Das Haus hinter dem Gartenzaun
Es war ein Haus wie jedes andere. Gut, es war ziemlich groß und alt und nur wenige Leute konnten behaupten, einen so großen Garten zu besitzen. Aber es war einfach ein Haus, nichts Spannendes, nichts, woran man wirklich Gefallen finden könnte.
Es war lange nicht mehr bewohnt worden und dadurch sehr verwahrlost. Nachdem der Vorbesitzer gestorben war, hatte sich nicht einmal jemand die Mühe gemacht, seinen persönlichen Besitz auszuräumen und der Wohlfahrt zu spenden.
Klara Meyers Mutter hatte sich auf den ersten Blick in das Haus verliebt. Sie war hin und weg von den dunkelroten Holzfensterläden, der langen, mit Kieselsteinen bestreuten Einfahrt und dem großen Garten. Weder Klara noch ihr Vater konnten ihr in ihrem verblendeten Zustand klarmachen, was das Haus wirklich war, nämlich nichts als ein Haufen Arbeit. Es bestand hauptsächlich aus Schmutz, der im Laufe der Jahre alles mit einer dicken Schicht überzogen hatte und dessen Entfernung so viel Kraft kostete, dass sie wohl für den Rest ihres Lebens damit beschäftigt sein würden. Den Garten würden sich wohl erst Klaras Kinder vornehmen können, denn dieser schien einem Urwaldsfilm entsprungen zu sein, ein ewiger Dschungel, wie Klara fand.
Da ihr Vater seiner Frau allerdings noch nie etwas abschlagen konnte und der Umzug einschränkungslos seinetwegen geschehen musste, wurde der Kauf innerhalb von ein paar Tagen zur beschlossenen Sache und die Familie hatte ein neues Dach über dem Kopf.
Klara war sich nicht sicher, wie lange es sich wirklich über und nicht auf ihrem Kopf befinden würde und eigentlich wäre sie auch nicht wirklich daran verzweifelt, wäre das Haus bald eingestürzt. Sie war nicht wütend auf ihren Vater, sie war alt genug, um zu verstehen, dass es nicht seine Schuld war, dass die Firma pleite gegangen war und er sich eine neue Arbeitsstelle suchen musste. Aber das hatte es ihr auch nicht leichter gemacht, von einem Tag auf den anderen ihre Freunde zu verlassen. Besonders die Trennung von ihrem 20-jährigen Bruder, der sich gegen den Umzug entschieden hatte, war schwer für sie. Aber sie verstand es. Wofür sie dagegen weniger Verständnis hatte, war die Entfernung. Wieso mussten sie von Nordschleswig geradewegs nach Oberschwaben ziehen? Gab es keine Arbeit für ihren Vater, die etwas weniger weit entfernt von ihrem Zuhause, ihrem wahren Zuhause, lag?
An den Türen zu den verschiedenen Zimmern im Haus, dessen Einwohner wohl zahlreicher kaum hätte sein können, waren Namen angebracht, zusammengestellt aus Holzbuchstaben. Sie hatte sich Jonathans Zimmer ausgesucht, nicht weil es groß war oder weil es ihr besonders gefiel, denn es gab durchaus prächtigere Zimmer, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie einen Freund namens Jonathan hatte und sich ihm dadurch näher fühlte, zumindest ein kleines bisschen. John war ein paar Jahre älter als sie und dadurch hatte sie nie so viel mit ihm zu tun gehabt wie mit Bastian und Greg, aber sie hatten viel zusammen erlebt, viel Schönes.
„Halt die Ohren steif, Clara,“ hatte er zum Abschied zu ihr gesagt und ihr seine Faust hingehalten, zum Brudergruß. Seit sie alle englisch lernten, wurde sie von den Jungs immer „Clara“ genannt.
Das Zimmer war nicht eingerichtet und schien eher als Abstellkammer gedient zu haben als ein Kinderzimmer zu sein. Jonathan war wohl schon eine ganze Weile nicht mehr zu Hause gewesen.
Bevor sie eingezogen waren, hatten die Drei einige Tage im örtlichen Hotel gewohnt um erst einmal die gröbsten Staub- und Schmutzschichten in den Schlafzimmern, die sie sich ausgesucht hatten, zu beseitigen und ein wenig aufzuräumen. Darauf folgte eine gründliche Säuberung von Küche und Badezimmer, von dem erstaunlicherweise im ganzen Haus nur ein einziges vorhanden war. Die Arbeit war schmutzig, erschöpfend, langwierig und langweilig zugleich und endete für Klara mehr als einmal in dem frustrierten Wunsch, aus diesem Alptraum aufzuwachen und wieder zu Hause zu sein, in dem kleinen zweistöckigen Haus, zusammen mit Oliver und wo sie nicht erst alle Kartons durchwühlen musste, bis sie ihren Schlüsselanhänger mit dem Fußball fand, den ihr die Jungs einmal geschenkt hatten.
Schließlich zog die Familie Meyer in das Haus ein. Klara stand in ihrem neuen Zimmer und räumte ihre Klamotten in den neuen Schrank, den sie mit ihren Eltern in der Stadt gekauft hatte. Ihre Mutter und sie hatten den halben Nachmittag dazu gebraucht, ihn zusammenzubauen, doch nun stand er und beide konnten behaupten, um eine Erfahrung reicher geworden zu sein. Nachdem der große Kleiderkarton leer war, nahm sie sich einen weiteren und begann, die wenigen Spielsachen zu verstauen, die sie mitgebracht hatte. Da steckte ihre Mutter den Kopf durch die angelehnte Tür.
„Na, wie sieht’s aus?“, fragte sie zwinkernd.
„Ich bin fast fertig,“ bekam sie zur Antwort.
„Ah, gut. Papa ist da und nach dem Essen könnten wir die Brauns besuchen, Frau Braun hat uns doch letztens den leckeren Bananenkuchen vorbeigebracht. Was meint du, hm?“
Die Brauns waren ein älteres, kinderloses Ehepaar, das eine deutlich erkennbare Vorliebe für alles Wachsende hatte. Sie waren sehr freundlich und unterhielten sich angeregt mit Klaras Eltern. Frau Braun konnte toll backen und bot den Meyers bei ihrem Besuch ungefähr fünf verschiedene Sorten von Gebäck an; ein Keks schmeckte besser als der andere, aber Klara langweilte sich schrecklich, genau wie bei den Bauers, den Eiseles oder der alten Frau Schulz. Alle Leute in der Umgebung schienen entweder kleine, schon erwachsene oder gar keine Kinder zu haben. Wo waren all die 10-Jährigen?
Am Haus war noch immer viel Arbeit zu verrichten, aber allmählich wurden die Sommertage kühler und der letzte Ferientag brach an.
„Klara, Telefon!“, rief ihr Vater und das Mädchen lief die Treppe hinunter.
„Wer ist es?“, fragte sie unten angekommen, doch ihr Vater hielt ihr nur den Hörer entgegen und zwinkerte ihr zu. „Hallo?“
„Hey Claires, alles klar?“, sagte eine tiefe Stimme fröhlich.
„Olli!“
„Erzähl mal, wie ist die Luft da unten, hm?“
Klara blickte sich im Zimmer um und sah ihre Eltern am Tisch sitzen. Sie hörten zu. „Ähm... ganz okay,“ log sie, „aber es sind ziemlich viele Kühe hier.“
Ihr Bruder lachte. „Ach ja? Papa sagt, ihr wohnt in einem ganz großen Haus.“
„Ja.“
„Und, hast du schon neue Freunde gefunden?“
„Morgen ist erster Schultag.“
„Das habe ich gehört. Bist du aufgeregt?“
„Nein. Na ja, ein bisschen schon. Ich kenne da ja niemand.“
„Hör mal, Claire, das wird schon. Du setzt dich einfach neben Jungs, spielst in der Pause mit Fußball und schon hast du Freunde. Papa sagt, ihr habt einen großen Garten?“
„Ja. Aber der ist voll mit Unkraut und Bäumen.“
„Das bringt er schon in Ordnung. Und dann kannst du alle zum Fußballspielen einladen.“
„Ja.“
„Okay, dann... ich muss Schluss machen.“
„Ja.“
„Bleib cool, Claires.“
„Du auch.“ Auch wenn keiner der beiden es laut gesagt hatte, denn dazu waren sie zu cool, die beiden Geschwister vermissten sich schrecklich. Vor allem Klara wusste nicht, wie sie ohne ihren Bruder, der alles Schlechte ins Gute wenden und aus allem Langweiligen einen Riesenspaß machen konnte, weiterleben sollte. Es war die Hölle.
Aber am nächsten Tag würde die Schule beginnen, was einen kleinen Lichtblick darstellte. Sie hatte nie gern gelernt, aber allein um für einige Stunden der langweiligen Hausarbeit zu entfliehen, hätte sie fünf Gedichte auswendig vorgetragen.
Frau Sülzer, Klaras Klassenlehrerin, war eine ziemlich rundliche Frau um die 50 mit einem kürbisförmigen Gesicht und fettigen, dunkelblonden Haaren. Sie trug einen roten Lippenstift und wenn sie lächelte, was sie gern und oft tat, kamen ihre Zähne zum Vorschein, die durch das Make-up eine etwas rötliche Färbung angenommen hatten. Mit ihrer piepsigen Stimme erklärte sie Klaras Eltern, dass ihre Tochter bestens bei ihr aufgehoben war und seltsamerweise setzte sie ans Ende jedes Satzes einen Laut, der sie anhörte wie „ga?“ Schließlich verabschiedete sie sich von Klaras Eltern und ging mit ihr einen Stock höher ins Klassenzimmer, wo alle bereits auf sie warteten. Vorne am Pult stand ein großer, stämmiger Junge. Neben ihm sah Klara geradezu winzig und schmächtig aus.
„Kinder, ich begrüße euch zum neuen Schuljahr, eurem letzten Jahr an der Grundschule. Ihr habt in diesem Jahr zwei neue Mitschüler. Das ist Clemens Muster und das ist Klara Meyer.“ Klara spürte den sanften Druck von Frau Sülzers Hand auf ihrer linken Schulter. Kaum hatte die Lehrerin ausgesprochen, steuerte Clemens auf den freien Platz im Kreise der Jungen zu, wo er bereitwillig aufgenommen wurde, und setzte sich. Er schien einen Teil der neuen Mitschüler bereits zu kennen. Klara stand etwas unbeholfen da und wusste nicht, was sie tun sollte. Der einzige noch freie Platz war in der ersten Reihe neben einem hübschen schwarzhaarigen Mädchen. Da sagte Frau Sülzer: „Klara, setz dich neben Lisa, ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“ Innerlich sträubte sie sich mit Händen und Füßen, sich neben dieses Mädchen zu setzen. Diese Lisa war ihr total unsympathisch, denn sie sah so... mädchenhaft aus. Klara mochte keine Mädchen. Mädchen kicherten ständig und schrieben sich Briefchen. Jeden Tag nannten sie ein anderes Mädchen ihre beste Freundin und dauernd war eine beleidigt, außerdem hatten sie immer rosa Sachen an. Aber im Moment blieb ihr nichts Anderes übrig, als sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
In den ersten drei Stunden wechselten die beiden Mädchen kein einziges Wort miteinander und Klara blickte sich immer wieder neidisch zu Clemens und den anderen Jungs um, die sich prima verstanden und ihren Spaß hatten. In der großen Pause steuerte Klara geradewegs auf die große Wiese zu, auf der bereits ein Fußballspiel im Gange war.
„He, gang mol weg!“, rief ein Junge ihr zu.
„Was?“, fragte sie.
„Gang mol runtr vom Fäld!“
Sie verstand kein Wort und ging auf den Jungen zu. „Kann ich... kann ich vielleicht mitspielen?“, fragte sie ihn, doch er lachte nur. „Wia schwätsch’n du?“
„Wie bitte? Ich verstehe dich nicht.“
„Made, was isch?“, rief ein anderer Junge ungeduldig.
„Nix! Komm, Mädle, jetz ganga mol do niabor!“
Sie sah ihn verständnislos an und zuckte hilflos mit den Schultern. Er verdrehte die Augen. „Weg-ge-hen. Husch-husch.“ Er machte ein paar eindeutige Handbewegungen und Klara verließ missmutig das Spielfeld. Toll war das gelaufen.
Es sollte sich herausstellen, dass die Mädchen und Jungen in der Klasse um nichts in der Welt etwas miteinander zu tun haben wollten. Für Klara war das ein Schock, denn sie war bisher immer nur mit Jungs zusammengewesen. Auch fand sie diese Einstellung völlig lächerlich und da sie ohnehin kein richtiges Mädchen zu sein glaubte, startete sie einen weiteren Versuch, um am Fußballspiel teilnehmen zu können, doch es nützte alles nichts. Anstatt etwas zu erreichen, wurde sie nur wegen ihrer Sprache verspottet.
Auch sie hatte Probleme mit dem Verstehen des Schwäbischen, doch glücklicherweise sprach Frau Sülzer hochdeutsch und mit den anderen hatte sie ohnehin nichts am Hut, höchstens mit Lisa und diese gab sich stets Mühe beim Sprechen, sodass Klara sie ohne größere Probleme verstand. Aber Freunde hatte sie selbst einige Wochen später noch nicht gefunden. Die Mädchen kamen anfangs auf sie zu und waren neugierig, aber was wollte Klara mit Mädchen? Wehmütig dachte sie an ihre Freunde in Schleswig, an all die Nachmittage, die sie auf dem Fußballplatz oder im Wald verbracht hatten. Besonders der Gedanke an Greg, der drei Jahre lang ihr Nebensitzer in der Schule gewesen war, machte sie traurig. Sie war todunglücklich und zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass sie viel schlechtere Noten bekam als an ihrer alten Schule. Sie war zwar nie sehr gut gewesen, aber für Zweier und Dreier hatte es stets gereicht und nun bekam sie vorwiegend Vierer. Vor allem die Diktate waren viel schwieriger als früher. Sie bekam von ihren Eltern keinen Ärger, denn diese schoben alles darauf, dass die Sprache anders war und Klara sich ohnehin noch nicht richtig eingewöhnt hatte. Allerdings musste sie daran denken, dass sie nach diesem Jahr die Schule wechseln musste und mit Noten wie diesen würde sie nur auf der Hauptschule angenommen werden.
Klaras Tage brachten wenig Abwechslung mit sich. Sie ging zur Schule, kam nach Hause, machte ihre Hausaufgaben und übte mit ihrer Mutter die Diktate. Anschließend half sie im Haus und spielte ein wenig Ball. Da der Garten sich noch immer in keinem betretbaren Zustand befand, tat sie dies im größten Zimmer des Hauses, welches, dem Namenschild nach zu urteilen, Beatrix bewohnt hatte. Das Zimmer war eingerichtet gewesen, aber bis auf einen großen Holzschrank hatten sie alles ausgeräumt und entsorgt. Ihr Vater hatte ihr einen kleinen Basketballkorb aufgehängt mit dem sie spielen konnte und sie traf nun schon viel häufiger hinein als vor wenigen Wochen.
An einem Donnerstagnachmittag Mitte Oktober setzte sie sich nach einem anstrengenden, aber siegreichen Spiel auf den Boden und schnappte nach Luft. Sie war verschwitzt und völlig erschöpft, aber das Spiel hatte Spaß gemacht. Ihr Blick schweifte durch das Zimmer und blieb plötzlich an etwas hängen, das sie bisher übersehen hatte. Es befand sich ein kleiner Spalt zwischen der Wand und dem großen Schrank und in diesem war etwas. Klara kroch quer durch den Raum und zog den Gegenstand heraus, es war ein Buch mit einer Mickeymaus auf dem Cover, aber ohne Titel. Sie schlug es auf und las: „Dieses Buch gehört Maja Schill“. Es war deutlich zu erkennen, dass am Anfang einige Seiten herausgerissen worden waren und der erste Eintrag trug das Datum des 10. Juli 1991. Klara begann zu lesen.
Heute will ich dir eine ganz besondere Geschichte erzählen, also hör gut zu. Auf der anderen Seite vom Gartenzaun ist ein Haus. Da drin wohnt eine böse Frau. Wir haben alle Angst vor ihr weil sie ist immer gemein zu allen Leuten, besonders zu uns Kindern. Das ist schade weil wir gern mal in dem Garten spielen würden und nicht auf dem Parkplaz vor dem Hochhaus aber wenn wir sie fragen würden würde sie bestimmt nein sagen. Wir sind oft drausen und spielen auf dem Tehr Ball, gestern auch. All waren da, Katrin und Hans, die kleine Mareike von ganz oben, Klemon und Oreli von unten und wir. Wir haben Dreiländerball gespielt, da muss man ja den Ball ganz hoch werfen. Die kleine Mareike kann noch nicht so gut werfen, sie ist ja erst sechs und da ist der Ball auf einmal über den Gartenzaun geflogen. Frau Kopp war im Garten und hat gerade ihre Bluhmen gegosen als es passiert ist und plötzlich hat sie angefangen mit uns zu schreien obwohl der Ball nur auf das Gras geflogen ist. Sie hat gesagt das wir unverschemt sind, Schreihalse die keine Rüksicht nehmen und keinen Respekt vor den Erwachsenen haben und in den Kindergarten gehören und noch viel mehr böse Sachen. Sie war richtig böse auf uns, sie ist bis an den Zaun vorgekommen und hat ihre Gieskanne so fest rumgeschüttelt das immer ein bischen Wasser rausgespritzt ist und auf Frau Kopp drauf. Ihr Gesicht ist dabei ganz rot geworden. Sie hat mit dem Zeigefinger gewedelt und alles hat mitgewakelt, die runde Brille, der Busen, der Rock mit den vielen bunten Punkten drauf, der große Popo und die Gieskanne, aber irgendwann war da kein Wasser mehr drin das auf sie draufspritzen konnte. Es sah eigentlich sehr lustig aus aber keiner hat sich getraut zu lachen. Wir wussten ja schon das sie uns nichts tun darf aber wir hatten trotzdem große Angst davor das sich der Gartenzaun gleich auftut und sie zu uns rüberkommt und...
Wir haben ganz oft enschuldigung gesagt aber sie hat einfach nicht aufgehört zu schreien. Ich habe gar nicht verstanden warum sie so böse war weil der Ball ist ja nicht auf die Bluhmen draufgeflogen. Irgendwann hat sie dann doch aufgehört zu schimpfen und nur noch böse gekuckt. Aber als Katrin dann ganz nett gefragt hat ob sie uns den Ball zurückgibt hat sie dumme Göhre zu ihr gesagt und ihn genommen und ist ins Haus gegangen. Ich weis nicht so richtig was eine Göhre ist aber Mama hat gesagt das es ein böses Wort ist und in meinem Wörterbuch ist es auch nicht deshalb glaube ich das Katrin ganz bestimmt keine Göhre ist. Sie hat ganz doll geweint als die Frau Kopp ihren schönen bunten Ball nur so mitgenommen hat weil der Ball war ein Geschenk von ihrem Papa und der wohnt ganz weit weg. Wir haben sie getröstet und die Buben haben Plene gemacht wie sie den Ball zurückholen weil wir haben keinen anderen Ball zum spielen. Aber sie machen es ja doch nicht. Wir haben alle zuviel Angst vor Frau Kopp.
Aber eigentlich wollte ich dir von dem Haus erzählen also es ist ganz toll!!!!!! Das Haus ist weiß also ganz unten ist es ein bischen hellbraun und oben ist es weiß. Und es hat rote Fensterleden und ganz viele Antenen auf dem Dach. Es ist ganz riesiggroß!!!! Es hat ganz viele Fenster und bestimmt viele Zimmer. Das ist viel zu viel Platz für eine Frau allein!! Wenn wir in dem Haus wohnen würden dann hätten wir alle Kinder eigene Zimmer und Nico und ich würden nicht immer aufwachen wenn Janosch weint und zu Mama will. Er könnte dann bei Mama und Papa schlafen. Ich möchte so gern da wohnen!!!! Nicht hier, hier ist alles so klein, in unserem Zimmer ist nur Plaz zum schlafen, spielen müssen wir im Wohnzimmer und wenn Papa abends heimkommt müssen wir alle Spielsachen aufräumen weil sonst können Mama und Papa zum schlafen ja nicht das Sofa ausrollen. Das ist manchmal blöd weil alles grad so schön geworden ist mit den Bauklözen zumbesipiel und wir gerne morgen weiterspielen möchten. Wenn wir im Haus da drüben wohnen würden dann würde es ein ekstra Spielzimmer geben und wir könnten tagelang weiter spielen bis wir keine Lust mehr haben!!!! Das Haus hat einen großen Garten mit einer Wiese da könnten wir fangen spielen und Dreiländerball und der Ball würde nicht unter die Autos rollen oder auf die Strasse. Wir würden alle Kinder einladen und die Kinder könnten auch bei uns schlafen weil in dem Haus ist genug Plaz für alle Kinder.
Ohne zu lesen blätterte Klara weiter und weiter. Sie hatte ein Tagebuch gefunden, Maja Schills Tagebuch. Aber wer war Maja? Sie hatte über das Haus geschrieben, das Haus, in dem Klara jetzt wohnte. Plötzlich sprang sie auf und sah aus dem Fenster. Vor ihr ragte ein Hochhaus auf. Hatte Maja darin gewohnt? Und hatte es Frau Kopp wirklich gegeben? Mit einem Mal war Klara aufgeregt, ein Gefühl, das sie lang nicht mehr empfunden hatte.
„Mama, wo bist du?“, rief sie und rannte die Treppe hinunter.
Sie fand ihre Mutter in der Küche beim Spülen. „Was ist denn, Spatz?“
Klara sprang in der Küche herum. „Mama, wer hat hier früher gewohnt?“
„Was? Du bist ja ganz aufgeregt!“ Ihre Mutter lachte und suchte nach einem Spültuch, an dem sie sich die Hände abtrocknen konnte. Klara fand es zuerst und warf es ihr zu.
„Was fragst du?“
„Wer hat hier früher gewohnt, also, vor uns?“
„Kind, ich habe keine Ahnung. Hier hat fünfzehn Jahre lang niemand mehr gewohnt. Aber heute Abend gehen Papa und ich zu den Brauns, die wissen das bestimmt.“
„Kannst du nicht jetzt fragen, bitte?“ Klara blieb stehen und sah ihre Mutter bittend an.
„Was ist denn los, hm? Warum interessiert dich das so?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nur so.“ Sie hatte beschlossen, dass das Tagebuch vorerst ihr Geheimnis bleiben sollte.
„Na gut, komm mit. Wir gehen rüber.“
Sie fanden heraus, dass in dem Haus vor zehn Jahren wirklich eine Frau namens Kopp gewohnt hatte und zwar ganz allein. Ihr Vater hatte das Haus für die Familie gebaut, er hatte aber nur eine einzige Tochter und seine Frau war wohl schon sehr jung gestorben. Klara war etwas verwirrt, denn wieso wurden an den Zimmertüren Namen von Personen angebracht, die nie existiert hatten? Darauf wussten die Brauns auch keine Antwort, allerdings gerieten sie in ziemliche Aufregung, als das Thema „Frau Kopp“ aufkam. Sie sei ein egoistisches und hinterhältiges Weibsbild gewesen, behaupteten sie und ließen kein gutes Haar an ihr. Auf die Nachfrage Frau Meyers hin erzählten sie, dass Frau Kopp die Brauns einmal wegen ihres Gewächshauses verklagt hatte, was eine monatelange Prozedur hinter sich hergezogen hatte. Klara begriff nicht so richtig, worum es ging, doch die Erzählung stimmte weitgehend mit dem überein, was sie von Maja über Frau Kopp erfahren hatte. Am Abend las sie weiter.
21. Juli 1991
Es regnet heute schon den ganzen Tag, seit wir am morgen aufgewacht sind. Es sind ganz viele schwarze Wolken am Himmel. Gestern war der letzte Tag in der Schule und wir haben die Zeugnisse bekommen. Jetzt komme ich in die Dritte Klasse!! Ich freue mich schon aber Nico hat gesagt das Mathe da schwer wird und ich habe ein bischen Angst. In lesen und schreiben bin ich ganz gut weil ich lesen so gerne mag aber Mathe ist blöd und ich kann es auch nicht gut. Gerade hat es geblizt oh mann der Regen soll endlich aufhören!!!! Wir können hier gar nix machen. Wir dürfen nicht laut sein weil Mama hat Kopfweh wegen dem Regen. Ich weis nicht wie das geht, Kopfweh von Regen. Regnet es in ihrem Kopf? Ich habe Papa gefragt und er hat gesagt das kann ich noch nicht verstehen weil das Biolegi ist und das ist schwer zum verstehen. Wir können auch kein Spiel spielen weil Müle haben wir bei Tante Magda vergessen und Menschergeredichnicht hat Janosch kaputgemacht. An so Tagen wünsche ich mir noch mehr als sonst das wir da drüben wohnen würden. Da wäre jetzt ganz viel Plaz. Wir könnten laut sein und wir würden Mama trozdem nicht stöhren. Im Haus unten ist kein Licht obwohl es so dunkel ist. Was macht den die Frau Kopp? Vielleicht hat sie auch Kopfweh vom Regen und schlaft jetzt. Das kann sie machen weil sie heute ja nicht die Blumen giesen muss, das macht der Regen schon.
Am nächsten Tag durchstöberte Klara zum ersten Mal das Haus. Das hatte sie zuvor nie getan, da sie nicht geglaubt hatte, etwas Interessantes finden zu können. Auch jetzt hegte sie keine großen Hoffnungen, aber sie war neugierig auf das Haus geworden, das Maja so liebte. Sie ging durch die Zimmer und verstand nun auch endlich, wieso die meisten nicht eingerichtet waren: Sie waren nie bewohnt worden. Aber es gab unzählbar viele Schränke, Truhen und Regale im Haus. Sie fand zahlreiche Gartengeräte und Samen, die nie ausgesät worden waren, eine Sammlung von Porzellanfiguren, Bilder mit Blumen, die jemand gemalt hatte und einen Stapel Fotos, hauptsächlich vom Haus, auf deren Rückseiten kleine Anmerkungen geschrieben waren. Das Haus ist fast fertig, stand da beispielsweise, auf einem anderen Bild: Endlich eingezogen, endlich zu Hause oder: Kind Nr.1 im Garten. Klaras schönster Fund war aber ein altes Schachbrett, das aus Holz angefertigt war. Sie suchte alle Figuren zusammen und abends wurde stundenlang Schach gespielt. Gegen ihre Mutter hatte Klara gute Chancen, bei ihrem Vater war es schon schwieriger zu gewinnen. Aber zweimal konnte sie sich auch gegen ihn behaupten. Oliver hatte ihr das Schachspielen beigebracht, früher hatten sie fast jeden Tag ein paar Partien gespielt. Was er wohl gerade tat?
6. September 1991
Morgen fangt die Schule an!!!! Ich freue mich schon sehr weil dann sehe ich Irene wieder die war nämlich im Sommer in Rusland bei ihrer Oma. Mama hat gesagt das Rusland ganz weitweg ist und die Menschen da arm sind und sie reden auf einer anderen Sprahe, die heist Rusisch. Aber das habe ich schon gewust weil die Eltern von Irene reden auch machmal auf Rusisch. Das klingt ein bischen wie wenn ich beim Kasetenrekorder auf zurück und apspielen gleichzeitig drüke. Ich habe Mama gefragt ob in Rusland alle blond sind weil Irene ist blond und ihre Eltern auch und alle Brüder und alle Schwestern. Aber Mama weiste es nicht. Ich kriege einen neuen Lehrer, Herr Schmid. Er war einmal in unserer Klasse als Frau Sülzer krank war und da haben wir Lieder gesungen. Hoffentlich machen wir das nicht immer, ich finde singen blöd weil alle sagen das ich nicht schön singen kann. Ich weis nicht ob das stimmt weil Frau Sülzer hat gesagt das ich meine Stimme anderst höre als alle anderen. Ich freue mich auf das neue Lesebuch!!!!!!!! Da sind immer so schöne Geschichten drin. Wir müssen bestimmt wieder Gedichte auswendig lernen aber das finde ich nicht schlimm.
Am nächsten Tag ging Klara nach dem Unterricht nach vorn zu Frau Sülzer und fragte sie nach Maja.
„Maja Schill?“, fragte die Lehrerin überrascht, „ja, ich habe sie vor etwa zehn Jahren unterrichtet. Tolle Aufsätze hat sie geschrieben, aber mit dem Rechnen hätt’s besser klappen können.“
„Wo ist sie jetzt?“, fragte Klara.
„Die Familie ist in dem Sommer weggezogen, als Maja in die Vierte gekommen wäre.“
„Warum sind sie weggezogen?“
„Maja hat oft gesagt, dass ihre Wohnung sehr eng war, sie haben sich wohl eine größere gesucht, nehm ich an,“ antwortete Frau Sülzer schulterzuckend. Mehr wusste sie auch nicht.
2. Oktober 1991
Neben dem Hochhaus ist ein ganz kleines Stück mit Gras. Auf dieses Stück wollten wir vom Hochhaus einen Baum pflanzen. Papa hatte die Idee. Denn auf einem Baum kann man klettern und spielen und Äpfel essen. Alle findeten das gut und Mareikes Vater hatte sogar schon den Baum gekauft, aber als sie ihn pflanzen wollten, kam Frau Kopp an den Zaun und hat gesagt das sie das nicht dürfen weil sie einen Fertrag hat. Sie hat dann eine Zeit mit Papa und Mareikes und Katrins Vater gestreitet und am Ende haben wir den Baum nicht pflanzen gedurft. Das ist wieder so was das ich bestimmt erst verstehe wenn ich groß bin aber ich habe überlegt und ich finde das sehr komisch. Frau Kopp mag doch Blumen so gern und sie hat auch Bäume. Wieso will sie dann nicht das wir auch einen haben?
Klara konnte sich allmählich vorstellen, welche Angst die Kinder vom Hochhaus vor Frau Kopp gehabt hatten, es musste furchtbar gewesen sein, vor allem für Maja, die das Haus so mochte. Klara las bei Weitem nicht alle Einträge, da Maja in den meisten nur ihre Träume vom Haus ausschmückte, außerdem las sie nicht so gern, denn lesen war einfach uncool, und so las sie nur das, was sie wirklich interessierte.
23. Oktober 1991
Ich finde es immer ungerechter das so jemand wie Frau Kopp in so einem schönen großen Haus wohnen darf während wir hier zu Fünft mit so wenig Platz auskommen müssen…
Wenn ein Eintrag so begann, blätterte sie sogleich weiter, denn alles Folgende war meist nur eine Ausschmückung des ersten Satzes und nicht besonders spannend zu lesen. Lieber las sie von den Erlebnissen, die Maja und die anderen Kinder mit Frau Kopp gehabt hatten. Aber dennoch und ohne dass sie es bemerkte, hatte Maja Einfluss auf sie, beispielsweise blätterte sie nun öfters aus freiem Willen in ihrem Lesebuch, um eine kurze Geschichte zu lesen, was sie vorher nie getan hätte.
7. November 1991
Katrin und Oreli sind so blöd!!!!!! Wir waren heut drausen und haben fangen gespielt nur wir drei. Da hat Oreli plözlich ein par Himbären gesehen die durch den Gartenzaun zu uns rüberhingen und hat sie gestibizt und gegessen. Das findete Katrin super weil sie Hunger hatte und sie hat auch gegessen. Als keine mehr da waren haben sie ihre Hände auch über den Gartenzaun gestreckt und noch mehr geflükt. Ich hatte Angst das Frau Kopp kommt und versteckte mich hinter einem Auto. Ich sagte noch zu Katrin das sie aufhören soll weil sie hat ja gesehen was mit ihrem Ball pasiert ist aber Katrin hat blos gelacht und Angsthase zu mir gesagt. Sie ist so dumm!!!! Plözlich ist Frau Kopp rausgekommen weil sie ihre Blumen giesen wollte und da sind Oreli und Katrin ganz schnell wegerannt. Nur ich war noch hinter dem Auto und da hat Frau Kopp mich angschrien. Es war noch viel schlimmer wie letztes Mal mit dem Ball. Sie ist wieder rot geworden und hat überall gewakelt aber jetz hat sie die Gieskanne hingestellt und es ist kein Wasser auf sie gesprizt. Sie hat so viele böse Sachen gesagt das ich nur noch das halbe weis. Ich will das gar nicht hinschreiben weil so böse Worter dürfen nicht in dich rein Tagebuch. Ich wollte Frau Kopp sagen das ich gar keine Himbären gestibizt habe aber ich konnte vor Angst gar nix sagen und ich glaube sie hätte mir eh nicht geglaubt. Während sie geschrien hat habe ich leise auf drei gezehlt und bin ins Haus gerannt zu Mama. Sie wurde ganz böse auf Frau Kopp als ich ihr erzählte was pasiert ist. Ich verstehe nicht wieso sie so böse ist!!
Obwohl Maja ein Mädchen war, mochte Klara sie mit jedem Eintrag, den sie las, lieber. Sie schien gar nicht so ein typisches kicherndes und briefchenschreibendes Mädchen zu sein, aber das war Lisa eigentlich auch nicht. Klara unterhielt sich öfters mit ihr, denn genau wie Klara war sie mit den anderen Mädchen der Klasse nicht befreundet. Sie erfuhr, dass Lisa vier Geschwister hatte und in einer Wohnung in der Stadtmitte wohnte. Ihr Vater arbeitete als Müllmann und seit Lisas Mutter wieder ein Baby bekommen hatte, konnte sie nicht arbeiten. All das erinnerte Klara sehr an Maja und, obwohl sie es niemals zugegeben hätte, stellte Lisa für sie so etwas wie eine Freundin da. Die Jungs hatte sie längst vergessen.
30. November 1991
Ich habe heute die Geschichte von Peter Pan fertig gelesen. Es ist eine super Geschichte!! Ganz spannend, ich wollte immer nur lesen. Da wäre ein Tag mit Regen gar nicht schlecht gewesen. In der Geschichte kommen Elfen vor, viele kleine Elfen und da ist mir etwas eingefallen. Als ich noch klein war glaubte ich das im Haus drüben Elfen sind aber nicht zum wohnen. Ich glaubte das Frau Kopp sie dort gefangen haltet und nicht frei lasst, jede in einem anderen Zimmer. Manchmal bin ich nachts aufgewacht weil ich geglaubt habe das sie mich rufen damit ich sie raushole aus dem Haus. Sie ruften aber immer nur nachts weil da die Frau Kopp schlaft. Wenn sie nämlich am Tag gerufen hätten hätte Frau Kopp das gehört und ihnen was böses getan. Ich habe oft überlegt wie ich ihnen helfen könnte aber ich wusste nix und ich hatte auch zu viel Angst vor Frau Kopp also konnte ich nicht rübergehen. Aber ich habe ihnen Geschichten erzählt die ich erfunden habe. Denn ich konnte noch nicht lesen. Jetzt weis ich natürlich das es keine Elfen gibt.
„Mama, kennst du die Geschichte von Peter Pan?“
„Ja, sicher. Letzte Woche kam ein Film dazu im Fernsehen und ich sagte zu dir, dass du ihn dir ansehen solltest, aber du wolltest lieber Schach spielen.“
„Oh, echt?“ Klara ärgerte sich furchtbar über sich selbst. „Und das Buch, haben wir das?“
„Früher, aber Oliver hat es behalten. Ich bringe es dir aus der Bibliothek mit, wenn du magst.“
Klara liebte Peter Pan. Sie hatte nicht gewusst, dass Bücher so spannend sein konnten, dass sie einen völlig vergessen lassen konnten, wo man war. Durch das Lesen und die Übungen mit ihrer Mutter gelangen ihr auch die Diktate besser und sie konnte in der Schule fortan mit ihren Klassenkameraden mithalten.
2. Januar 1992
Heute Nacht bin ich aufgewacht weil ich so husten musste. Ich habe raus gekuckt und im Haus war ein Licht an. Es war aber ganz spät meine Eltern schlaften auch schon. Ich wollte wissen was Frau Kopp da macht aber ich habe sie nirgendwo gesehen. Ich habe gewartet weil ich neugirig war und irgendwann ist sie ans Fenster gestanden und hat raus gekuckt. Irgendwie sah das traurig aus, gar nicht böse wie sonst immer aber eigentlich habe ich gar nicht ihr Gesicht gesehen. Ich habe das nur so gespürt weil plözlich bin ich auch traurig geworden. Irgendwann bin ich wieder eingeschlafen und als ich wieder aufwachte war das Licht aus.
„Olli!“, quiekte Klara aufgeregt und rannte auf ihren Bruder zu, der mitten im Wohnzimmer stand. Oliver nahm sie hoch und wirbelte sie so lange im Kreis herum, bis ihm schwindlig wurde, er mit ihr zu Boden ging und beide lachend nach Luft schnappten. Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange, doch sie wischte ihn sofort mit der Handfläche weg und verzog das Gesicht.
„Bist du immer noch kein Mädchen geworden, Claires?“, fragte er sie belustigt und Klara schüttelte entschlossen sind Kopf.
„Mädchen sind doof! Na ja, außer Mama. Und noch ein paar.“ Ihre Mutter lachte.
„So, noch ein paar?“, fragte Oliver neugierig, „wer denn?“
„Da ist eine in der Schule, Lisa, neben der sitz ich.“
„Neben der? Ist das denn ein Junge?“
„Neben ihr. Hier redet man eben so. Komm mit, ich will dir was zeigen.“ Sie nahm ihren Bruder bei der Hand und lief die Treppe hinauf, in Beatrix’ Zimmer, in das sie inzwischen selbst eingezogen war.
„Wow, das ist ja ein Riesenhaus,“ murmelte Oliver hinter ihr. Klara nahm das Tagebuch aus dem Versteck und schlug es auf. Sie legte es nach dem Lesen immer an seinen Platz zurück, denn sie fand das richtig so. Außerdem würde da bestimmt keiner suchen. Sie hatte noch immer niemandem von dem Tagebuch erzählt, doch mit Oliver wollte sie ihr Geheimnis teilen, denn sie hatten sich auch früher alles erzählt.
„Weißt du, wo Maja jetzt ist?“, fragte er neugierig. Das Tagebuch faszinierte ihn total.
„Weggezogen, hat Frau Sülzer gesagt. Aber sie wusste nicht wohin.“
„Vielleicht steht’s ja im Tagebuch, wenn sie’s doch hier gelassen hat.“ Er griff danach und blätterte darin herum, doch Klara entriss es ihm und presste es fest an ihren Körper.
„Nein!“, rief sie, „Nicht das Ende lesen! Dann ist’s ja nicht mehr spannend.“ Oliver grinste und fing an sie zu kitzeln. Sie prustete los.
„Ein richtiger Bücherwurm bist du geworden, Clairechen!“, zog er sie lachend auf.
„Nein, gar nicht! Hör auf, hör auf!“ Sie versuchte sich seinen Griffen zu entwinden, doch er war doppelt so groß und viermal so stark wie sie, daher konnte sie nichts dagegen tun. Sie hatte schon Bauchschmerzen vom vielen Lachen, als er endlich von ihr abließ.
„Wie lang bleibst du?“, japste sie.
„Freitag,“ antwortete er atemlos.
3. Februar 1992
Heute hat es wieder geschneit!!!!!! Und endlich mal viel!!!! Alles ist weiß, eine weiße Welt. Es sind keine Blumen im Garten, sie schlafen alle der Schnee hat sie zugedeckt. Auch das Dach vom Haus ist weiß und nicht mehr rot es sieht aus wie ein Eisschloss. Ich bin immernoch krank und darf nicht im Schnee spielen. Das ist so gemein!! Ich habe Janosch seit Montag nicht mehr gesehen aber Mama hat zuviel Angst in ins Zimmer zu lassen weil sie denkt das ich ihn krank mache. Ich schlafe ganz allein im Zimmer. Das ist komisch weil es ganz ruhig ist aber es ist auch schön. Ich fühle mich ein bischen als wäre ich im Haus in meinem eigenen Zimmer. Jetzt kann ich auch die Mathe Aufgaben besser. Denn jetzt schreit Janosch nicht immer und ich kann gut aufpassen. Mir geht es gut aber ich habe Fiber und deshalb darf ich nicht in die Schule. Aber Elena bringt jeden Tag die Hausaufgabe her und ich kann sie machen. Das ist sehr nett weil eigentlich sind wir gar keine Freundinnen. Wir spielen nie zusammen. Was macht Frau Kopp wenn sie krank ist? Sie kann im ganzen Haus sein weil sie kann ja niemand krank machen aber wer bringt ihr essen und trinken wenn sie im Bett liegen muss? Aber sie ist ja selberschuld wenn sie so böse ist.
Am Montag holte Oliver sie von der Schule ab. Er stand lässig an den Zaun gelehnt, als Klara und Lisa das Schulgebäude verließen. Als Klara ihren Bruder sah, wollte sie sich von ihrer Nebensitzerin verabschieden, doch Oliver ging auf die beiden zu und stellte sich vor.
„Du bist Lisa, stimmt’s?“
„Ja,“ sagte Lisa schüchtern.
„Klara hat schon viel von dir erzählt,“ sagte er da und Lisa sah seine Schwester erstaunt an. „Weißt du, wir wohnen in einem ganz großen Haus,“ sagte Oliver und Lisa antwortete:
„Ja, ich weiß, wo ihr wohnt. Na ja, eigentlich weiß jeder, wo ihr wohnt.“
„Toll, dann komm uns doch mal besuchen.“ Er konnte gar nicht sagen, welches der beiden Mädchen den überraschteren Gesichtsausdruck machte.
„Ja, das möchte ich gern,“ sagte Lisa schließlich und man konnte an ihrem Gesicht ablesen, wie sehr sie sich freute, „aber heute kann ich nicht. Eigentlich kann ich nur am Samstag, da muss ich nicht daheim helfen.“
„Dann komm am Samstag,“ sagte Oliver und sah Klara auffordernd an.
„Ähm… ja, komm,“ sagte diese wenig überzeugend, aber Lisa strahlte. Sie vereinbarten einen Zeitpunkt und verabschiedeten sich.
„Wieso hast du das gemacht?“, schrie Klara ihren Bruder an, als sie außer Hörweite waren.
„Wieso nicht?“, fragte er zurück, „ihr seid doch Freundinnen, oder?“
„Ich habe keine Freundinnen! Mädchen sind doof, alle!“
„Das ist doch Unsinn, Claire. Du hast selbst gesagt, dass Lisa nett ist.“
„Sie ist okay, aber jetzt hab ich sie den ganzen Samstag am Hals! Dir ist es ja egal, du gehst am Freitag wieder.“
„Pass lieber auf, du hörst dich schon an wie Frau Kopp.“
Klara fühlte sich, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen. „Was weißt du schon von Frau Kopp, hm?“ Mit diesen Worten rannte sie davon.
Klara sprach den ganzen Nachmittag über nicht mehr mit Oliver. Nach dem Mittagessen verkroch sie sich in ihrem Zimmer und kam nicht mehr heraus.
„Hattet ihr Streit?“, fragte Frau Meyer ihren Sohn, doch der winkte ab.
„Das wird schon wieder.“
Gegen Abend ging er zu seiner Schwester hinauf und steckte seinen Kopf durch den Türspalt. „Kann ich reinkommen?“, fragte er. Sie zuckte mit den Schultern ohne vom Tagebuch aufzusehen. Er setzte sich neben sie auf den Boden und begann mit ihren Haaren zu spielen.
„Deine Haare sind ganz schön lang geworden.“ Keine Reaktion. „Bastian hat heute Geburtstag. Sollen wir ihn nicht anrufen?“
„Ich weiß, dass er Geburtstag hat, du musst nicht immer denken, dass nur du alles weißt.“ Sie starrte noch immer auf das Buch.
„Hör mal, Claires, ich finde, du benimmst dich echt kindisch. Okay, du bist ein Kind, aber normalerweise bist du kein richtiges Kind. Du bist jetzt hier, weißt du? Also, vergiss endlich, was die Jungs über Mädchen gesagt haben, die haben doch keine Ahnung. Am Samstag wird’s toll, ich verspreche es dir. Claire, du brauchst Freunde. Du darfst dich nicht weiter hinter einem alten Tagebuch verkriechen.“ Er steckte seinen Kopf zwischen Klara und das Tagebuch und setzte ein kindliches Gesicht auf. „Hörst du mir zu, Claires?“, fragte er mit einer gespielt weinerlichen Stimme, sodass sie ein Grinsen nicht unterdrücken konnte.
„Geh weg,“ sagte sie und versuchte seinen Kopf wegzudrücken, ohne Erfolg, aber mit dem Ergebnis, dass sie beide lachen mussten.
„Na komm, wir lesen zusammen,“ schlug Oliver vor, „du liest vor.“
Die Zeit mit ihrem Bruder war viel zu schnell vergangen, fand Klara, als sie ihn am Freitagnachmittag gemeinsam zum Bahnhof brachten. Er wirbelte sie wie bei der Begrüßung im Kreis herum und gab ihr einen Abschiedskuss, diesmal wischte sie ihn nicht weg.
„Zeig Lisa das Tagebuch“, meinte er, „sie findet es bestimmt auch cool.“ Klara nickte nur, sie brachte keinen Ton hervor. „Hey, und bloß nicht heulen, Claires! Oder wirst du zum Mädchen?!“ Sie schüttelte den Kopf und grinste, als er sich abwandte und den Zug bestieg.
„Mädchen sind doof!“, schrie sie ihm nach und er blickte lachend zu ihr zurück, um ihr ein letztes Mal zuzuwinken.
12. April1992
Ich war im Haus!!!!!! Vorvorgestern hat Mama mich gerufen und gesagt das ich zu Frau Kopp gehen soll weil die Lichter auf ihrem Auto an sind und das Auto kaputtgeht wenn die Lichter an sind und mann nicht fahrt. Ich wollte da nicht rüber weil Angst hatte mit Frau Kopp zu reden aber ich musste. Am Haus ist keine Klingel und ich habe geklopft, ganz oft aber sie ist nicht gekommen. Dann habe ich die Tür aufgemacht sie war nicht zu und rufte hallo, fünfmal oder öfter aber sie kam immernoch nicht. Da bin ich reingegangen und habe so rumgekuckt im Fluhr. Da waren Bilder an der Wand mit Blumen und dem Haus und es waren Schuhe da und ein brauner und ein grauer Kittel. Sonst war noch ein Schrank da und auf dem Schrank waren Sachen. Da war eine Elfe, eine kleine Elfe mit Flügeln und in der Hand hat sie einen Zauberstab. Und überall ist Glizzer. Ich rufte noch mal hallo und als nichts pasiert ist habe ich die Elfe in die Hand genommen und genau angekuckt. Sie ist voll schön, hat ein langes grünes Kleidchen an und gar keine Füse. Plözlich ist Frau Kopp dann doch gekommen und ich habe mich so erschrekkt das ich die Elfe hinter meinem Rücken versteckt habe. Frau Kopp fragte: „Was hast du hier zu suchen?“ Sie guckte böse wie immer und ihre Augen waren glizrig. Ich konnte gar nix sagen zuerst ich habe nur raus gezeigt. „Im Auto ist Licht,“ habe ich glaub ich gesagt und dann bin ich weggerannt. Ich habe ganz vergessen das ich ja die Elfe noch habe. Ich habe sie jetzt in meiner Schuhblade mit den Socken versteckt weil wenn Mama sie sehen würde dann müsste ich sie bestimmt zurückgeben und das will ich nicht. Nur Nico habe ich die Elfe gezeigt. Als ich ihm erzählte das ich etwas aus dem Haus gestibizt habe findete er es super aber als er die Elfe sah nicht mehr. „Wenn du schon klaust dann klaue was anstendiges,“ hat er gesagt. „Aber die Elfe ist doch was anstendiges,“ antwortete ich und er hat blos gelacht und den Kopf geschütelt. Ist mir egal ich finde sie schön. Alle meine Freundinnen haben einen Schatz. Katrin hat eine silbrige Kett, Irene hat viele bunte Steinchen, Maria hat die Tierpostkarten. Nur ich hatte keinen Schatz aber jetzt habe ich auch einen.
Am nächsten Vormittag stand Lisa pünktlich um halb elf vor der Tür. Sie war ganz aufgeregt wegen dem großen, schönen Haus. Klara zeigte ihr die verschiedenen Zimmer, danach spielten sie Brettspiele mit ihrer Mutter und halfen beim Kochen. Klara hätte nicht gedacht, dass sie so viel Spaß mit Lisa haben könnte. Das Mädchen war bescheiden und sehr nett und sie machte jeden Spaß mit. Klara fühlte sich in die Zeit mit Bastian und Greg zurückversetzt, als sie ständig irgendwelche Streiche ausgeheckt hatten. Nach dem Essen folgte Klara dem Vorschlag ihres Bruders und ging mit Lisa nach oben in ihr Zimmer, um ihr das Tagebuch zu zeigen. Oliver sollte recht behalten, Lisa war wahnsinnig neugierig auf die Geschichte von Maja und Frau Kopp, also erzähle Klara ihr ein wenig von dem, was sie wusste.
„Weißt du, ich verstehe ein bisschen, wie das für die Kinder im Hochhaus war, also, wenig Platz zum Spielen zu haben,“ sagte Lisa schließlich. Sie sah plötzlich ein wenig traurig aus, fand Klara. „Wir haben daheim auch nicht so viel Platz.“
„Dann bring doch deine Geschwister mit her,“ bot plötzlich Klara an und wunderte sich über ihre eigenen Worte.
„Ehrlich?“
„Ähm… na klar! Ich brauche bestimmt nicht so viel Zimmer.“
Sie lachten und lasen zusammen einige Einträge im Tagebuch.
„Hast du die kleine Elfe gefunden?“, fragte Lisa neugierig und Klara schüttelte den Kopf.
„Ich habe gar nicht gesucht.“
„Echt nicht?“ Lisa ging zum Schrank und spähte in das Versteck des Tagebuchs. „Da ist sie,“ sagte sie, schob ihre Hand hinein und holte sie heraus. Die kleine Figur stellt tatsächlich eine Elfe dar, sie hatte Flügel und einen kleinen Zauberstab in der Hand. „... hat ein langes, grünes Kleidchen an und gar keine Füße,“ las Klara vor, „und überall ist Glitzer.“ „Das ist sie, Klara,“ flüsterte Lisa lächelnd und gab ihr die kleine Elfe, „das ist Majas Schatz. Sie hat ihn für dich hier gelassen.“ Die beiden Mädchen lächelten sich an.
Von diesem Tag an waren sie unzertrennlich. Erst besuchte Lisa ihre neue Freundin nur jedes Wochenende, bald aber wurden die Besuche häufiger und oft brachte sie auch ihre Geschwister mit, welche wiederum mit ihren Freunden kamen. So wurde das Haus allmählich mit Leben und Lachen gefüllt. Auf Klaras Wunsch wurde auch der Garten endlich vom gröbsten Ungestrüpp und Unkraut befreit, sodass auf der Wiese gespielt werden konnte. Die Kinder steckten Tore aus Holzstäben und spielten Fußball, sie „kickten“, wie es auf schwäbisch hieß. Für Klara begann damit die schöne Zeit in Oberschwaben.
Aber das Tagebuch, das der Auslöser aller Veränderungen in Klaras Leben war, blieb unvergessen, allerdings nahm die Zahl der beschriebenen Seiten ab. An einem Tag Ende November kam sie zu dem Teil, der Majas Leben verändert hatte.
7. Mai 1992
Gestern ist Frau Kopp gestorben. Mama sagt das ihr Herz krank war aber niemand hat es gewusst weil Frau Kopp nie zum Doktor gegangen ist und deshalb konnte das Herz nicht gesund gemacht werden. Morgen ist die Berdigung und wir gehen auch alle da hin aber ich verstehe nicht warum. Mama und Papa sagen das wir hin gehen weil Frau Kopp unsere Nachbarin war und weil sich das eben sogehört. Wir waren sogar noch in der Stadt weil Mama und Nico keine schwarze Hose hatten und ich keinen schwarzen Puli und auf einer Berdigung muss man schwarze Sachen anhaben, sagt Mama. Ich finde es sehr blöd das wir wegen Frau Kopp Sachen kaufen, da könnten wir doch was zum spielen kaufen mit dem Geld.
Diese Passage kam unerwartet und überrumpelte Klara völlig. Sie las weiter.
12. Mai 1992
Ich muss dir unbedingt von der Berdigung erzählen. Also es waren ganz viele Leute da ich fand das komisch denn die Frau Kopp mag doch keiner. Erst waren wir in der kleinen Kirche und der Pfarrer hat geredet, ganz lange und wir mussten stillsitzen. Nach dem Pfarrer hat ein Mann geredet und er fing so an: Meine geliebte Tante ist gestorben. Geliebte Tante!!!!!!!!!!!!!! Er hat sie ganz bestimmt nie besucht!!! Er hat ganz traurig getan und ich wurde ganz böse auf ihn. Alles Lügen, wollte ich schreien, ist doch alles gelogen!!!!!!! Ich habe meine Faust geballt und wohl ganz schön böse gekuckt denn Mama hat mir den Arm auf meine Schulter gelegt und geflüstert das ist mich doch beruhigen soll.
13. Mai 1992
Ich konnte gestern die Geschichte nicht fertig erzählen. Nach der Kirche sind wir raus auf den Fridhof gegangen und ein par Männer haben die Holzkiste mit Frau Kopp drin in ein großes Loch runtergelassen, dann haben sie Erde drübergeschaufelt. Ich hab so rumgekuckt und da habe ich plötzlich eine Frau gesehen die geweint hat, also wirklich geweint. Sie war schon alt und saß auf einer Bank. Ich bin zu ihr hingelaufen und habe mich neben sie hingesetzt. Sie hatte kein Tempo und ich habe ihr eins gegeben weil Mama mir ganz viele gegeben hat. Sie hat gesagt das wir vielleicht weinen müssen wenn alle weinen und da wäre es gut wenn wir viele Tempos haben. Die Frau hat danke gesagt und als sie aufgehört hat zu weinen da habe ich sie gefragt: „Haben Sie Frau Kopp gekannt?“ Sie sagte: „Ja ich habe sie gekannt, schon seit wir Kinder waren. Oh die Arme!“ Bevor sie wieder anfangen konnte zu weinen habe ich schnell gefragt ob Frau Kopp schon als Mädchen so böse war und da antwortete sie: „Nein, sie war ein liebes Kind. Aber ihre Mama ist früh gestorben und das war sehr hart für Beatrix.“ „Frau Kopp heißt Beatrix?“, fragte ich und sie sagte ja. Die Hauptpersonin in meinen Lieblingsbüchern heißt auch Beatrix, Trixie deshalb fand ich den Namen schon immer schön. Es ist komisch das gerade Frau Kopp auch so heißt. „Wart ihr Freundinnen?“, fragte ich. „Ja waren wir. Früher waren wir immer zusammen, wir haben immer bei ihr im Haus und im Garten gespielt. Der ist sehr groß, weist du?“ „Ja ich weis,“ sagte ich da. Sie erzählte weiter: „Bevor wir in die Schule kamen ist ihre Mama gestorben und sie lebte nun allein mit ihrem Papa. Er war nett aber Bea hatte immer ihre Mama lieber. In der Schule stellte sich dann heraus das sie eine Leseschweche hatte.“ „Was ist eine Leseschweche?“, fragte ich die Frau und sie erklärte mir das Frau Kopp nicht so gut lesen konnte, sie musste immer die einzelnen Buchstaben nacheinanderlesen und konnte sie nicht gut unterscheiden. „Deshalb wurde sie in der Schule immer gehänselt und so war sie immer mehr allein. Sie musste auch kochen lernen und im Haus mithelfen und da ist sie immer weniger vom Haus weggegangen. Ich habe sie oft zum spielen eingeladen aber sie ist kaum mehr gekommen. Sie ist da ganz anderst geworden, sie hat zurückgeschrien wenn sie geärgert wurde und hat auch manchmal zu mir etwas böses gesagt. Eigentlich hat sie sich nur noch um das Haus gekümmert und den Garten. Ihre Mama liebte dieses Haus und Bea hat dafür gesorgt das es so schön bleibt. Irgendwann habe auch ich nicht mehr mit ihr geredet weil ich nicht mehr dauernd angeschrien werden wollte und dann hatte sie gar keine Freundin mehr.“ Die Frau hatte wieder Tränen in ihren Augen und ich wurde auch ganz traurig als sie das erzählte. Arme Frau Kopp! Es ist bestimmt schlimm wenn niemand in der Schule einen mag und immer ärgert. Und sie hatte nicht mal ihre Mama zum trösten.
An dieser Stelle hielt Klara inne. Seit sie das Tagebuch gefunden und es zu lesen begonnen hatte, hatte sich in ihr eine immer tiefere Abneigung gegen Frau Kopp entwickelt. Aus allem was Maja ihr „erzählt“ hatte, bildete sie sich ihre Meinung und nun herrschte in ihr ein totales Gefühlschaos. Es war nicht länger die „böse“ Frau Kopp, von der gesprochen wurde, nein, nun war es die „arme“ Frau Kopp. Klara wusste nicht mehr, was sie denken sollte und sprach mit Lisa darüber, diese war aber genauso verblüfft wie sie selbst. Schließlich sagte sie: „Weißt du, irgendwie sind wir alle gleich. Frau Kopps Mama, Frau Kopp, Maja, deine Mama, du, ich; wir lieben alle das Haus.“ Über diesen Satz dachte Klara lange nach und fand letztendlich, dass ihre Freundin recht hatte. Sie alle liebten das Haus, sie, Klara, liebte das Haus. Es war ein echt cooles Haus.
28. Mai 1992
Das Haus ist zu verkaufen!! Aber Papa kauft es nicht. Heute haben wir lange geredet und ich habe ihm gesagt das er bitte das Haus kaufen soll aber er sagte das geht nicht weil es zu teuer ist. Da habe ich gesagt das ich dann nix zu Weinachten will und auch nicht zum Geburztag aber Papa hat gesagt das das Geld trozdem nicht reicht. Er hat mich auf den Schos genommen und gesagt das er mir das Haus bestimmt kaufen würde wenn er es könnte und das er es mir sehr, sehr gerne kaufen möchte und ich weis das er das auch so meint. Aber ich bin sauer und traurig, nicht auf Papa sondern auf die Welt!!! Weil wir nicht so viel Geld haben und weil wir hier wohnen müssen!!! Ich würde sogut für das Haus sorgen wie Frau Kopp das weis ich!!!!!
Klara konnte sich in etwa vorstellen, was Maja empfunden hatte, als das Haus frei wurde. Der Traum war plötzlich zum Greifen nahe und gleichzeitig unendlich fern. Aber der Inhalt des nächsten Eintrags machte alles noch unerträglicher.
13. Juni 1992
Niemand kauft das Haus, was ist blos los mit den Menschen??? Wir sind hier weil wir kein Geld haben aber andere haben es und kaufen es trozdem nicht. Wieso? Wissen die denn nicht wie toll es ist? Ich muss immer an Frau Kopp denken und wie sie sich um das Haus und den Garten gekümmert hat. Es wächst schon jetzt lauter Unkraut zwischen den Blumen.
Der folgende Eintrag war der letzte, den die kleine Maja verfasst hatte.
4. Juli 1992
Ich gehe manchmal rüber in den Garten und reiße das Unkraut raus, wie Frau Kopp früher. Der Garten ist nicht mehr so wie früher. Das Gras ist hoch und die Blumen sind getrocknet weil niemand sie giest und alles ist voll mit Unkraut. Gestern habe ich Unkraut gezupft und da haben Oreli und Klemon mich gerufen als sie von der Schule heimgekommen sind. „Was machst du da?“, fragte sie und ich sagte: „Ich reiße das Unkraut raus!“ Sie fragten wieso. „Weil Frau Kopp das auch immer gemacht hat,“ habe ich zurückgerufen und da haben sie ganz dumm gekuckt und mir den Vogel gezeigt. Ich habe niemand erzählt was die Frau auf der Berdigung zu mir über Frau Kopp gesagt hat.
„Klara!“, rief ihre Mutter, „Max und die anderen sind da. Komm runter. Klara!“ Es dauerte eine Weile, bis sie reagierte, denn sie hatte den letzten Tagebucheintrag aufgeschlagen. Er war nicht in Majas schöner Schreibschrift geschrieben, sondern in Druckbuchstaben. Der Eintrag trug das Datum des 6. September 2001.
„Klara!“; rief ihre Mutter ungeduldig und sie schlug das Buch zu. Sie schob es in den Schlitz und polterte die Treppen hinunter zu ihren Freunden, die bereits im Garten auf sie warteten.
Klara war an dem Nachmittag überhaupt nicht bei der Sache und so verlor ihre Mannschaft das Fußballspiel haushoch. Mitten im Spiel wurde sie ins Tor verfrachtet, da sie kein einziges Tor schoss, aber da erging es ihr noch schlechter, sie konnte kaum einen Ball halten. Sie dachte nur an das Tagebuch und war in Gedanken schon wieder in ihrem Zimmer. Wer hatte den letzten Eintrag verfasst? Wurde in ihm endlich aufgelöst, wie Majas Tagebuch in das Haus gelangt war? Schließlich wurde es Abend und die anderen gingen nach Hause. Unter dem Vorwand sie sei müde, rannte Klara in ihr Zimmer hinauf, holte das Tagebuch aus dem Versteck und öffnete es auf der letzten beschriebenen Seite.
6. September, 2001
Nach langer Zeit habe ich es nun wiedergefunden, mein Tagebuch, das all meine Gedanken und Gefühle über den Ort enthält, der für lange Zeit mein Traum war und wohl immer ein Traum bleiben wird.
Fast zehn Jahre sind vergangen, seit ich die letzte Nacht in der dritten Etage des Hochhauses gegenüber von Frau Kopps Haus verbracht habe und in diesen zehn Jahren hat sich viel verändert, sowohl in meinem Leben als auch hier.
Nachdem Frau Kopp gestorben war, wohnten wir noch ein paar Monate im Hochhaus, doch bald kaufte mein Vater ein Haus mit Garten für uns, in einer anderen Stadt. Ihm war klar geworden, dass es in der kleinen Wohnung zu eng für uns Kinder war und dass wir mehr Freiraum und Platz benötigten, Platz zum Spielen. Deshalb zogen wir um.
Für mich hätte damals wohl kaum etwas Schlimmeres passieren können. Sicher, die Wohnung war klein und der Parkplatz war der denkbar ungünstigste Ort für Spiele, aber dort wegzuziehen, weg von dem Haus, weg von der Hoffnung, dass wir es eines Tages doch kaufen würden, das war mir unerträglich. Ich war tagelang traurig, nichts konnte mich während des Umzugs aufheitern. Dabei ging auch mein Tagebuch verloren, wurde in irgendeine Kiste gepackt und ich habe auch gar nicht mehr daran gedacht, da es ohnehin nichts gab, was ich hätte aufschreiben wollen.
In der letzten Nacht im Hochhaus lag ich lange wach und dachte nach. Ich wusste, dass ich nichts tun konnte, um den Umzug zu verhindern, also fasste ich stattdessen einen Entschluss. Ich schwor, dass ich einmal zurückkommen würde, „wenn ich groß bin“. Ich würde das Haus kaufen und einziehen, damit meine Kinder in ihm spielen könnten. Ich würde mich um Haus und Garten kümmern und alles wieder so herrichten, wie es früher gewesen war.
Nun, jetzt bin ich hier. Allerdings nicht um hier zu wohnen, sondern um mich für immer zu verabschieden. Es ist seltsam wieder hier zu sein und im Haus drin zu sein ist noch seltsamer. Jetzt kann ich all das zu sehen, was ich mir damals nur vage vorstellen konnte. Das Haus ist sehr groß, sogar größer als ich angenommen hatte. Es hat viele Zimmer, aber nur einige davon sind fertig eingerichtet. An jeder Tür ist ein Name angebracht, aus Holzbuchstaben. Es ist so ähnlich wie bei den sieben Zwergen. Da stehen Konrad, Marie, Anna, Jonathan, Katja und... Beatrix. Ihr Zimmer hat eine gelbe Tapete mit einem Blumenmuster, das jedoch schon verblasst ist. Auf dem Nachttisch liegt noch die Brille, in der verstaubten Haarbürste auf dem Frisiertisch sind noch graue Haare zu finden. Dass sich niemand die Mühe gemacht hat, hier ein wenig für Ordnung zu sorgen, finde ich unfassbar. In ihrer Kommode sind Fotos. Auf ihnen ist meist das Haus abgebildet, im Vordergrund mal eine hübsche junge Frau, mal ein kleines Mädchen. Auf den Rückseiten stehen Anmerkungen wie Endlich eingezogen, endlich zu Hause und Kind Nr.1 in der Küche. Schon seltsam, dass die Kopps bereits Namen für Kinder hatten, die noch gar nicht geboren waren. Schließlich hätte die ältere Frau Kopp auch nur Mädchen gebären können.
Ich werde bald heiraten. Mein Verlobter ist Schauspieler und kommt aus dem Norden, wohin ich ihm nach der Hochzeit folgen werde. Ich bin nie gereist, daher bin ich neugierig, was mich da oben wohl erwartet. Aber vor meiner Abreise musste ich noch einmal hierher zurückkommen, denn ich weiß, dass ich nie wieder einen Ort wie diesen finden werde. Das Haus ist mein Zuhause, obwohl ich nie darin gewohnt habe und es ist meine große Liebe. Ich denke, das muss so sein, in jeder Generation muss es jemanden geben, der das Haus liebt. Da waren bisher Beas Mutter, Beatrix selbst, ich und... du. Du, der du das jetzt liest; du, der du jetzt in dem Haus wohnst. Um das Haus wirklich lieben zu können, muss man es kennen und dazu gehört auch seine Vergangenheit. Mit dem Tagebuch habe ich dir diese übergeben. Du bist nun am Ende angelangt, kennst die ganze Geschichte, kennst das Haus. Nun liebe es. Sorge dafür, dass es wieder glücklich wird.
„Das werde ich, Maja“, flüsterte Klara ehrfurchtsvoll, „ich werde das Haus glücklich machen.“