Seniors
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Das Loch
In Anlehnung an Franz Kafkas „Vor dem Gesetz“
Er grub tief, bemühte sich im fahlen Licht der Latüchte, das schwächlich auf den Lochboden kroch, um eine rechteckige, wenigstens längliche Form des Loches, versuchte, die Wände zu begradigen, was bei der nächtlich getränkten Feuchte ein schwieriges Unterfangen war. Wurzeln hackte er ab und schaufelte sie auf den Erdhaufen, der neben dem Loch mit jedem Spatenstich wuchs. Nur kurz verharrte er, sah mich böse an, als erwarte er, dass ich ihm helfe. „Ich weiß ja noch nicht einmal, wozu dieses Loch gut sein soll!“, protestierte ich. „Warum stehst du dann da und kuckst?“, fragte er. „Ich bin eben neugierig“, verteidigte ich mich. „Es ist ja immerhin mein gutes Recht, zuzusehen, wie jemand an einem öffentlichen Ort ein Loch aushebt.“ Daraufhin grub er weiter, schlug den Boden eben, glättete die Wände, wartete, und grub erneut; er hatte wohl befunden, es sei noch nicht tief genug. Bald drehte er sich erneut zu mir. „Ich weiß noch nicht, womit ich es füllen soll. Vielleicht werde ich es einfach wieder zugraben, wer weiß.“ „Dann wäre die ganze Arbeit umsonst gewesen“, entgegnete ich. „Ach, was weißt du schon davon! Wenn ich es gefüllt habe, kannst du wiederkommen und solange buddeln, wie du Lust hast, bis du gefunden hast, was ich vergraben habe.“ „Und was wäre, wenn du dann gar nichts vergraben hättest? Dann würde ich buddeln und buddeln, und doch nichts finden.“ „Das stimmt“, sagte er belustigt, stieg aus dem Loch, ging um mich herum und stieß mich hinunter. „Du warst von vornherein als Inhalt des Loches gedacht! Wenn man ein Loch aushebt, kommt immer jemand und will nachsehen, was sich darin verbirgt. Du kannst froh sein, dass ich es nicht tiefer gemacht habe!“