenden Empfindung. Aber bei ihnen galt das Schweigen mehr, als lähmendes Gesülze. Man tat einfach so, als wäre das Leben ein lockeres einfaches Spiel, dessen Regeln sich leicht verrücken lassen. Bisher hatte es funktioniert. Beide hatten daran geglaubt. Dennoch logisch, das es irgendwann zerbrechen musste. Anton starrte auf einige Schilfrohre im Wasser, welche sich vom Wind führen ließen.
"Was ist denn los?", fragte er.
"Elise...ich habe sie verletzt; ohne, das sie es ahnt.", antwortete Emil und blickte ins Meer, als ob er gerne in der Tiefe des Wassers verschwinden und sich unter einem von Algen verdeckten Fels verkriechen würde.
"Wie meinst du das?"
"Verdammt Anton! Ich habe sie betrogen. Ich habe mit einer anderen geschlafen und zur Hölle ich lieb Elise nicht mehr."
Anton schwieg. Sein Mund stand offen. Er kannte sie gut; Elise war seine beste Freundin.
"Ich bin nicht stolz drauf, aber ich weiß, das ich wieder so handeln würde. Und das nicht, weil ich Elise verletzen will, sondern weil ich die Andere liebe!"
Emil starrte beschämt zu Boden und zog weiterhin an seiner Zigarette.
"Elise haftet in meiner Erinnerung, das wird sie immer tun. Aber ich sehe in ihr nicht mehr, als einen hübschen Klumpen Fleisch, mit dem ich einmal geschlafen habe. "
Anton schüttelte entsetzt den Kopf. Er konnte es nicht fassen. Sein Blick hing an den Schilfrohren, die kurze Zeit still standen.
"Es geschah nicht freiwillig. Anton! Glaub mir, ich will Elise nicht weh tun. Aber das ist verflixt noch mal Liebe. Man kann sie nicht bestimmen."
"...Das hat Elise nicht verdient!" Anton schüttelte wiederholt den Kopf. Seine Gedanken drehten sich nur noch um sie. Das hat Elise nicht verdient. Das hat sie nicht verdient.
"...Was soll ich tun, Anton?" Die Enten am anderen Ufer des Sees waren noch immer mit dem verzweifelten Kampf um die Brotkrümmel beschäftigt.
"Sag es ihr!" Emil lachte gespielt.
"Glaub mir, wenn das so einfach wäre! Ich kann nicht einfach zu ihr gehen und sagen, das ich mit einer anderen geschlafen habe. Sie würde nicht verstehen, das sie nicht die Einzige ist, mit der ich im Bett lag! Solche Dinge kannst du keinem Mädchen sagen."
"Du bist verrückt, Emil!..."
Anton stand auf und ging in eiligen Schritten weg.
Das hat Elise nicht verdient. Das hat sie nicht verdient. Dieser Verrückte.
Am nächsten Tag - etwa gegen die Mittagszeit - klopfte es an Antons Tür. Draußen war es kühl und vor dem Fenster flogen Schneeflocken hinab bis zur Straße. Manche blieben auf der Fensterbank liegen und hinterließen eine weiche weiße Schicht. Im Wetterbericht von gestern hatten sie kein Wort vom Schnee gesagt und heute berichtete das Radio bereits seit Anton aufgestanden war, von dem großen Schneechaos im ganzen Land. Züge fuhren nicht, Busse standen und die Autobahnen waren größtenteils unbefahren. Anton lag auf seinem Bett und glotzte das Mittagsprogramm im Fernsehen, während seine Gedanken noch um den gestrigen Tag schwebten. Als es klopfte, erschrak er kurz und blickte dann erwartungsvoll auf die Tür. "Herein!" Die Tür wurde geöffnet.
Es war Elise. Sie trug einen dicken Wollpulli, merkwürdigerweise zwei Schals, welche aber beide sehr dünn waren und eine enge blaue Jeans. Ihr Kopf wurde von einer roten Mütze mit einem dicken Bommel auf der Spitze geschützt. Auf ihrer Kleidung hing noch ein wenig Schnee, welcher bei der Zimmertemperatur jedoch allmählich zu Wasser schmolz. Ihre Wangen waren von der Kälte draußen rot gefärbt und sie rieb die Handlächen aneinander. Elise! Anton schluckte und richtete sich auf, bis er auf der Bettkante saß und seine Füße den Boden berührten.
"Darf ich reinkommen?" Anton war verwirrt. Er brauchte einige Sekunden um zu reagieren.Elise!
"Klar, setz dich!" Sein Finger zeigte auf einen roten gemütlichen Sessel mit dicken schwarzen Armlehnen. Elise schloß die Tür, legte die Mütze und den Schal auf Antons Schreibtisch und schmiss sich mit geschlossenen Augen auf ihren Platz, als hätte sie vor, einige Stunden Mittagsschlaf zu genießen. Anton suchte die Fernbedienung unter dem Kopfkissen und schaltete mit ihr den Fernseher aus.
"Ich hoffe, ich störe nicht. Heute kommt man mit den Bussen nicht weit und da dachte ich daran, dich mal wieder zu besuchen." Ihre Augen waren noch immer geschlossen, während sie schmatzende Geräusche mit dem Mund machte. Das tat sie öfters und niemand konnte erklären, warum.
"Du weißt, das du nie störst. Ist es denn draußen wirklich so schlimm?" Anton richtete sich ihr zu und setzte einen interessierten Blick auf. In Wahrheit dachte er an völlig andere Dinge. Das hat Elise nicht verdient. Das hat sie nicht verdient. Emils Gesicht drängte sich in seine Gedanken.
"Ja! So etwas habe ich noch nie erlebt. Die Menschen stellen ihre Fahrzeuge mitten auf der Straße ab, manche Autos am Straßenrand sind so zugeschneit, das nur noch die Konturen des Schnees ein Auto darunter vermuten lassen. Und als ich eben im Wagen meiner Mutter saß, weil die Verrückte tatsächlich einkaufen wollte, hat sie ungewollt mitten auf der Straße eine 180° Grad Drehung hingelegt. Zum Glück waren in dem Augenblick keine Anderen in der Nähe. Ich meinte zu meiner Mutter nur Cool, du bist James Bond, während sie verwirrt auf die Straße starrte." Anton lächelte gespielt, während Elise ihre Augen öffnete und auf die gewöhnliche süße Art grinste, wobei sich ihre Wangen aufpumpten. Nach einem kurzen Augenblick löste sich ihre fröhliche Miene auf.
"Ist irgendwas?" Anton blickte ziellos im Zimmer umher. Er versuchte ihrem Blick auszuweichen.
"Ich kann wohl nichts mehr vor dir verbergen?", fragte er und wendete die Augen ihrem Gesicht zu.
"Nö - darum nennt man so etwas ja Freundschaft!" Sie stieg aus dem Sessel und setzte sich neben Anton auf die Bettkante. Seine Nackenhärchen richteten sich auf.
"Also, was ist los?", fragte sie mit besorgter Miene.
"Nichts!" Das hat Elise nicht verdient. Das hat sie nicht verdient.
Ihr Lächeln. Das sanfte Regen ihrer Brust. Die blauen Augen.
"Sag es ruhig! Ich bin still wie ein Grab."
Das nennt man Freundschaft. Sag es ihr. Du musst es ihr sagen. Vergiss Emil - Vergiss diesen dreckigen Hund."Anton?" DAS HAT ELISE NICHT VERDIENT
"Nichts ist! Schon gut..."
Wieder huschte das süße Lächeln über ihre Lippen. Anton sah in ihren Augen etwas glänzen. Er hielt es für ihre Unschuld.
"Sicher?"
Anton nickte.
"Wenn du irgendjemanden zum Reden brauchst, ich bin für dich da!"
Sie küsste ihn auf die Wange. Sanft und ganz kurz. Ein wenig Lippenstift blieb hängen.
Wo ist dein Mut geblieben, Feigling!. Elise blieb noch eine Weile.
Am Abend klingelte Antons Handy. Er saß in der Küche und aß einen Toast belegt mit Fleischwurst und einer Schicht Eiersalat. Seine Eltern waren unterwegs mit dem Auto auf der Schnellstraße im Stau stecken geblieben. Die Situation auf den Straßen verschlimmerte sich immer weiter und das Radio übermittelte ununterbrochen Verkehrsmitteilungen aus ganz Deutschland. Anton war froh, wenn zwischenzeitlich mal ein wenig Musik gespielt wurde. Als das Handy klingelte, legte er den Toast auf den Tisch, drehte den Lautstärkeregler des Radios leicht runter und zog aus seiner Hosentasche das Handy hervor. Auf dem Display zeigte ein schwarzer Digitalschriftzug Emils Namen gefolgt von seiner Nummer an. Erst wollte er es wieder zurückstecken, entschied sich daraufhin aber dennoch dagegen und drückte auf den grünen Knopf.
"Hi Emil!", grüßte er mit genervter Stimme
"Anton, Anton, zur Hölle!" Emils Stimme klang aufgebracht. Er schien zu weinen.
"Was ist los?", fragte Anton genervt und verzehrte danach einen Happen seines Toasts. Sein Blick folgte einer Schneeflocke, die vom Himmel hinab glitt und sich mit der weißen Masse auf der Fensterbank vereinte. Am liebsten hätte Anton sofort aufgelegt.
"Elise, Elise..." Emil schaffte es nicht den Satz zu beenden. Einige schnelle aufgeregte Atemzüge ertönten im Hörer. Anton schluckte den Happen in seinem Mund herunter.
"Emil, ich esse gerade. Ruf mich bitte nicht mehr an."
"Elise hatte einen Unfall." Stille. Anton atmete nicht. In der Wohnung über ihn trampelte jemand laut auf den Boden. Emil redete weiter. Er begann laut zu schluchzen, sodass Anton nur mit Anstrengung den Inhalt der Worte erkennen konnte:
"Sie war auf dem Nachhauseweg. Als sie eine Treppe runtergehen wollte, hat sie das Eis auf den einzelnden Stufen nicht gesehen. Sie rutschte aus und knallte mehrfach mit dem Kopf auf die Kanten. Am Ansatz der Treppe blieb sie liegen. Vermutlich lebte Elise noch einige Minuten nach dem Unfall."
"Tot?" Anton spürte ein Pressen, einen Druck im Magen, als hülle ein Vakuum sein Inneres aus und ließe ihn allmählich implodieren. Sein Gesicht färbte sich blass, er ließ den Toast aus seiner Hand fallen und dieser klatschte mit der beschmierten Seite auf eine schwarze Fliese. Die Nachrichtensprecherin ertönte leise im Hintergrund aus dem Radio.
"Ja, Anton, sie ist tot. Es tut mir leid. Du weißt nicht, was das für mich bedeutet. Sie ist tot und ich weiß..." Anton griff das Handy fester, umklammerte es mit jedem Finger, holte aus und schmiss es mit voller Wucht gegen die Wand, sodass es in tausend Teile zersplitterte. Das hat sie nicht verdient! Das hat Elise nicht verdient
Antons Blick wanderte zum Fenster. Die Schneeflocken flogen weiter hinab auf die Straße, mitten in der dunklen Nacht und die Schicht auf der Fensterbank erhöhte sich mit jeder Stunde weiter. Am liebsten wäre Anton jetzt rausgelaufen und hätte Elise besucht. Dann hätte sie gelacht, die Augen, das Funkeln der Pupillen, die Bewegung ihrer Brust. Nichts. Alles weg. Er drehte den Lautstärkeregler des Radios wieder auf. Die sanfte beruhigende Stimme der Nachrichtensprecherin ertönte, aber Anton nahm den Inhalt ihrer Sätze nicht wahr. Er schwebte in Gedanken bei Elise; bei dem süßen unwissenden Mädchen mit den blauen Augen und den aufgepumpten Backen. Er dachte an Emil und das Gespräch von gestern. Irgendwie schien das Geschehene wie ein Traum, der sich in seiner Erinnerung manifestiert und sich mit seiner Realität vermischt hatte. Am liebsten würde er Elise anrufen, ihr die ganze Wahrheit sagen und dann ruhig und guten Gewissens schlafen gehen. Im Radio ertönte weiterhin die Nachrichtensprecherin. Ihre Worte schienen keine Bedeutung zu haben, huschten durch seine Ohren ohne den Umweg in sein Gehirn zu nehmen. Erst nach einigen Augenblicken schaffte er es ein solches Maß an Konzentration zu erreichen, das die Worte verständlich wurden. Der Inhalt der Worte erreichte ihn, wurde klar wie ein verschwommenes Fernsehbild, das nach einigen Sekunden Schärfe annimt.
"Am Nachmittag kam ein 16-jähriges Mädchen in der Innenstadt von Remscheid ums Leben. Ein älteres Ehepaar fand ihre Leiche beim Spazieren an der letzten Stufe einer langen Steintreppe, welche von einer plattgetrampelten Schneeschicht bedeckt wurde, wodurch das Eis auf den verschiedenen Stufen kaum zu erkennen war. Das Mädchen rutschte beim Abstieg aus, knallte mehrfach mit dem Schädel auf die Kanten der Stufen und starb bewegungslos am Ansatz der Treppe. Es wird angenommen, das sie noch einige Minuten nach dem Unglück lebte."