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Das Kindlein in der Krippe

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13.08.2005
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Das Kindlein in der Krippe

Durch das beschlagene Küchenfenster konnte Andreas den dichten Nebel sehen, der sich über die nächtliche Stadt gelegt hatte. Seit Stunden schon drangen die immer gleichen Weihnachtslieder aus der Wohnung unter ihm. Er hatte die Musik mit dem Radio überdecken wollen, doch auch dort spielten sie nichts anders. Gedankenverloren betrachtete er die Weihnachtspostkarte, die ihm Ingrid in einem Anfall überraschender Ironie geschickt hatte: eine Krippe, komplett mit Ochs und Esel und einer verklärt dreinblickenden Maria.

Ein Topf Glühwein köchelte auf dem Herd. Er hatte eine Fertigmischung mit viel Rum und Zucker genießbar gemacht; ein starkes Gebräu, das ihn von innen wärmte und seine Gedanken verlangsamte. Warum er sich jetzt ausgerechnet an den letzten Sommerurlaub mit Ingrid zurückerinnerte, war ihm nicht klar. Aber er sah ihr Bild, wie sie ihn am Strand angelacht hatte, die Haare vom Seewind zerzaust, und wenn möglich, fühlte er sich bei diesem Gedanken noch einsamer als zuvor.

Während er an seinem dritten Becher Glühwein nippte, sah er sich, an den Türrahmen gelehnt, zuschauen, wie Ingrid mit ihren Freunden die Umzugskisten aus der Wohnung schleppte. Er war unfähig gewesen, etwas zu sagen, oder mit anzupacken. Nicht einmal weinen hatte er können, obwohl ihm damals danach zumute war.

Aus der Wohnung unter ihm hörte er zum dritten Mal an diesem Abend „Stille Nacht“. Seine Hände krallten sich am Becher fest. Die Weihnachtspostkarte verschwamm vor seinen Augen.

„Oh, Jesus“, sagte er. Ihn schauderte.
Von irgendwoher kam eine Stimme: „Was hast du eigentlich gegen mich?“

Draußen sah er dick eingemummelte Menschen zum Weihnachtsgottesdienst stapfen, ohne ihn hinter seinem Fenster zu bemerken. Argwöhnisch betrachtete er den Glühwein in seinem Becher. Er haßte das Gefühl, seiner Psyche hilflos ausgeliefert zu sein.

„Glaubst du, mir macht das alles Spaß?“ redete die Stimme weiter.

Er fing an zu summen, um sich abzulenken, doch als er darüber nachzudenken begann, was er da summte, merkte er, es war eines der Weihnachtslieder, die er schon den ganzen Abend durch den Fußboden hindurch gehört hatte: „Seht das Kindlein in der Krippe...“

„Mach dich nicht auch noch lustig“, hörte er.

Es war das erste Mal, dass die Stimmen so real klangen. Wenn sie bis jetzt auf ihn eingeredet hatten, dann von innen, als Gedanken. Er hatte versucht, den Stimmen Bilder zuzuordnen. Seine Mutter war omnipräsent, immer bereit, sich bei jedem seiner Fehler zu melden und ihren Kommentar abzugeben. In den letzten Monaten war Ingrids Stimme dazugekommen, die sich über die Art mokierte, wie er sein Leben in den Griff zu bringen versuchte. Doch diese Stimme hier war anders.

„Laß mich in Ruhe“, sagte er, obwohl er wußte, daß dies nur wenig half. Die Stimmen ließen sich nicht verdrängen.

„Das Gefühl kenne ich“, antwortete es. „Mir geht es Weihnachten immer genauso.“ Der Ton war tief und markant, vielleicht eine Spur resigniert.

„Jesus“, sagte er.

„Ja?“

Er nahm die Weihnachtspostkarte in die Hand und betrachtete sie eingehend. Maria sah inbrünstig religiös aus wie eh und je, und vom Christkind ragte lediglich die Nasenspitze aus der Krippe hervor.

„Du?“ fragte er.

„Ich“, bestätigte Jesus.

„Du klingst nicht wie ein Baby“, sagte er.

„Kunststück“, erwiderte Jesus. „Seit meiner Kreuzigung bin ich 33. Warum sollte ich mich wie ein Baby anhören? Abgesehen davon können Neugeborene nicht sprechen. Hast du das vergessen?“

„Ich rede nicht sonderlich häufig mit Postkarten“, sagte er lakonisch.

„Finde ich auch bescheuert“, sagte Jesus.

Ein Bein streckte sich aus der Krippe, nicht nackt, wie er erwartet hätte, sondern in Jeans und Halbschuhen. Ein zweites Bein folgte, eine Hand hielt sich am Krippenrand fest und Jesus entstieg der Postkarte. Zunächst war er nicht größer als ein Däumling, doch wuchs er stetig, bis er sich schließlich auf dem Küchenstuhl Andreas gegenüber niederließ.

„Warum ausgerechnet mir?“ fragte Andreas.

„Ich komme nur zu denen, die mich brauchen“, sagte Jesus.

„Dich kann ich nun wirklich nicht brauchen“, antwortete Andreas.

Jesus lachte.

„Willst du einen Glühwein?“

Jesus schüttelte den Kopf. „Vielleicht nachher“

„Wundert mich, daß du dich hierher traust“, sagte Andreas. „Ich kann nicht viel mit dir anfangen. Dieser ganze Weihnachtszirkus geht mir auf die Nerven.“

Jesus ihm gegenüber grinste. „Ich weiß.“

Das erinnerte Andreas an seinen Pastor im Konfirmandenunterricht. Der blockte auch jede Auseinandersetzung dadurch ab, daß er so tat, als verstünde er alles. Er mochte den Pastor nicht besonders. Und auch wenn Jesus ihm gegenüber sympathisch aussah, hatte er den Eindruck, als wäre es an der Zeit, seine Wut über den Weihnachtsschwindel in Worte zu fassen.

„Du weißt!“ sagte er gedehnt. „Von dem ganzen Kommerz und der Scheinheiligkeit. Und fährst nicht mit Blitz und Donner dazwischen oder läßt eine neue Sintflut kommen?“

„Mir scheint, das mit der Vernichtung der Erde habt ihr inzwischen selbst in die Hand genommen. Außerdem haben wir seinerzeit versprochen, es werde keine neue Sintflut mehr geben.“

„Scheinbar habt ihr damals noch nichts von den Klimakatastrophen gewußt!“

Jesus sah ihn lange an. Andreas wurde ein wenig unbehaglich zumute.

„Willst du wirklich mit mir eine theologische Diskussion führen?“ fragte Jesus schließlich. „Wenn du möchtest, können wir auch über die visionäre Bedeutung der Johannes-Apokalypse reden. Scheint mir aber müßig. Glaubst du im Ernst, ich hätte diesen Weihnachtsschwindel nicht selbst durchschaut? Sie haben mich wieder klein gemacht, hilflos und ungefährlich. Da liege ich dann in meiner Krippe und habe der Welt nicht mehr entgegenzusetzen als ein hilfloses Gebrabbel. Einmal im Jahr sind die Kirchen voll und ich bin in dieser Zeit mundtot gemacht. Hirten dürfen auftreten, Engel, Weise; sie alle geben ihren Senf ab, nur mich und meine Botschaft will keiner hören. Vor ein paar Jahren hat in Hamburg ein Pastor versucht, der Weihnachtsgemeinde von dem zu erzählen, was ich wirklich wollte. Sie alle, die da andächtig in den Bankreihen saßen, haben später eine Petition abgefasst und sich beim Probst über ihn beschwert, weil sie sich in ihrem weihnachtlichen Gefühl mißachtet fühlten. Nein, ich bin derjenige, um den es in dieser Zeit am allerwenigsten geht, das kannst du mir glauben.“

„Immerhin ist es dein Geburtstag, den sie feiern“, wandte Andreas ein. „Du hast keinen Grund, dich zu beklagen.“

„Ich bin nicht gekommen, um mich feiern zu lassen, sondern um euch dazu zu bringen nachzudenken.“

Andreas ging zum Herd, um sich einen neuen Becher Glühwein einzuschenken.

„Bist du sicher, daß du keinen willst?“ fragte er.

„Mir wäre ein normales Glas Rotwein lieber“, entgegnete Jesus.

Andreas griff in ein Regal und holte eine Flasche Burgunder heraus. Während er sie entkorkte, sah er sich Jesus genauer an. Er wirkte sanft, vielleicht ein bisschen zu sanft. Aber das konnte täuschen.

Zunächst hatte Andreas Lust gehabt, sich mit ihm zu streiten. Je länger sie jedoch miteinander redeten, desto mehr mochte er ihn. Es war gut, in dieser Zeit jemanden zum Reden zu haben. Er goß ihm ein Glas ein.

„Da liegst du nichtsahnend in deiner Krippe, fragst dich, wann es wohl wieder etwas zu essen gibt“, fuhr Jesus nachdenklich fort, während er am Wein nippte, „und plötzlich kommen wildfremde Leute mit bunten Gesichtern vorbei und bringen Gold, Weihrauch und Myrrhe mit. Ideales Geschenk für ein Neugeborenes, findest du nicht?“

Andreas sah ihn verwundert an: „War doch eine nette Geste.“

„Ja, aber nichts für ein Kind in dem Alter. Damals ging es schon los. Beschenkt wurden die Eltern, nicht das Geburtstagskind. Was meinst du, was ich mir damals gewünscht hätte?“

„Keine Ahnung, ich bin nicht religiös.“

„Ich auch nicht. Zurück ins Fruchtwasser wollte ich. Eine verdammt kalte neue Umgebung war das in Bethlehem. Gelegentlich denke ich das übrigens heute noch, wenn ich durch Israel streife.“

Er schenkte sich ein neues Glas Wein ein und roch genießerisch daran. Dann nahm er sich die Weihnachtskarte.

„Du hast sie gemocht?“

Andreas nickte.

„Ihr macht euch eure Hölle wirklich selbst. Warum rufst du sie nicht an? Es ist Weihnachten.“

Andreas kam ins Reden. Er erzählte von Ingrid, von ihrer Beziehung und den glücklichen Tagen. Zum ersten Mal dachte er wirklich über die zurückliegende Zeit nach und war in der Lage, seine eigenen Fehler zu sehen und zuzugeben. Jesus hörte zu, stellte gelegentlich eine Frage, enthielt sich aber jeden bewertenden Kommentares. Schließlich merkte Andreas, wie ihm die Tränen kamen und wie sich seine Blockaden lösten, mit denen er sich die letzten Wochen vor seinen Gefühlen geschützt hatte. Jesus stand auf und nahm ihn in den Arm. Es war ein ungewohntes Gefühl; Andreas ließ sich nicht gern von einem Mann umarmen. Aber es tat gut. Er schloß die Augen.

Als er sie wieder öffnete, war es weit nach Mitternacht. In ihm war es ruhig geworden. Er war allein in der Küche. Die Postkarte lag noch immer an ihrem Platz. In der Luft hing ein leichter Geruch von Glühwein. Doch der Nebel vor dem Fenster hatte sich gelichtet. Etwas Neues hatte begonnen an jenem Abend.

 

Hallo Ennka

Warum er sich jetzt ausgerechnet an den letzten Sommerurlaub mit Ingrid zurückerinnerte, war ihm nicht klar.
Das verstehe ich wiederum nicht. Sie hat ihm doch eine Postkarte geschickt???

Diese Weihnachtsgeschichte hat mich nicht überzeugt. Vielleicht, weil mir das surrealistische Element, nicht gefallen will, oder vielleicht auch, weil es mir zu pseudophilosophisch vorkommt.
Dazu trägt unter anderem auch bei, dass der Protagonist sich etwas zurechtbiegt, als er mit fünf Fingern in seiner Psyche herumwühlt.

Schließlich merkte Andreas, wie ihm die Tränen kamen und wie sich seine Blockaden lösten, mit denen er sich die letzten Wochen vor seinen Gefühlen geschützt hatte.

Es war das erste Mal, dass die Stimmen so real klangen. Wenn sie bis jetzt auf ihn eingeredet hatten, dann von innen, als Gedanken. Er hatte versucht, den Stimmen Bilder zuzuordnen. Seine Mutter war omnipräsent, immer bereit, sich bei jedem seiner Fehler zu melden und ihren Kommentar abzugeben. In den letzten Monaten war Ingrids Stimme dazugekommen, die sich über die Art mokierte, wie er sein Leben in den Griff zu bringen versuchte. Doch diese Stimme hier war anders.

Gefallen hat mir der Einstieg :)
Schöne Weihnachten,
Goldene Dame

 

Hallo, Goldene Dame

na Mensch, dass ist ja eine Menge "Pseudo" und "zurechtbiegen" für so eine kleine Geschichte. *seufz*

Das verstehe ich wiederum nicht. Sie hat ihm doch eine Postkarte geschickt???

Nun gut, der Prot hat ja doch eine gewissen Zeit mit seiner grand dame verbracht, es gibt also ein relativ großes Potential an möglichen Episoden zum Erinnern. Draussen vor dem Fenster treibt tiefer Winter sein Unwesen. Trotzdem denkt er an Sommer, an Strand. Warum von allen Bildern ausgerechnet dieses? Er wundert sich: eigentlich kein besonders starker Eindruck, vor allem im Vergleich zu der Szene, die ihm danach vor Augen kommt. Aber vielleicht nicht klar genug von mir herausgearbeitet, worüber er sich wundert. Werde ich mir noch mal einen Kopf drüber machen müssen.

Das Zurechtbiegen sehe ich anders: jeder von uns hat Stimmen im Ohr. Manche hören sie laut, wenige reden drüber, um nicht für verrückt zu gelten. Oft gehören sie zu Personen. Hat für mich nichts mit "zurechtbiegen" zu tun, dass er sich damit auseinander setzt und sie zuzuordnen versucht. Machen wir doch alle, dass wir eine möglichst reale Erklärung für eine möglichst verwirrende Situation suchen.

Egal. Dank Dir für Deine Reaktion auf die Geschichte. Werde noch mal in Ruhe drüber meditieren, was sich anders machen ließe.

Have yourself a merry little X-Mas,
Ennka

 

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