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Das ist kein Urlaub, das ist eine Reise.

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08.07.2005
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Das ist kein Urlaub, das ist eine Reise.

Damals stand er da, dieser kleine, untersetzte Junge, der mit seinen kräftigen Fingern sein
Trinkpäckchen umfasste und dann und wann den dünnen Strohhalm an einen seiner tiefen Mundwinkel führte. Seine Mutter und sein kleiner Bruder saßen nicht weit von ihm auf einer Bank. Sie waren am Bahnhof in Leer. Heute haben sie eine „Reise“ gemacht. Am Meer waren sie, obwohl es ja See heißt, aber da hat sich wohl mal jemand vertan. Nun warteten sie auf den Zug zurück nach Haus, nach Hannover. Die Mama des Kleinen sagte ganz früh am Morgen, dass sie heute eine „Reise“ machen. Am Abend vorher hatte sie laut mit seinem Papa geredet, er dachte, sie hätten sich angeschrieen, aber Mama meinte im Zug, sie hätten nur laut geredet. Sie hat schnell ein Paar Dinge in die Rucksäcke der beiden Kleinen gepackt an dem Morgen. Papa hat noch geschlafen, sie sollten alle leise sein. Er muss am Nachmittag arbeiten, meinte Mama. Sie versprach ihren Söhnen noch, dass, wenn sie am Abend wieder zuhause ankommen, sie noch bei Oma übernachten dürfen.
Es war ein angenehmer, lauer Spätsommerabend am grauen Bahnhof. Der Kleine machte kurze Schritte über den schwarzen Teer, balancierte auf der weißen Linie am Rande des Bahnsteiges mit seinen plumpen Füßen und kratze sich begleitet von einem überaus naiv umherschweifenden Blick manchmal an seinem Kopf, der von kurz geschorenem, braunen Haar bedeckt war. Seine kleinen, murmelartig runden Augen, die tief hinter seinen schwer geratenen Wangen lagen, betrachteten immer wieder stolz sein T-Shirt, auf dem ein Comic Superheld eine hübsche Frau im Arm hält und mit ihr davon fliegt, sie gerettet hat vor einem großen, großen Übel. Der Gummiaufdruck wies schon kleine Risse auf, doch das störte den kleinen, kräftigen Jungen gar nicht.
Er schaute zu seiner Mutter rüber und er musste kaum merklich seufzen, wobei sein weiches Gesicht von einem Schauer überzogen wurde, der seine schweren Wangen kurz schüttelte. Seine Mama suchte an dem mehreckigen Abfalleimer nach der richtigen Öffnung für ihre leere Bierdose. Ja, Mama trank auch heute, und das, obwohl sie ja heute ihre „Reise“ machten. Die Mundwinkel des kleinen Jungen sanken noch tiefer und mit seinen Augenlidern versuchte er das Schimmern seiner Augen zu verdecken. Er drehte sich um, wog sich leicht von einem auf das andere Bein, umfasste dabei leicht den unteren Rand seiner Jeansjacke mit seinen kurzen, rosa Fingern und las, was auf den Schildern stand. Gleis 1. Gleis 2. RE Hannover. Mit etwas Anstrengung konnte er sogar die Uhr lesen und bemerkte, dass der Zug gleich kommen müsste. Ein Hauch kindlichen Stolzes in ihm führte zu einem kleinen, hohen Ton, den er aus seiner Nase fahren ließ. Mit dem größten Maße an Entschlossenheit, den er aufbringen konnte, und ein wenig Trotz drehte er sich auf seinen Hacken herum und ging auf seine Mama und seinen Bruder zu. Dieser saß versunken auf der Bank, hatte seinen Po weit nach vorn geschoben, lag nur noch mit seinem Kopf an der Lehne und schaute abwesend und mit tief auf die Brust geschobenem Kinn in seinen Game-Boy, die er in seinen roten Händen hielt. Neben ihm saß breitbeinig und nach vorn gebeugt seine Mama. Braune, leicht gelockte Haare lagen auf ihrer Jeansweste, während die grauen und vertrockneten Strähnen in der Luft schwebten. Zwischen ihren ausladenden Ober-schenkeln lag eine Packung Tabak und verzweifelt versuchte sie sich eine Zigarette zu drehen.
Der kleine Junge hatte schon einige Schritte auf die Bank zugemacht, hatte schon sein Trinkpäckchen entsorgt, als er den Zug in der Ferne sah und sich brav direkt auf weiße Linie stellte, um ihn voller Vorfreude und Begeisterung bei der Einfahrt zu beobachten. Laut, brutal und unaufhaltsam kam er näher und hielt schließlich mit einem Quietschen im Bahnhof, welches in den Ohren schmerzte. Es war ein schmutziger, roter Zug, aber das Rot war verblichen und gar nicht mehr schön, fand der Kleine, trotzdem betrachtete er jeden Zug, der ein- und ausfuhr mit großen Augen und halb geöffnetem Mund und zwischen seinen Lippen bildeten sich durch sein vorsichtiges Atmen kleine Spuckebläschen, die mit einem leisen Knall zerplatzten. Abwechselnd schaute er erst zu seiner Mama und dann wieder zu dem Zug, darauf wartend, dass sie aufsteht und sie einsteigen, fertig, die „Reise“ weiterzuführen. Doch Mama erhob sich nicht, blickte nicht einmal auf. Sie versuchte noch immer Tabak auf das kleine weiße Blättchen zu häufen und sein kleiner Bruder hatte all seine Aufmerksamkeit dem elektronischen Spiel in seinen Händen gewidmet. Der Kleine schaute sehr verzweifelt drein, mit seinen Murmelaugen und den schweren Bäckchen. Er wartete auf seine Mama, auf seinen kleinen Bruder, wagte nicht, die beiden zu stören. Seine Augenbrauen zeigten ein wunderliches Spiel, so auch seine Mundwinkel, die er hin und her schob. Er wurde von der Lust auf die „Reise“ getrieben, aber er hielt sich zurück, bewegte sich keinen Zentimeter von der weißen Linie weg. Sein kleines Gesichtchen wirkte mit jeder neuen Wendung zu seiner Mutter immer bemitleidenswerter, die Bäckchen tiefer und die Augen feuchter. Und so verpassten sie den Zug, verpassten sie die „Reise“, durch all die grünen Felder, die der Kleine so gerne durch das Fenster bewunderte.

Das war damals. Mit sechsundvierzig Jahren endete das Leben des kleinen Jungen auf einem Barhocker in Hannover. Sein kleines Herz versagte dreißig Minuten später im Krankenhaus, und das, obwohl es noch so viele Reisen vor sich hatte.

 

Mit großer Sorgfalt schilderst Du eine Unmenge an Details, die zumindest mich als Leser überfordern. Die Geschichte: Ein verpaßter Zug, eine verpaßte Reise, eine unglückliche Kindheit mit einer alkoholkranken Mutter. Und dann der frühzeitige Tod auf einem Barhocker. Den einzigen Zusammenhang, den ich zwischen Geschichte und Schluß herstellen kann, ist die Vermutung, es könnte sich um ein Schlüsselerlebnis handeln, das sich dem Kleinen tief eingeprägt und den Großen auf immer verdorben hat.

Nein, hat mir nicht besonders gefallen, als zu detailreich und (dadurch bedingt) zu langatmig habe ich es empfunden, auch wenn die beschriebenen (oder beobachteten) Details sehr treffend wirken.

Wenn mich mein Eindruck nicht trügt, könntest Du noch einmal die Zeichensetzung überprüfen; hier noch einige zusätzliche Kleinigkeiten:

  • Mit dem größten Maße an Entschlossenheit, den er aufbringen konnte - "Maße [...], das er"
  • versuchte sie sich eine Zigarette zu drehen. - "sie, sich"
  • hatte schon einige Schritte auf die Bank zugemacht - "zu gemacht", oder vielleicht besser: "hatte schon einige Schritte zur Bank gemacht"
  • die der Kleine so gerne durch das Fenster bewunderte. - nicht eher "bewundert hätte"?
  • endete das Leben [...] Sein kleines Herz versagte dreißig Minuten später - Die Reihenfolge erscheint mir merkwürdig.

 

Hello M.,

Deine Geschichte wirkt auf mich eher wie eine Ansammlung von Beschreibungen bis ins Kleinste. Diese epische Detailverliebtheit ('kratze sich begleitet von einem überaus naiv umherschweifenden Blick manchmal an seinem Kopf') macht das Lesen nicht eben zu einem Vergnügen - zumal ich den Eindruck habe, dass der Schluß 'rangeklatscht wurde, um der ganzen Sache so etwas wie Tiefe zu geben. Oder sollte angedeutet werden, dass Alkoholkrankheit der Mutter zu einem frühen (möglicherweise alkoholbedingten) Ableben des Kindes führt?

Viele Grüße vom gox

 

Hallo Michabel,

das Thema Deiner Geschichte und besonders der Schluss hat mich sehr berührt. Ganz deutlich wird für mich, dass die eine verpasste Reise Deines kleinen Protagonisten mit zu seinem offenbar "verpfuschten" Leben beigetragen hat. Ich finde es auch unbedingt spannend, einmal nachzufühlen, was in Kinder vor sich geht, die in einer solchen Familie, wie Du sie beschreibst, aufwachsen.

Anders als gox (sorry, gox :D), sehe ich in Deiner Geschichte nicht nur

eine Ansammlung von Beschreibungen bis ins Kleinste.
sondern den Versuch, genau nachzuspüren, was in dem Jungen vorgeht.

Das allerdings ist Dir leider nur manchmal wirklich authentisch gelungen.
Zu oft wechselst Du, für mein Gefühl, den Blickwinkel. Manches, was Du beschreibst, zeigt deutlich und klar die Sicht und die Gedanken Deines Protagonisten, wie zum Beispiel der Anfang, in dem Du von der "Reise" berichtest.

Andere Stellen aber, sind eindeutig aus einer erwachsenen Sichtweise heraus geschrieben worden. Kein Kind würde von seinen Mundwinkeln als

seiner tiefen Mundwinkel

oder von seinen Wangen als
den schweren Bäckchen.

oder von seinen Augen als
seinen Murmelaugen

sprechen.

Auch Sätze wie

Sein kleines Gesichtchen wirkte mit jeder neuen Wendung zu seiner Mutter immer bemitleidenswerter,
sind ganz klar nicht aus der Sicht des Jungen geschrieben. Er weiß doch gar nicht, wie sein Gesicht aussieht und wie es auf andere wirkt. Er weiß höchstens, dass in seinem Inneren ein Schmerz bohrt, es ihm schlecht geht , ... was auch immer.

An diesem Wechsel der Perspektiven krankt Deine Geschichte leider meiner Meinung nach. Daran würde ich arbeiten und ich würde alles ganz konsequent aus der Sicht des Kindes schildern, bis auf den letzten Absatz. Da finde ich es durchaus passend, dass man zurücktritt und den Protagonisten sozusagen "von außen" betrachtet.

Und dann - auch wenn es Dich vielleicht nervt - noch ein Wort zu der Vielzahl von Adjektiven, die Du verwendest. Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte an Intensität gewinnen würde, wenn Du Dich bei den Adjektiven ein wenig beschränkst.

Gruß
al-dente

 

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