Das Lied vom Tod
Das Wimmern einer Mundharmonika zerriss die Stille, wurde lauter und schriller, als fühlte das Instrument unsägliche Schmerzen. Der Blick des Mannes kam in die Gegenwart zurück. Er kniff die Augen zusammen. Dann zog er das Handy aus der Manteltasche. Normalerweise genoss er diese Musik. „Spiel mir das Lied vom Tod“ war sein Lieblingsfilm. Charles Bronson in seiner besten Rolle. Aber um diese Zeit bedeutete der Anruf garantiert Ärger.
„Tony Balistrieri hier“, meldete er sich. „Ja, mmhh ... kann das nicht Morti ... es ist nur, meine Frau hat ... So dringend? ... Na, von mir aus... Wer? Carlo Mirra? Das arme Schwein. Wie Sie wollen. 15te Straße, Nr. 43, hab ich... Ob ich den dabei hab? ... Was denken Sie denn?“ Er tastete nach seinem Schulterhalfter.
„Hmmm ... Seine Ohren ... verstehe. Okay, Boss, Sie kriegen die Ohren.“
Seufzend steckte er das Handy weg.
Carlo Mirra starrte aus dem verschmierten Fenster und fand die Welt zum Kotzen. Draußen fiel der Regen in dicken phosphoreszierenden Schnüren vom Himmel und verlieh der Nacht eine Tristesse, die sie verdiente. Rhythmisch zuckend verkündete eine Leuchtreklame ein paar Blocks weiter die Botschaft Coca Colas. Unten glänzte der Asphalt im Schein der Neonlampen und der Lichter der geschäftig vorbeihuschenden Blechkäfer. Kleine Lichter, so, wie er eins war, ewig bleiben würde. Nein, nicht ewig, korrigierte er sich. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würden bei ihm die Lichter ausgehen. Er konnte nicht mal mehr richtig pissen.
Als er sich vom Fenster abwandte, hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Chevy.
Tony Balistrieri parkte den Wagen und blickte zum Haus gegenüber. Nr. 43 – hier musste es sein. Eine alte Mietskaserne, nur wenige Fenster erleuchtet, von deren Wänden sich hier und da der Putz ablöste. Sah aus, wie ein Abrisskandidat. Davon zeugte auch der Schutthaufen auf dem Grundstück daneben. Klar, so ein armes Würstchen wie Carlo konnte sich keine bessere Absteige leisten. Im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung warf er einen Blick auf sein Handgelenk. Schon nach 22 Uhr. Eigentlich hätte er jetzt zur Feier des Tages mit seiner Frau im Restaurant sitzen müssen.
Er hatte es satt. Button Man der Mafia. Weit hatte er’s gebracht. Kleine miese Gauner umlegen. Manchmal wünschte er sich in ein anderes Jahrhundert. In die Zeit von Doc Holyday und Billy the Kid. Da hatte das wenigstens noch Stil gehabt, war von einem Hauch Abenteuer und Romantik umgeben gewesen. Wieder meinte er die Klänge der Mundharmonika zu hören. Er schüttelte den Kopf. Was war heute los mit ihm?
Er öffnete die Wagentür. Wurde Zeit, dass er die Sache hinter sich brachte.
Er verfluchte den Regen, als er wenig später sein Feuerzeug anknipste um die Namensschilder zu lesen. Miller, Clarke, Conte, …aha, da war er ja : Mirra, Carlo. Automatisch fühlte er nach seiner Waffe.
Im Fernsehen lief irgendeine Talkshow. Der Talkmaster, ein bebrillter Mittfünfziger, redete und redete. Einzelne Wortbrocken wurden von Carlos Verstand herausgefischt, bevor die entsprechenden Schallwellen die Gelegenheit erhielten, zu verschwinden. „ ... die Wissenschaft ... zu schweben ... Musik ... zurück ...“
Er brütete vor sich hin. Es hatte keinen Sinn, sich noch was vor zu machen. Er war kaltgestellt, wurde schon seit Tagen an keinen Operationen mehr beteiligt, und die Mad Guys, die gemachten Leute der Colombo-Familie, gingen ihm aus dem Weg. Ob die was mitbekommen hatten? Mit der Omerta, dem Gesetz des Schweigens, war nicht zu spaßen. Der Bruch war schief gegangen, weil er Jenkins davon erzählt hatte. Wer konnte das wissen?
Dieser verfluchte irische Cop! Jenkins hatte ihn am Haken, einen zappelnden Wurm, der Informationen ausspuckte. So ging das nicht weiter.
Vielleicht, wenn er Lefty anrief? Der war ihm noch einen Gefallen schuldig. Vielleicht kriegte er dann wieder ein Bein in die Tür.
Und wegen Jenkins musste er was unternehmen. Aber allein. Einen Cop zu beseitigen war zu heiß für die Colombo-Familie.
Das Treppenhaus hielt, was das Äußere des Gebäudes versprach. Es stank nach Urin Das Treppengeländer war zerkratzt und einige Streben fehlten. Am Fahrstuhl hing ein Schild: „No working.“ Jemand hatte „fuck you“ darunter gekritzelt. In der trüben Flurbeleuchtung entfaltete sich ein Panorama aus Müllsäcken, Papiertüten, zerdrückten Zigarettenschachteln und leeren Flaschen. Von oben war das Keifen einer Frauenstimme zu hören.
Die Stufen knarrten unter Tonys Schritten. Als er in der zweiten Etage angelangt war, öffnete sich eine Tür und eine Frau mit strähnigen schwarzen Haaren lugte aus dem Spalt, den die Kette ließ, heraus.
Als sie ihn sah, zog sie den Kopf hastig zurück. Die Tür knallte zu.
Carlo packte die leere Flasche und stemmte sich aus dem zerschlissenen Sessel, um den Marsch durch die Korridorwüste zu seiner Bieroase in der Küche anzutreten. Plötzlich durchzuckte ein wahnsinniger Schmerz wie ein Blitz sein Gehirn. Er hatte das Gefühl, als würde sich schwarzer Sirup wie ein alles verschlingender Moloch in seinem Kopf ausbreiten und seine Augen heraus drücken. Der Schmerz ging so schnell vorbei, wie er gekommen war. Dafür stellte sich jetzt ein Empfinden ein, als würde er irgendwie neben sich stehen.
Seltsam – er hörte Musik. Die Stimme des Idols seiner Jugendzeit. Franky Boy sang in seiner unnachahmlichen Weise „Strangers in the Night“. Verdammt, er hatte völlig vergessen, wie sehr er diese Musik einmal gemocht hatte. Damals hatte er alle Platten von ihm gehabt, die Alben der Reprise Years, die Sachen mit Jimmy van Heusen und Don Costa ... Damals hatte es genügt, dass es „The Voice“ gab, um der Welt einen Sinn zu geben. Und war es heute anders? Es war verrückt, vollkommen verrückt. Seine Augen wurden feucht. Er hatte keine Angst mehr.
Die Musik wurde leiser, Sinatras Stimme verklang.
Carlos Blick fiel auf einen Fremden, der es sich auf seiner Couch bequem gemacht hatte. Auf Gesicht und Gestalt des Fremden lag es wie ein Schatten. Instinktiv wusste Carlo, mit wem er es zu tun hatte.
„Sie sind der Tod, nicht wahr. Es ist also soweit“, sagte er.
„Mach dir keine Gedanken“, sagte eine knarrende Stimme. „Nur ein Nahtoderlebnis. Na ja, bin ja auch nahe genug. Bist aber noch nicht dran, Kumpel. Ich warte hier auf jemand anderen.“
Es klingelte.
Der Fremde erhob sich.
Noch einmal drückte Tony auf die Klingel. Er hielt das Ohr an die Tür. Schritte waren zu hören.
„Wer ist da?“, fragte eine dumpfe Stimme.
„Hier ist Tony. Lefty hat mir deine Adresse gegeben. Hör mal, Carlo, ich hab da ‘ne Sache am Laufen. Können wir reden?“
Der Schlüssel wurde von innen herumgedreht. Tony holte die Beretta aus dem Halfter und fixierte die Mitte der Tür. Der Revolver lag gut in seiner Hand, kalt und schwer, so, wie er es mochte, ein perfektes Werkzeug.
Die Tür wurde geöffnet. Eine große schwarze Zielscheibe stand im hellen Rechteck des Türrahmens. Nicht zu verfehlen. Tony schoss. Der Knall der Explosion hallte durch das Haus. Dann hörte er es aus dem Schatten heraus lachen und wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte wie ein Stromstoß seine Brust und verschwand. Sein Körper wurde von einer nie gekannten Leichtigkeit erfasst. Voll hoffnungsloser Traurigkeit wimmerte eine Mundharmonika, wurde lauter und schriller, als fühlte das Instrument unsägliche Schmerzen. Vor ihm stand Charles Bronson und drückte ihm die Mundharmonika zwischen die Lippen. Nichts hatte mehr eine Bedeutung.