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Das Kabinett der Sinne
Oder: Nothing else Matters (inspiriert von dem gleichnamigen Lied der Band: Apocalyptica)
Ich stehe im Badezimmer und streife die letzten Kleidungsstücke von mir ab. Es ist spät geworden. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Eine grüne 1 leuchtet neben den Minuten. Nach ein Uhr … Wie soll ich morgen rechtzeitig in die Arbeit kommen? Wahrscheinlich würde ich wieder verschlafen; wieder zu spät kommen. Martin würde wieder meckern:
„Denken Sie, die Arbeit erledigt sich von alleine? Wir können hier niemanden gebrauchen, der seine Pflichten vernachlässigt.“
„Er hat heute gedroht, mir zu kündigen.“ Ich weiß, dass mich niemand hört. Deshalb spreche ich diese Worte überhaupt. Meine Mitbewohner sind garantiert schon ins Bett gegangen.
Warum ist es nur wieder so spät geworden?
Ich stütze mich mit einem Arm an den kalten Badkacheln ab und streife mir mit der Hand über das Gesicht.
„Warum?“, flüstere ich leise …
Würde ich heute in Ruhe duschen können? Sie ist hier; das spüre ich. Sie ist immer hier, in meinem Geist. Jeder Gedanke den ich denke; jedes Wort scheint sie zu prüfen.
„Julia!“ Das Wort stößt unvermittelt auf. Ich kann es nicht aufhalten. Und es hinterlässt in mir ein Gefühl totaler Einsamkeit. Sehnsucht; und doch ist sie da. Und doch spüre ich sie.
Als ich in die Dusche gehe, beginnt in meinem Kopf eine Melodie zu spielen. Jeden Tag höre ich diese Melodie. Leise, zuerst ganz leise. Ich stelle das Wasser an. Für den Bruchteil einer Sekunde reißt mich das Rauschen aus meiner Fantasie. Oder ist es nur Müdigkeit? Es sind die gleichen acht oder neun Töne wie immer. Wie jeden Abend, wenn ich ins Bad gehe. Oder wenn ich schlafen will. Es ist das erste, was ich am Morgen höre. In meinem Kopf. Es ist fast so, als würde mich die Melodie wecken.
Einmal; nur Einmal habe ich das Lied in seiner Gänze, seiner Perfektion gehört. Damals, als sie noch gerne neben mir saß. Ich weiß nicht, was geschehen ist; warum sie mich heute ignoriert. Warum gehst du mir aus dem Weg? Sogar ihren Arbeitsplatz hatte sie gewechselt. Was habe ich dir getan?
Die Melodie beginnt von neuem. Wieso dieses Stück? Wieso immer dieselben Töne? Wieder und wieder … und mit ihr erscheint wieder ihr Bild.
„Julia …“
Ich trete unter das warme Wasser. Langsam breitet es sich auf meiner Haut aus; meine Haare saugen es auf. Ich atme tief durch … Es ist herrlich warm. Ich schließe die Augen und spüre wie das Wasser an meinen Wangen herunter läuft.
In meinem Kopf beginnt die Melodie erneut. Das Bild ist jetzt deutlich zu sehen. Ich kann nicht mehr widerstehen. Mehr und mehr gebe ich mich ihrer Versuchung hin. Ich will sie berühren; sie küssen. Die Melodie wird lauter. Als sie wieder von neuem beginnt, ist es mehr als nur eine Nebenhandlung; mehr als nur ein Ohrwurm. Diese Melodie … Und wieder flüstere ich ihren Namen … „Julia“. Allmählich wird mein Kopf schwer …
Ich befinde mich bei ihr. Ich greife nach ihr. Stelle mir vor, sie zu berühren. Ich streichle ihre Wange. Meine Haut fühlt das aufschlagende Wasser nicht mehr. Ich bin bei ihr, ganz nahe bei ihr. Um uns herum scheint nichts zu sein. Nur sie und ich … und die Melodie. Wieder und wieder.
Sie tritt noch näher an mich heran. Ihre Brust berührt die meine. Ich lege meine Arme um sie. Die Melodie beginnt erneut. Und wieder ist sie lauter. „Julia!“ Meine Hände streichen über ihr Haar. Ich fühle mich schwach.
„Halt mich, Julia, halt mich …“
Sie steht nur da. Ich kann ihr Parfüm riechen. Meine Zunge schmeckt ihre Lippen, meine Augen erblicken ihre Schönheit. Ich spüre ihr sanftes, langes Haar. Und ich höre die Melodie.
Sie füllt nun alles aus. Diese acht Töne, wie sie sich wiederholen. Und wieder beginnt sie von neuem. Und wieder und wieder …
Plötzlich ängstigt mich die Melodie. Sie ist zum Bersten laut geworden. Kein schöner Hintergrund mehr. Julia wird von ihr förmlich überspült. Ich habe das Gefühl mir die Ohren zuhalten zu müssen, doch ich kann mich nicht von Julia losreißen.
Wenn dich jetzt gehen lasse, wirst du nie mehr zu mir zurückkommen. Hämmert es in mir. Ich will dich nicht noch einmal verlieren …
Ich öffne den Mund, bringe jedoch nichts heraus. Das Gefühl ist so intensiv. Ihre Haut scheint mit der meinen zu verschmelzen. Immer schwerer lasten meine Arme auf ihr. „Julia?“ Wieder diese Melodie. Wieder lauter! Ich reiße mich von ihr los und halte meine Ohren zu. Mein Herz brennt.
Ich sinke auf die kalte Keramikplatte nieder, die Hände fest an die Ohren gepresst. Das Wasser nimmt meine Tränen sofort mit. Doch in meinem Kopf dröhnt es unaufhörlich weiter.
Öffne deine Augen, befiehlt eine Stimme in mir. Verdammt öffne deine Augen!
Aber ich schaffe es nicht, mich von ihr abzuwenden. Julia!
Und wieder beginnt die Melodie. Wieder und wieder. Wieder und wieder. Ich stöhne auf. Mein Atem rast. Ich möchte schreien, doch ich bringe keinen Ton heraus. Das Wasser läuft mir in Mund und Nase, so dass ich kaum noch Luft bekomme. Der Strahl trifft mich voll.
Öffne deine Augen … Die Stimme ist zu einem regelrechten Flehen verkümmert.
Ein heftiger Schmerz fährt mir in die Ohren, als die Melodie wieder beginnt.
Endlich entfährt mir ein Schrei. Mein Kopf sackt herab, die Hände lösen sich von den Ohren.
Dann reiße ich die Augen auf. Mein erster Blick fällt auf den Boden zwischen meinen Beinen, auf das Wasser, dass das Blut davonschwemmt, das von meinen Ohren herabtropft.