Das Lächeln
Eine belastende Ruhe herrschte in der Wohnung von Viola Bergmann. Da, wo die fünf Zimmer ständig mit Leben erfüllt waren, hing heute jedes Familienmitglied seinen eigenen Gedanken nach.
Innerhalb weniger Monate endete das 67 jährige Leben von Opa Karl. Handlungsunfähig mussten sie zusehen, wie sein Leben verlöschte. Die Bestrahlung brachte keinen Erfolg, trotzdem heftete jeder seinen Glauben daran, dass es wieder besser werden könnte. Wunder gibt es immer, doch diesmal war es zu spät.
Viola stand im Schlafzimmer vor dem geöffneten Kleiderschrank.
"Warum müssen wir eigentlich unbedingt schwarze Kleidung tragen?", sprach sie laut zu ihrem Mann, "Ich finde das nicht in Ordnung. Jeder sollte für sich entscheiden, was er anziehen möchte."
Ihre Hand wühlte nervös zwischen den Kleidungsstücken, bis sie endlich die schwarze Baumwollhose ihres Mannes Fred fand und auf das Ehebett warf.
"Wir müssen uns beeilen", antwortete ihr Mann und schlüpfte hastig in die Hosen, "Sonst kommen wir noch zu spät."
"Jungs, seid ihr fertig?", rief Viola.
Widerwillig bewegten sich Christoph und Jonas aus ihren Zimmern. Viola wusste, dass sie am liebsten zu Hause bleiben würden, aber sie waren keine kleinen Kinder mehr mit ihren 22 und 19 Jahren. Das Sterben gehörte zum Leben wie das Lachen hatte Viola ihnen schon in jungen Jahren erklärt.
Mit schnellen Schritten liefen sie die Treppe herunter, stiegen ins Auto und fuhren Richtung Friedhof. In letzter Minute betraten sie die Kapelle. Viola empfand Abscheu vor diesem Anblick. Mit steifer Körperhaltung ging sie hinter ihrem Mann und den Söhnen auf die dritte Bankreihe zu. Widerwillig setzte sie sich auf das kalte abgenutzte Holz. Eine Armlänge vor ihr saß Schwester Katrin mit Ehemann Jan und Tochter Julia und in der Reihe davor ihre Eltern mit Oma Else.
Violas Augen huschten unruhig durch die Kapelle. Das bohrende Schweigen drückte sie noch tiefer in die harte Bank. Mit einem leisen Seufzer richtete sich Viola wieder auf und wartete ungeduldig auf den Pastor. Ihre Finger spielten nervös miteinander und die Betroffenheit aller Besucher hing wie ein dumpfer Nebel im Raum. Dann ertönte die Orgel. Jammernde Klänge. Mit bedächtigen Schritten schlich Pastor Meier den langen Gang zwischen den Bänken hindurch. Erhobenen Hauptes und die Hände ordentlich über dem Bauch gefaltet, verweilte er eine Minute vor dem Sarg.
Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, als hofften sie, er würde ihnen die Traurigkeit aus dem Herzen reißen. Mit einem frommen Gesichtsausdruck blickte er auf die Trauergemeinde und begann seine Ansprache. Es folgte ein Gebet. Viola hatte das Gefühl, als würde das Murmeln der Trauergäste gegen die weiß gekalkten Wände stossen, abprallen und im Raum hin und her schaukeln.
Ihre Augen hefteten sich an das große schmucklose Jesuskreuz, bis es vor ihrem Blick verschwamm und sie in Gedanken versunken war.
Doch die laute Stimme des Pastors Meier holte sie sofort zurück in die Wirklichkeit und forderte die Trauergemeinde zu einem gemeinsamen Lied auf. Danach folgte die Erinnerungsrede. Kurz und schmerzlos, ohne viel zu sagen über Opa Karl. Hatte Opa Karl überhaupt ein Leben gehabt?
Und so flogen Violas Gedanken in die Vergangenheit und landeten auf einem Bauernhof, der mitten in einer Kleinstadt lag.
Etwas suchend schaute sie zur Decke, zum Fenster und dem hölzernen Sarg in der Kapelle.
"Erinnerst du dich noch an die Zeit vor fünfunddreißig Jahren, Opa?", fragte Viola ganz leise.
"Als du mich zum ersten mal auf den Schimmel gesetzt hast. Ich wollte unbedingt da oben rauf, obwohl mir die Angst fast aus den Augen sprang. Wie alt war ich damals? Ich glaube so neun Jahre. Man war das hoch. Mein Herz schlug Purzelbäume."
"Ich erinnere mich sehr gut", vernahm Viola plötzlich die Stimme ihres Großvaters, "Du hast am ganzen Körper gezittert, aber dein Wille war ungebrochen oder sollte ich es lieber Starrsinn nennen."
"Woran erinnerst du dich noch?", fragte mich Opa Karl gleich darauf bei unserem Gedanken-Spaziergang in die Vergangenheit.
"Da gibt es viele Dinge", antwortete Viola, "Zum Beispiel der Dachboden des Hauses. Du weißt es sicherlich nicht, aber wir haben so oft dort herumgestöbert. Es war wie ein kleines Abenteuer in die Vergangenheit. Manchmal haben wir eine Schiefertafel, alte Fotos, meinen ersten Kinderwagen und sogar den alten Kinderwagen meines Vaters gefunden."
"Du und deine Schwester Katrin, ihr habt den ganzen Hof unsicher gemacht", sprach Opa Karl weiter und lachte dabei.
"Das ist wahr", antwortete Viola, stimmte in das Lachen ein und erinnerte sich.
Katrin und ich konnten kaum mit Opa Karl Schritt halten. Er war so groß, dünn und hatte unendlich lange Beine. Mit kleinen Schritten trippelten wir hinterher, wenn es zum Füttern der Hühner ging. Neugierig wie ich es schon immer war, kroch ich zu den Hühnern in den Stall. Es musste alles genauestens untersucht werden.
Dann war da noch dieser verrückte Hahn. An einem Nachmittag im Sommer spazierte ich mal wieder über den Hof und ärgerte das Federvieh. Bis sich der Hahn für mich interessierte. Er flatterte auf mich zu und pickte nach meinem roten Rock. Schreiend lief ich so schnell wie ich konnte zur Hintertür des Hauses und die Treppe hinauf in die Küche. Vom Fenster aus streckte ich ihm die Zunge raus.
Manchmal durften wir auch in den Betten unserer Großeltern schlafen. Die Kissen waren so dick, dass man darin versank. Morgens weckten uns dann Opa und Oma und bereiteten das Frühstück vor , während Katrin und ich den Hof erkundeten.
Aber wir waren nicht nur auf Entdeckungsreise, sondern haben auch oft geholfen. Entweder beim Füttern der Tiere oder beim Eier stempeln. In einem Jahr hatten wir sogar ein kleines Ferkel in Pflege. Es durfte in der Küche schlafen, sorgte für manche Aufregung und quiekte jämmerlich, wenn es Hunger hatte.
Über Violas Gesicht huscht ein Lächeln, als sie sich an diese Zeit erinnert. Zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Katrin hatte sie auf dem Heuwagen gelegen und die Wolken und Schwalben am Himmel beobachtet.
Oma Else war 13 Jahre älter, viel kleiner und etwas rundlich.. Opa Karl konnte essen und wurde nie dick. Wenn wir schon alle das Essen beendet hatten, futterte Opa Karl noch kräftig. So saßen wir Mädchen immer da und bestaunten die Brotberge, die in ihm verschwanden.
Plötzlich spürte Viola eine sanfte Wärme auf ihrer Wange. Ungläubig hob sich ihr Blick zum Fenster und sie sah, wie sich die Sonne ihren Weg durch die grauen Wolkenmassen bahnte. Die ersten goldenen Strahlen des Tages fielen durch das angestaubte Fenster und landeten auf dem dunkelbraunen Sarg.
Die Erinnerungsrede des Pastors war beendet und auch Viola hatte auf ihre Art Abschied genommen. Ein glückliches und zufriedenes Lächeln tanzte auf ihren Lippen. In ihrem Herzen herrschte vollkommene Ruhe und Zufriedenheit. Ein letztes Mal erklang die Orgel. Ein Stück aus der Volksmusik hätte Opa Karl bestimmt viel besser gefallen, dachte Viola, denn er liebte diese Musik sehr. Vielleicht sollte der Mensch die Regeln durchbrechen und sich nicht immer an ihnen festkrallen.
Mit diesen Gedanken verließ Viola die Kapelle und begleitete den Sarg zu dem schwarzen, kalten Loch in der Erde. Still stand sie an seinem Grab, warf den kleinen Blumenstrauß hinein und stellte sich neben ihre Familie.