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Das Klavier
Es spielt noch zart in den Abendhimmel hinein; die Töne werden noch versteckt, mehr gehaucht als gespielt, mehr geliebt als komponiert. Die Welt zwischen den Tönen schweigt hochachtungsvoll, verneigt sich vor jedem Akkord, den es ihr zu atmen gibt.
Ich folge den Klängen in a Moll durch die stillen Gassen, nein, doch rechts, jetzt laufe ich, es spielt schneller, Fortissimo, es improvisiert, ich tanze, drehe mich zu den Bassakkorden, werde langsamer, biege links ein. Eine Pause. Ich warte. Stehe gerade und bewegungslos, halte die Luft an. Es setzt wieder ein, arbeitet mit dem Nachhall der Klänge, die in der stillstehenden Welt verebben, ich sacke etwas in mich, tief und schwer der Bass, verspielt und traurig die Höhen.
Dort hinten muss es sein, das offene Fenster, die offene Tür, von Kerzenlicht durchdrungen, ein einsames Haus, ungepflegt und schlicht. Heftige Akkorde jetzt, die die Umgebung durchdröhnen, nicht mehr so exakt, nicht mehr so präzise, nur noch tief und schwer und traurig und etwas unbeholfen, wie Bärentatzen die auf die Klaviatur fallen. Ich springe die Eingangstreppe hinauf und im Haus ist der Klang stark, einnehmend und allgegenwärtig, als hätte er sich der Wände bemächtigt.
Ich sehe einen grauen Zopf an einem Mann im Frack, das Klavier vor ihm; er spielt es nicht nur einfach, er hat es in seiner Kontrolle, er regiert es, er bestimmt es, und gleitet über die Tasten wie über den schönsten Frauenkörper dem man ein Seidenkleidchen hinunter streicht.
Weinflaschen und Aschenbecher verzieren das Bild, die Wände mit Notenblättern tapeziert, das Instrument ist schwarz und die weißen Tasten leuchten heraus wie das Lächeln Gottes. Ich atme im Takt dieser Melodie die alles sagt, alles zusammenfasst, was es zu sagen gilt, die die Schönheit und die Hässlichkeit, den Schwermut und die Freude gleichermaßen, den Ekel und die Abscheu, Hoffnung und Ruhe und Zufriedenheit …
Pause. Diskante Töne kitzeln mich näher heran, sie balancieren und tänzeln, ich schleiche und schlurfe, wieder wird es schneller, diese Melodie erneut, erdrückend und befreiend zu gleich, wenn man Musik ficken könnte ... wird allmählich langsamer, ruhiger und leiser. Der Mann ist alt, knöcherig, der Frack selbst zieht ihn schon zu Boden, seine Haut im Nacken ist hell und verfaltet, pickelig und schrumpelig. Ich warte auf die nächsten Töne im Ablauf des Liedes um einen Fuß weiter fortsetzen zu können. Die Akkorde fallen nur noch in immer längeren Abständen. Ich stehe dicht vor dem Klavier. Unmittelbar neben dem Spieler. Es ist still schließlich. Nicht so still wie Menschen schweigen, so still, wie der Tod schweigt. Ein Blick auf die selbst geschriebene Partitur vor uns sagt mir lebenslange Arbeit.
„Das Leben war schneller als ich“, wispert er.
Die Melodie ist verklungen, spielt nur noch in meinem Herzen, und ich höre die Welt nicht mehr. Sie wird von nun an anders klingen als wie zuvor, schöner und hässlicher, schwermütiger und freudiger gleichermaßen, ekeliger und abscheulicher, hoffnungsvoller und ruhiger und zufriedener …
„Schlussakkord?“, röchelt er mit einem kleinen Lächeln im Ton.
„Ich bitte darum!“, wage ich mir zu antworten und schon fällt er in die Tasten, es klingt noch lange und hoffentlich ewig.
Für Christian Casara