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Das Hobby des Supermarktleiters
Heute genieße ich es wieder einmal, in meinen Aufzeichnungen zu stöbern und mich an die Menschen mit außergewöhnlichen Hobbys zu erinnern, denen ich schon begegnet bin.
Da ist zum Beispiel Herr Oechsenschlegel aus Mindenheim, der in seiner Freizeit Choreografien für Teleporteure entwirft. Eine davon führte er mir sogar vor. Noch jetzt bin ich ganz verwirrt, wenn ich daran denke, wie er stakkatoartig mal hier und mal da in den unterschiedlichsten Posen auftauchte und wieder verschwand. Auch Emily Lloyd, eine Gefühlskünstlerin, ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben. Ich lernte sie in Miami kennen und sie präsentierte mir ihr neuestes Werk. Ich konnte es zwar nicht sehen, da es aus puren Emotionen bestand, aber die Wirkung war umso eindrucksvoller. Ich musste unter Tränen lachen und konnte gar nicht wieder aufhören damit. Einfach wundervoll. Oder – wen haben wir denn da? Den Supermarktleiter! Lange habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Ich traf ihn auf einem Kongress der GDS, der Gesellschaft Deutscher Steckenpferde. Sein Geschenk hat einen Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch. Jetzt nehme ich es in die Hand und höre im Geist seine Erzählung:
„Wissen Sie, ich habe mich immer für einen ganz normalen Zeitgenossen gehalten, verheiratet, mit einem gesunden Bauchansatz, der es liebt, am Abend sein Bierchen zu trinken, am Wochenende zum Fußball zu gehen und der Zoff mit seiner Tochter hat. Mein Leben verläuft in geordneten Bahnen, ich habe, wie man so sagt, die Stürme der Jugend überstanden und mein Lebensschiff ist im stillen Hafen vor Anker gegangen. Alles gut, werden Sie jetzt denken. Aber es gab eine Zeit, da hatte ich oft das Gefühl, dass das Leben an mir vorüberzieht. Ich sah im Garten einen Schmetterling, der lustig umherflatterte, und wünschte mir, ich wäre an seiner Stelle. Oder ich betrachtete in einer warmen Sommernacht die Sterne und fragte mich allen Ernstes, ob ich nach meinem Tod auch so ein Ding werde oder einfach in der großen Leere aufgehe. Ich wurde trübsinnig, hatte zu nichts mehr Lust. Kaum, dass mich meine Frau überreden konnte, mit ihr in den Urlaub zu fahren. Meinen Job erledigte ich mehr schlecht als recht.
Irgendetwas fehlte, aber wie sucht man nach einem Puzzleteilchen, von dem man nicht weiß, wie es aussieht? Ich hatte nur so ein Gefühl, dass ich es erkennen würde, wenn ich darauf stieß.
Wie sich herausstellen sollte, hatte ich mich nicht getäuscht. Ich saß eines Tages in meinem Büro und war mit meinem Papierkram beschäftigt, als ich aus einem Impuls heraus zu dem großen Fenster blickte, das mein Büro vom Verkaufsbereich trennt. Was ich sah, verhieß nichts Gutes.
In diesem Moment stürzte auch schon eine meiner Angestellten herein und rief: ‚Kommen Sie schnell, Chef! Da vorn gibt’s Ärger.‘
Ich folgte meiner Mitarbeiterin rasch in die Verkaufshalle zu dem Menschenpulk, der sich im Eingangsbereich gebildet hatte.
‚Was ist denn hier los‘, murmelte ich und drängelte mich unter Entschuldigungen durch die Menge. Dann sah ich es und schüttelte unwillkürlich den Kopf, denn der Anblick, der sich mir bot, war so bizarr, dass ich zunächst an meinem Verstand zweifelte.
Auf dem Boden vor Kasse vier lag ein dünner Mann mittleren Alters, der Jeans und ein Karohemd trug. Aber er lag nicht einfach nur so da, sondern er machte mit seinen Armen und Beinen sonderbare Bewegungen und schnaufte und prustete dazu. Ich beobachtete den Mann und wusste auf einmal, dass er schwamm. Mit kräftigen Stößen durchpflügte er das imaginäre Wasser und kleine Wellen bildeten sich vor seinem Gesicht.
Dieser Mann tat etwas völlig Unerwartetes, Absurdes und mir wurde plötzlich klar, dass ich so etwas selbst schon immer hatte tun wollen, ohne dass es mir bewusst gewesen war. Es war verrückt, aber mich überkam eine große Heiterkeit, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte.
Ich sagte: ‚Entschuldigen Sie bitte, mein Herr, die Badesaison ist noch nicht eröffnet.‘
Als hätte jemand den Stecker gezogen, hörte der Mann mit seinen Bewegungen auf und sah zu mir hoch. Den vorwurfsvollen Blick seiner grauen Augen werde ich nie vergessen.
Er sprang auf, schrie: ‚Das hätte man mir doch früher sagen können!‘, und verschwand durch die Eingangstür. Er tauchte seitdem nie wieder bei uns auf, aber er hatte etwas vergessen. Es steht seit jenem Tag auf meinem Schreibtisch, ein kleines, gelbes Quietscheentchen. Es ist vielleicht nicht exakt das eine Puzzleteilchen, das ich gebraucht habe – gibt es das überhaupt? – aber es kommt ihm doch sehr nahe, und wenn ich wieder einmal das Gefühl habe, dass meinem Leben etwas fehlt, brauche ich es nur anzusehen und es geht mir besser. Dann fällt mir mein neues Hobby ein.
Manchmal, wenn alle schon nach Hause gegangen sind und ich abends alleine im Büro bin, nehme ich das Entchen und gehe schwimmen. Während ich mich auf dem Teppich ausstrecke, fühle ich eine kindliche Unbeschwertheit in mir, die mich in eine andere Welt entführt. Ich höre das Plätschern des Wassers, das leise Quietschen des Entchens und mein eigenes Lachen.
Mit jedem Armzug und Beinschlag entferne ich mich mehr von meinen dunklen Gedanken. Ich schwimme mit kräftigen Stößen durch das Meer, das gegen die Aktenschränke brandet, tauche nach versunkenen Büroklammern, lausche dem Wind, der aus der Klimaanlage kommt. Für diese kostbaren Minuten bin ich frei, gelöst von allen Verpflichtungen und Erwartungen. Es ist, als ob das Quietscheentchen mir die Erlaubnis gibt, einfach zu sein.“
Ich betrachte sein Geschenk, drehe und wende es hin und her. Ob ich es vielleicht auch mal versuche?