- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Das Lächeln der Vergangenheit
Das Zimmer war stockdunkel. Nur der fahle Mondschein, der durchs Fenster fiel, spendete
ein wenig Licht. Doch es war ein kaltes Licht, das alles wie tot erscheinen ließ. Das Radio
spielte leise. Es lief grade ‚Another day in paradise’.
Ein Mädchen erhob sich von ihrem Bett und trat langsam ans Fenster. Sie blickte nach
draußen. Es war kein Wölkchen am Himmel. Die Sterne funkelten zu abertausenden. Eine
kleine Träne bahnte sich ihren Weg aus dem Gesicht des Mädchens.
Sie sah den Mond an und sang leise das Lied mit. Die Tränen liefen immer weiter. „Paradies?
Was ist das schon???“ dachte das Mädchen. Und ließ sich langsam an der Wand neben dem
Fenster hinab gleiten. Sie streckte ihren Arm noch oben und zog ein Bild aus dem Regal,
welches neben ihr stand.
Sie betrachtete das Bild. Es zeigte einen kleinen Jungen. Vielleicht fünf Jahre alt. Er hatte
strahlend blaue Augen und sein rotes Haar glänzte in der Sonne. Das Photo musste an einem
Frühlingsnachmittag aufgenommen worden sein. Der Baum, in dem der Junge saß, stand
in grüner Pracht dar und vereinzelt waren schon ein paar zartrosa Pfirsichblüten zu sehen. Der
Junge hatte ein strahlendes Lächeln auf den Lippen. Das Mädchen zog seine Gesichtskonturen
mit dem Zeigefinger nach. Weitere Tränen liefen über ihr Gesicht.
„Bist du an dem Ort, den sie Paradies nennen???“, fragte sie leise das Bild. Doch sie erhielt
keine Antwort. Hatte sie etwas anderes erwartet. Nein! Sie bekam nie eine Antwort auf ihre
Fragen. Von niemanden. Egal wen sie fragte. Es war immer das Selbe.
Niemand beachtete sie.
Niemand sah sie.
Niemand hörte sie.
Niemand hatte jemals von ihr Notiz genommen. Er war der einzige gewesen. Doch nun….
Er ist nun seit fast einem Jahr tot. Er hatte sie allein gelassen in dieser kalten Welt. Wie
konnte er nur??? Wieso ließ er sie allein???
„Wieso hast du mich nicht mitgenommen, Bruder???“ Ein leises schluchzen kroch ihre Kehle
hoch. Ihre Stimme wurde rau und somit auch langsam leiser. „Aber du bist ja nicht freiwillig
gegangen. Sie waren schuld. Sie haben es nicht gemerkt. Sie haben dich getötet. Ich hasse
sie.“ Die Tränen kamen nun unaufhörlich.
Das Mädchen stellte das Bild wieder weg und stand auf. Sie blickte erneut aus dem Fenster,
hinaus in die Nacht. Die Sterne standen immer noch strahlend am Himmel und leuchten in
voller Pracht.
Sie sah zum Mond hinauf.
„Und was ist, wenn ich dir jetzt folge?? Du wirst es verstehen, oder? Du hasst mich nicht. So
wie alle anderen. Du bist der einzige, der je für mich da war. Der einzige, der mir etwas
bedeutet.“ Die Stimme des Mädchens versagte und sie trat vom Fenster zurück. Die Dämonen
der Nacht begonnen grad ihr schauriges Fest.
Das Mädchen ließ sich vor ihrem Bett nieder. Lehnte sich mit dem Rücken daran. Sie spielte
mit einer Schere in ihrer Hand.
Sie fuhr mit dem Finger über die scharfe Innenseite der Schere.
Schnell zog sie ihn zurück. Ein Tropfen Blut quoll aus dem kleinen Schnitt. Das Mädchen
betrachtete ihn. Ihre Augen hatten einen glasigen Ausdruck angenommen.
Das Mädchen schien nicht mehr auf das zu achten was sie tat. Ihre Gedanken waren nur noch
bei ihrem Bruder. Sie sah ihn vor ihren Augen. Er kam lachend auf sie zu und streckte seine
Arme nach ihr aus. Doch erreichte er sie nicht.
Sie legte die Schere an ihren Arm und zog sie quer darüber.
Immer noch lächelte der kleine Junge und rief nach seiner großen Schwester. Wieder streckte
er seine Arme nach ihr aus. Doch er erreichte sie nicht.
Ein zweiter Schnitt folgte dem ersten.
Der Junge rief immer noch nach ihr. Doch sie verstand nicht was er wollte. Er streckte die
Arme nach ihr aus. Doch er erreichte sie immer noch nicht.
Der dritte Schnitt.
Sie verstand ihren Bruder immer noch nicht. Auch nicht nach dem vierten und fünften
Schnitt. Sie kam ihrem Handgelenk immer näher. Doch merkte sie davon nichts. Sie war
vollkommen auf ihren Bruder fixiert. Aber sie verstand sein flehen nicht.
Das Mädchen schnitt sich das Handgelenk auf. Das Blut quoll schneller hervor, als aus den
anderen Wunden. Sie wurde immer blasser und schwächer.
Das Gesicht des Jungen hatte einen verzweifelten Ausdruck angenommen. Er schrie förmlich
nach seiner Schwester. Aber sie hörte ihn nicht mehr. Sie hörte nichts mehr.
Sie sah immer nur das Selbe Bild vor sich. Ihren Bruder, der auf sie zulief und sie gleich in
seine Arme schließen würde. Sie sah sein Lächeln, dass nicht mehr war.
Sie hörte sein Lachen, das verstorben war.
Sie sah und hörte nur noch was sie wollte. Nur noch dieses eine Bild.
Ihre Augen hatte sie schon geschlossen. Ihr Körper rutschte auf den Boden. Es war fast kein
Leben mehr darin. Und schon bald würde es ganz verlöschen.
Tränen liefen über das Gesicht des Jungen. Auch wenn es nur sein Geist war. Er weinte um
seine Schwester. Sie hatte den Kampf aufgegeben und war ihm gefolgt. Sanft legte er seine
Hand auf ihren Kopf und streichelte darüber. „Wieso nur hast du aufgegeben? Ich verstehe es
nicht. Warum nur? Warum???“ Er bekam keine Antwort mehr von ihr, denn ihre Seele war
schon aus ihrem Köper entflohen. Wie lange es wohl dauern mag, bis sie ihren Frieden
gefunden hat?
Der Junge blickte ein letztes Mal traurig auf den toten Körper. Dann erhob er sich und begab
sich zum Fenster. Immer noch stand der Mond hoch am Himmel und die Sterne leuchteten
hell. Doch dort fiel grade eine Sternschnuppe auf die Erde. Es war der Stern seiner Schwester.
Nun war sie endgültig gegangen. Der Geist des Junge begann nun auch sich auf zu lösen. Er
würde wieder an seinen Platz zurückkehren.
Die Dämonen der Nacht feierten indes weiter ihre Feste und doch waren sie in dieser Nacht
nicht ganz so schwungvoll wie sonst.