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Das Leben und das Sterben
Kaufmann öffnete die Augen. Blinzelnd sah er sich im geräumigen Inneren der Limousine um. Er musste eingeschlafen sein. Der Schnellhefter auf seinem Schoß war leer, einige lose Blätter lagen auf der Rückbank, einige im Fußraum. Gähnend hob Kaufmann sie auf. Er war wirklich müde.
"Wie langen brauchen wir noch?"
"Schwer zu sagen", antwortete Ranoch.
Der Regen war stärker geworden. Wie ein Schnellboot schoss der schwarze Mercedes über die nasse Fahrbahn. Die Scheibenwischer wirbelten unaufhörlich hin und her, um die Sicht auf die scheinbar immer gleichen fünfzig Meter Autobahn freizugeben.
"Hören Sie, Ranoch, ich muss heute Abend auf jeden Fall noch nach Düsseldorf. Also könnten Sie vielleicht ein wenig Gas geben?"
"Bei dem Wetter ist es gefährlich, so schnell zu fahren."
Seine Stimme klang nicht besorgt. Es war eine Feststellung, nicht mehr.
"Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Tun Sie Ihren Job und bringen Sie mich nach Düsseldorf."
Kaufmann rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen und begann, seine Unterlagen zu sortieren, als er in der Ferne die Lichter sah.
Blaulicht durchbrach die Dunkelheit. Ranoch bremste langsam ab und sie passierten einen Anhänger am Straßenrand. Dutzende kleiner Lampen formten ein rotes Warndreieck. Zwei Streifenwagen standen quer auf der Fahrbahn. Eine Gestalt in einer gelben Regenjacke bedeutete ihnen, anzuhalten und Ranoch ließ den Wagen ausrollen. Er öffnete das Fenster einen Spalt, sofort schoss Regen durch die schmale Öffnung.
"Sie können hier nicht weiterfahren." Der Polizist in der Regenjacke musste fast schreien, um den Orkan zu übertönen. "Es gab einen schweren Unfall. Die Autobahn ist gesperrt. Fahren Sie auf dem Standstreifen bis zur nächsten Ausfahrt. Ist nicht weit, knapp hundert Meter."
Ranoch nickte dem Polizisten zu und schloss das Fenster.
"Verdammte Scheiße. Gerade jetzt", fluchte Kaufmann. Er lehnte sich nach vorne. "Warum bleiben wir nicht einfach auf dem Standstreifen, bis die Autobahn wieder frei ist? Was macht das schon für einen Unterschied?"
"Sie haben gehört, was der Polizist gesagt. Manchmal muss man sich seinem Schicksal fügen."
"Sich seinem Schicksal fügen? Hören Sie, ich habe wichtige Termine und keine Zeit für Ihre... " Kaufmann verstummte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. "Ach, was soll's? Hat ja sowieso keinen Zweck."
Im Schritttempo erreichten sie die Ausfahrt. Scheinwerfer vermischten sich mit dem Blaulicht, an mehreren Stellen blitzten Schneidbrenner auf. Trotz des Regens, der Entfernung und des diffusen Lichts, sah Kaufmann die Szenerie gestochen scharf wie auf einer Hochglanzfotografie. Der graue LKW-Anhänger lag wie ein toter Elefant auf der Seite. Er schien unbeschädigt zu sein, nur die Leitplanke war auf einer Strecke von gut hundert Metern eingedrückt. Trümmerteile lagen willkürlich verteilt auf beiden Spuren, dem Mittelstreifen und der Gegenfahrbahn. Große und kleine Stücke deformierten Stahls. Verwirrt verfolgte Kaufmann ihre Spur zurück zur Unfallstelle. Jetzt erkannten seine Augen auch den schwarzen Klumpen zwischen dem Anhänger und der Leitplanke. Kaum noch etwas erinnerte an ein Auto; es war komplett zerquetscht und aufgerieben worden. Plötzlich spürte Kaufmann den schneidenden Wind, Regen tropfte auf sein Gesicht. Es roch nach Benzin und verbrannter Haut. Er sah das Innere des Wracks. Das Chaos, die Zerstörung, das Blut und den leblosen Körper. Er hörte die Feuerwehrmänner, wie sie sich durch den Sturm Anweisungen zubrüllten. Dann verschwand das Bild genauso schnell, wie es gekommen war.
"Der Mann... Er ist tot."
Kaufmann presste die Worte hervor. Im Rückspiegel sah er Ranochs dunkle Augen.
Der Sturm hatte sich gelegt. Die Wolkendecke war aufgerissen und gab den sternenlosen Nachthimmel frei. Kein anderer Wagen war ihnen begegnet, seitdem sie die Autobahn verlassen hatten. Nur die Begrenzungspfähle blitzten in regelmäßigen Abständen auf, wenn das Licht der Scheinwerfer sie traf, doch noch bevor der Mercedes sie erreicht hatte, waren sie wieder zu glanzlosen Andeutungen verblasst. Hinter ihnen gab es nichts als Dunkelheit, als ob die Welt abseits dieses schmalen Korridors nicht mehr existierte.
Kaufmanns Kopf lehnte an der kalten Scheibe. Er dachte an die Bilder, immer wieder. An die Bilder, die er nicht hätte sehen können. Das Meeting in Düsseldorf, seine Arbeit, sein Leben, alles schien weit weg. Losgelöst.
"Sind Sie sicher, dass dies der richtig Weg ist?", fragte er nach einer Weile. "Ich habe nirgendwo ein Straßenschild oder eine Abzweigung gesehen."
"Der Weg ist richtig. Ich bin ihn schon oft gefahren."
Kaufmann versuchte, sich aufzuraffen.
"Aber die nächste Autobahnzufahrt kann doch eigentlich nicht so weit entfernt sein, oder?"
Ranoch sah in den Rückspiegel und lächelte.
"Keine Sorge, Herr Kaufmann. Sie haben jetzt genug Zeit."
"Wie meinen Sie das?"
Kaufmann erhielt keine Antwort. Für kurze Zeit dachte er daran, Ranoch zu sagen, er solle umkehren, aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie fuhren jetzt schon zu lange auf dieser Landstraße und irgendwann musste schließlich eine Abzweigung kommen. Keine Straße führt ins Nirgendwo. Außerdem war er sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob sein Fahrer überhaupt auf ihn hören würde.
"Wie lange machen Sie diesen Job schon?", fragte Kaufmann schließlich, um das Gespräch am Laufen zu halten. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er fühlte sich unwohl, fast verletzlich. Ein Gefühl, das ihm fremd war.
"Schon lange. Seit einer Ewigkeit, wenn Sie so wollen", antwortete Ranoch.
"Und was machen Sie sonst so? Ich meine, wenn Sie nicht arbeiten. Sind Sie verheiratet? Haben Sie Kinder?"
Ranoch lächelte wieder in den Rückspiegel.
"Sie haben es immer noch verstanden, oder?"
Kaufmann senkte den Blick und kramte in seiner Aktentasche. Das Handy hatte keinen Empfang, aber wen sollte er auch anrufen? Und was sollte er sagen? Er suchte weiter. Nein, er hatte wirklich nichts verstanden, aber der kalte Griff des Brieföffners lag gut in seiner Hand.
Die Minuten verstrichen. Draußen trieb der Fahrtwind die letzten Regentropfen über die Scheibe. Kaufmann beobachtete ihren aussichtslosen Kampf gegen die physikalischen Gesetze. Es gab für ihn sonst nicht viel zu tun, nicht viel zu sehen. Seine Linke ruhte immer noch in der Aktentasche. Die Tropfen auf der Scheibe wurden langsamer und blieben schließlich stehen. Einige Augenblick lang starrte er sie ungläubig an. Dann kurbelte er das Fenster hinunter. Der Fahrtwind war verschwunden. Kaufmann hielt die Hand nach draußen, bewegte sie hin und her, doch er spürte keinen Luftwiderstand.
Etwas hatte sich verändert. Es gab keine Begrenzungspfeiler mehr am Straßenrand. Die Dunkelheit war näher gekommen.
"Was passiert hier? Wo bringen Sie mich hin?"
Seine Stimme war brüchig, als habe er lange Zeit nicht gesprochen.
"Keine Sorge, Herr Kaufmann, Sie sind gleich da."
"Bitte bringen Sie mich wieder zurück. Ich..."
"Dafür ist es jetzt leider zu spät. Sie hätten bei Regen wirklich nicht so schnell fahren sollen."
"Ich habe Geld, viel Geld. Ich kann Sie bezahlen. Ich..."
"Ich weiß."
Kaufmann schwieg. Er sank tiefer in seinen Sitz. Mit jedem Ausatmen schien ein Stück Leben seinen Körper zu verlassen. Ihm war nie aufgefallen, wie weich die Polster waren. Der Brieföffner glitt aus seiner Hand und fiel zu Boden.
Der Wagen hielt an.
"Wir sind da."
Langsam öffnete Kaufmann seine Augen.
"Wo... ?"
Mehr brachte er nicht heraus.
"Es gibt viele Namen für diesen Ort und genauso viele Beschreibungen, aber alle meinen sie dasselbe."
"Aber ich... Ich bin noch nicht tot."
"Nein?"
Die Bilder kamen zurück. Der Regen, die Dunkelheit, das Wrack und der zerstörte Körper. Das linke Bein war von der Fahrertür zerdrückt, aus dem Brustkorb ragte das Ende der B-Säule. Das Dach hatte den Kopf in einem grotesken Winkel vom Hals abgeknickt. Trotz der Verstümmelungen erkannte Kaufmann seinen Körper. Die Gewissheit traf ihn nicht wie ein Schlag, nicht wie etwas, dass man mit angstgeweiteten Augen begriff. Es war eher wie eine verschwommene Erinnerung, ein unscharfes Bild, dass man tief in seinem Inneren vergraben hatte, in der Hoffnung, es vergessen zu dürfen. Und das trotz aller Bemühungen zurück an die Oberfläche gelangt war.
"Manche merken es kaum, weil sie nie richtig gelebt haben", sagte Ranoch.
Kaufmann sah ihn nur an.
"Von hier aus müssen Sie allein weiter."
"Wohin?"
"Das wird sich zeigen. Gehen Sie jetzt. Es ist Zeit."
Kaufmann stieg aus und die schwarze Unendlichkeit empfing ihn. Eine Zeit lang stand er einfach nur da und sah den kleiner werdenden Rücklichter nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden.
Dann ging er los.