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Das Haus auf dem Land
Das Haus auf dem Land
Sonntag, 1. April
Gestern sind wir in unser Haus eingezogen. Endlich. Nie wieder Autoschlangen unter dem Schlafzimmer, kein Kopfweh vom Sirenengeheul ... nur noch Vogelgezwitscher und mal ein Kinderlachen. Herrlich! Ich kann es noch gar nicht fassen, und Simon auch nicht. Stolz schraubten wir unser Namensschild an: "Simon und Hella Baumgart". Hier ist unser Paradies, unsere Idylle.
Sonntag, 16. April
Haben heute Gras gesät und waren bei den linken Nachbarn, den Bremers, zum Kaffee. Ganz entzückende Leute; nur ihr kleiner weißer Schnuffi, der immer dazwischenkläffte, störte mit der Zeit.
Die Bremers erzählten, hier auf dem Land fände man am besten Anschluss, wenn man einem Verein beitrete. Die beiden sind bei den Schützen. "Da sind auch viele junge Leute", erklärte Frau Bremer. "Die Frauen schießen genauso wie die Männer, es macht eine Menge Spaß, und an frischer Luft ist man auch."
Na ja, man kann ja mal hingehen, den Nachbarn zuliebe.
Mittwoch, 19. April
Wah suppa, ich habb dauand danebengeschossn, aba der Rudi sacht, das wird schon. Simon wah noch schlechta. Hat nachher seine gansen alten Wizze erzählt, abba nach dem vielen lauten Geballa hab ich sowieso nua noch die Hällfte vastanden.
Donnerstag, 20. April
Keine Ahnung, wie ich diesen Tag überstanden habe, Simon auch nicht. Wecker wie eine Kreissäge. Kopf zu breit für die Tür. Autofahrt reine Glückssache, Arbeit auch. Ohren klingeln. Heute erster warmer Abend. Wir auf den Liegestühlen; Schnuffi auch draußen und kläfft wie blöd. Bremers sind drin. Die wissen schon warum.
Sonntag, 23. April
Waren bei den rechten Nachbarn, den Obermeiers, zum Kaffee. Sie sind entzückend; der Mann lobte die Gestaltungsmöglichkeiten im eigenen Haus, die Frau gab uns Gartentipps. Beide redeten uns zu, sich einem Verein hier anzuschließen, wollten uns aber von den Schützen abraten; die meisten Typen da seien so angestaubt wie ihre Witze.
Mittwoch, 26. April
Wia wollten echt nichts sauffn, abba die Elke hatte Gebudtstach, da kann man sich nich ausschließn. Sinn echt eine total nette Runne, die Schützn, weiß nich, was die Obbameiers ham. Simon sagte, ich soll nich dauernd alde Wizze erzähln.
Donnerstag, 27. April
Wecker Kreissäge, Kopf, Auto Glück, Arbeit Hölle, Ohren. Mittags Wurst gekauft für Schnuffi. Er war dann abends auch zehn Minuten lang still, so lange brauchte er, um die Wurst zu fressen. Ohropax, die hat Simon gekauft. Fenster zu. Bett.
Samstag, 29. April
Samstag. Ausschlaftag. Um halb acht röhrte ein Ungeheuer los. Es wütete gegenüber, beim Mühlbauer, der es mit zwei Händen zu bändigen suchte, während es seinen Rasen fraß.
Ohropax blieben wirkungslos. Schließlich standen wir auf. Immerhin, die Sonne strahlte, und so hatten wir mehr vom Tag. Gingen spazieren. Um elf zurück; der Mühlbauer führte eine Art Minensuchgerät am Zaun entlang, das ein unentwegt hohes Kreischen von sich gab. Gelegentlich schnitt es einen nah am Zaun wachsenden Grashalm ab. Der Mühlbauer ging sehr langsam. Sein Garten ist groß.
Simon schlug vor, nach dem Essen ins Kino zu gehen. Am besten in einen Film über den perfekten Mord.
Montag, 1. Mai
Heute noch mal Feiertag. Wir werkelten zufrieden im Garten. Als wir uns später auf den Liegstühlen räkelten, kamen Schnuffi von links und der Obermeier von rechts, und der Obermeier fragte, ob er trotz Feiertag schnell ein bisschen die Steinfliesen mit der Flex zurechtsägen dürfe, er könne den restlichen freien Tag dann schön nutzen, um sie im Wohnzimmer zu verlegen. Wir nickten, nicht begeistert, aber unter Nachbarn ... wir gingen dann rein.
Dienstag, 2. Mai
Kreissäge. Kopf. Auto. Hölle. Scheiße. Wenn schon Quadratschädel, dann jedenfalls vom Saufen und nicht von zwei Stunden Gekreische mit der Flex.
Samstag, 6. Mai
Samstag. Ausschlaftag. Um halb sieben lief Schnuffi nach draußen und bellte den Regen an. Um halb acht bellte er immer noch, und wir standen auf. Man hat so mehr vom Tag.
Sonntag, 7. Mai
Der Waldsbaziergang gesdern war eine blöde Idee bei dem eisigen Regn. Bin verschnobfd. Simon husded. Misd.
Mittwoch, 10. Mai
Wecker. Gopf. Nase, Hals. Ohren zu. Gönnen uns nichd grangmelden, haben Brojegd mit Dermindrugg. Dag Hölle. Abends Schdreid um die Wärmflasche. Schüdzen so laud, zwei Sunden Geballer vom Wald rüber; fälld gar nichd so auf, wenn man selber midschießd.
Immer noch Regn. Simon sagd, dann wächsd das Gras schneller, und wir gönnen mähen. Schlägd dafür Samsdag sieben Uhr Morgends vor. Nichd schlechd.
Donnerstag, 11. Mai
Endlich besser. Auch das Wetter. Simon sagte, diese Woche war gut für unsere Leber. Herrlicher Abend. Das Gras ist schon fünf Zentimeter hoch. Wir aßen auf der Terrasse, als ein dröhnendes Monster links von uns aus dem Schuppen brach. Herr Bremer grinste uns an und sagte: "Endlich ist es trocken, und man kann mähen. Wenn euer Rasen richtig schließt, werdet ihr euch auch über solche Gelegenheiten freuen!"
Jedenfalls meinte ich, ihm das von den Lippen abzulesen. Simon glaubte verstanden zu haben: "Hier auf dem Lande hängt man nicht faul auf der Terrasse rum, man arbeitet. Und zwar laut."
Wie auch immer. Wir gingen rein.
Samstag, 13. Mai
Samstag, Ausschlaftag. Um sieben ein wahnwitziges Kreischen. Simon und ich rannten ans Fenster. Herr Obermeier rief uns zu, er wolle schön früh ein paar Stunden flexen, dann könne er nachher die freie Zeit nutzen, um alles zu verlegen.
Wir standen auf und gingen in den Wald. Jedenfalls regnete es nicht.
Dienstag, 16. Mai
Herrlicher Terrassenabend. Wir aßen gerade, als ein durchdringendes Jaulen und Sirren erklang. Der Mühlbauer beschnitt seine Hecke. "Wehret den Anfängen", sagte er. "Wenn sie erst zu schießen anfängt ..." Jedenfalls war es das, was Simon von seinen Lippen las. Ich hingegen hab gelesen ... ach, lassen wir das.
Mittwoch, 17. Mai
Wir fingen gerade auf der Terrasse an zu essen, als ein Dröhnen von rechts jedes Wort verschluckte. Diesmal wurde der schon recht hohe Rasen der Obermeiers gekappt. Ich blickte verzweifelt Simon an: "Warum", wimmerte ich, "warum hat er nicht gestern, als der Mühlbauer die Hecke ... dann wäre alles in einem Rutsch ..."
Wir starrten auf unsere zartgrünen Hälmchen. Schließlich sah Simon mich an, ein diabolisches Leuchten in den Augen. "Morgen, mein holdes Weib, werden auch wir so ein Gerät erstehen, welches dem Gartenbesitzer eine solch willkommene Hilfe bietet", las ich von seinen Lippen ab, während sich sein Gesicht verzerrte.
Na ja, vielleicht hat er auch was anderes gesagt.
Donnerstag, 18. Mai
Keuchend luden wir ein qietschgrünes Monstrum aus dem Auto. Es hat sich im direkten Vergleich als das dezibelstärkste erwiesen. Untermalt von den Klängen einer Kreissäge - der Bremer zerkleinerte Holz für seinen Kamin - trugen wir später das Essen auf die Terrasse. Simon bewegte die Lippen, machte mir Zeichen, brüllte mir schließlich ins Ohr: "Diesen Samstag um sieben mähe ich, in 14 Tagen du, okay? Dann können wir danach den Tag schön nutzen."
Ich nickte und erwäge seither das Erlernen der Gebärdensprache.
Samstag, 20. Mai
Irgendein Vollidiot schmiss um punkt sieben seinen Rasenmäher an. Dann fiel mir ein, dass es Simon war und unser eigenes Gerät, das da so wände- und kulturüberschreitend dröhnte. Im Nachthemd lief ich ans Fenster, und da war er, mein Ehemann, jeder Zoll ein Recke, eingetaucht in das brandrote Morgenlicht, die kräftigen Hände fest um die Griffe des PS-starken Gartenhelfers gelegt, einen Umkreis von einem halben Quadratkilometer machtvoll dominierend. Mein Herz schlug rascher, als bei Bremers, Obermeiers und dem Mühlbauer die Lichter angingen. Erregung durchschauerte einer Kaskade Perlen gleich meinen Heroinenkörper.
Beim Frühstück leuchteten Simons Augen: "Ich glaube, jetzt habe ich mich an den Lebensrhythmus hier gewöhnt!"
Wir gingen in den Wald. Da war es ruhig, von den vier Waldarbeitern mit den zwei Motorsägen abgesehen.
Sonntag. 21. Mai
Wir entflohen am Vormittag dem Gepiepse der Vögel und gingen auf den Flohmarkt des Nachbardorfes. Ich ließ es mir nicht nehmen, einen halbverrotteten, abgeblätterten Holztisch und vier ebensolche Stühle zu erstehen.
"Was willst du denn mit dem Sperrmüll?" rief Simon. Ich sah ihn mit glänzenden Augen an: "Wart's ab, Überraschung!"
Montag, 22. Mai
Kaufte mittags Ohropax, ein Gerät, das Schwingschleifer heißt, ein Eimerchen blauer und ein Eimerchen gelber Farbe.
"Wir essen später", erklärte ich Simon, als wir zu Hause ankamen, stürmte in den Garten und setzte den laut und hoch sirrenden Schwingschleifer am ersten abgeblätterten Stuhl an. Keine Sekunde zu früh; der Mühlbauer hatte schon seinen Rasenmäher in den Garten geschoben, erstarrte nun, als er mich sah und hörte. Ich rief ihm zu: "Weiche zurück, Unseliger! Jetzt bin ich an der Reihe!"
Der Mühlbauer ließ die Hände sinken. Erst zwei Sunden später, als wir aßen, wagte er sich auf seinen Rasen.
Möglicherweise war es das, was uns zuvor auch die anderen zugerufen haben.
Freitag, 26. Mai
Simon ist begeistert. Wir werden jeden zweiten Tag schleifen und die Gartenmöbel dann blau anmalen. Im Herbst werden wir sie wieder schleifen und gelb anmalen. Unglaublich, wie kreativ man hier in der ländlichen Idylle wird.
Montag, 29. Mai
Nächsten Sonntag habe ich Geburtstag; ich wünsche mir ein Minensuchgerät für die Rasenkanten. Simon kaufte sich heute eine Stichsäge und will morgen vor der Arbeit die Beine aller Gartenstühle um drei Millimeter kürzen, um zu sehen, ob sie gut funktioniert.
Mittwoch, 31. Mai
Ha�mm gut geballat. Ssimmon musste heute was ausgebn, weil er dreimal inns Schwaaze getroffen hatte. Er sacht, das is vonne Rasnmähertreening. Ich hab auch noch paa Runnen ausgegebn, weil eina imma Wizze erzählte, waan zwar alt, aber ssaugut, ssoweit ich's vastannen habe.
Sonntag, 4. Juni
Ein toller Geburtstag! Ich bekam Pralinen, eine süße Kette, das Minensuchgerät, und dann lächelte Simon geheimnisvoll und meinte, er sei gleich wieder da. Ich war schon sauer, denn es dauerte fast eine Stunde, bis er wieder auftauchte, doch er kam nicht allein: An der Leine führte er eine Art braunes Stierkalb, das er aus dem Tierheim geholt hatte. Es ist eine dänische Dogge, ein Jahr alt und hört auf den Namen Bulli. Bulli rannte im Garten herum, überschlug sich fast vor Freude und bellte fröhlich. Er mag unsere Witze. Ein entzückendes Tier.
Samstag, 10. Juni
Wie herrlich, in der ersten Morgenluft durch den Garten zu schreiten, einen brüllenden Moloch in den entschlossenen Händen, angestrahlt von dem orangen Licht der Morgensonne. Ich bin hier eins mit der Natur geworden.
Dienstag, 13. Juni
Die Bremer guckt neuerdings leicht giftig zu uns rüber. Vielleicht, weil wir nur noch das tiefe melodische Bellen unseres Bulli hören können, das das hysterische Gekläff von ihrem Schnuffi angenehm übertönt.
Freitag, 15. Juni
Der Obermeier sägt täglich wie ein Irrer Bretter zurecht, die der Schwachkopf offensichtlich alle zu lang gekauft hat. Er verkleidet seine Terrasse. Simon ist voller Neid; er sucht nach einem neuen Betätigungsfeld für seine Stichsäge.
Donnerstag, 21. Juni
Erschienen in der Arbeit als einzige zum Meeting um zehn; es findet erst nächsten Dienstag statt. Ist uns schon zweimal passiert. Ein Kollege bemerkte, neuerdings frage Simon so oft nach, und meine Freundin Heike wollte wissen, warum ich immer so ins Telefon brülle.
Ich machte einen Termin nächste Woche beim Ohrenarzt fest.
Dienstag, 26. Juni
Simon ist glücklich. Er wird den Dachboden ausbauen und verkleiden; in Haus und Garten türmen sich Bretter, Werkzeug und Dämmmaterial. Simon meinte, er habe alle Bretter vorsichtshalber etwas länger gekauft; abschneiden könne man sie schließlich immer noch, aber zu kurz ist zu kurz. Sehr umsichtig.
Donnerstag, 28. Juni
Der Arzt stellte bei uns beiden eine leichte Schwerhörigkeit fest. "Ein typisches Symptom für Großstadtbewohner", tröstete er uns. "Wenn Sie sich Ruhe gönnen, kann sich das wieder normalisieren. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, ziehen Sie auf's Land. Das ist wie ein Jungbrunnen für Ihre Ohren."
"Wenn er meint", sagte Simon später.
Auf dem Heimweg kauften wir einen Laubsauger.