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Das Mädchen an der Hauptstraße

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23.03.2008
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Das Mädchen an der Hauptstraße

Es ist eine ausgebildete Meinung über das Verhalten und die Arbeit eines Beamten, dass er stets pünktlich zur Arbeit kommt und vor allem pünktlichst um halb fünf nach Hause geht. Morgens sieht der Otto-Normalverbraucher ihn am Kaffeeautomaten stehen und wenige Minuten später am Schreibtisch versteckt hinter der Bild-Zeitung sitzen, während vor der Bürotür Menschen in einer langen Schlange warten und um ihr Schicksal zittern. Er ist faul, bürokratisch und grundsätzlich arrogant gegenüber jedem Besucher.
Aber eins stimmt wirklich – wir haben einen geregelten Arbeitstag, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Wir haben sogar unsere Rituale, die wir jeden Arbeitstag sehr penibel durchführen. Man gewöhnt sich an die Routine. Das Gehirn schaltet ab und alles wird automatisch gemacht, ohne nachdenken, so wie es halt immer war. Nach vielen Dienstjahren ist man eingerostet und misstraut Veränderungen. Aber herzlos sind wir nicht. Weiß Gott nicht! Und was viele einfach nicht einsehen wollen: Wir sind genauso fühlende Menschen, wie diejenigen, die uns mit ihrem Anliegen gegenüber sitzen.

Eines Tages fiel sie mir doch auf. Mein Arbeitstag fängt um halb neun an, aber ich muss schon um viertel vor acht aus dem Haus, um genug Zeit zu haben, mich durch den morgentlichen Arbeitsverkehr zu kämpfen und nicht zu spät im Büro zu erscheinen. Ich bin 52 Jahre alt und habe zwei gesunde Töchter, die ihrerseits schon Familien gegründet und mir Enkel geboren haben. Meiner Frau gegenüber bin ich immer treu geblieben, aber keiner kann es mir verdenken, dass ich meinen Blick von einem jungen Mädchen nicht abwenden kann, wenn ich eine solche sehe.
Sie saß auf einer Bank, der vor einem zweistöckigem Einfamilienhaus stand, und schaute teilnahmslos auf die Straße. Das Haus selbst sah aus, als würde es lange Jahre nicht mehr bewohnt gewesen sein und bedurfte einer grundlegender Sanierung. Das Mädchen war eigentlich nicht besonderes hübsch, sie war klein und das einfache Kleid, das sie trug, wies Schmutzflecken auf. Ihre langen Haare schienen einen Kamm sehr nötig zu haben. Und doch hinterließ sie bei mir ein schwer zu fassendes Gefühl, als ich sie im Vorbeifahren bewusst anblickte. Ich sage ‘bewusst’, weil ich mich erinnern möchte, dass sie auch gestern dort so gesessen hat, und den Tag davor und den Tag davor, nur war sie wie ein Geist nur von meinem Unterbewusstsein wahrgenommen worden. Heute war es zum ersten Mal, dass ich einen direkten Blickkontakt mit ihr ausgetauscht habe.
Aber mehr als eine beiläufige Frage kam mir heute nicht in den Sinn, denn heute war ein Freitag und es bedeutete neben der angenehmen Nebenwirkung, dass heute keine Kundenbesuche zu erwarten waren, ungewöhnlich viel Arbeit zu erledigen war, und ich in einer miesen Laune zur Arbeit fuhr. Außerdem war ich sauer auf den Trecker, weil der mit zwanzig Sachen vor mir her dümpelte und ich ihn nicht überholen konnte.
Leonie, meine Arbeitskollegin, die für Asylangelegenheiten zuständig war, strahlte mich an, als ich durch die Bürotür hereinkam. Das konnte nur eins bedeuten und meine Laune war dadurch ganz in den Keller gefallen, die Arbeit, die zu erledigen ich mir heute vorgenommen habe, würde wohl bis Montag liegen bleiben müssen. Ich weiß ehrlich nicht, weshalb diese innere Boshaftigkeit den Geist der Frau bewohnte. Eigentlich hatte sie nette, gesprächsbereite Eltern, eine gute Erziehung genossen und war wohlhabend. Und sonst war sie immer zuvorkommend und hatte viele Freunde. Insgeheim vermutete ich ihren Übergewicht, den sie vergeblich loszuwerden versuchte als den Drahtzieher, dass sie ständig jemanden suchte, an dem Sie ihren Unmut auslassen konnte. Tage wie diesen hasste ich von ganzem Herzen.
Aber die Buchstaben des Gesetzes waren eindeutig und mussten befolgt werden, ohne dass unsere persönliche Meinung eine Rolle bei den gefallenen Entscheidungen spielen durfte. Also setzte ich mich schweigend in den Firmenbulli und wir fuhren mit einer Eskorte von fünf Polizeiwagen los. Leonie war sogar ausnahmsweise ruhiger geworden, weil sie wahrscheinlich beleidigt von meiner Ignoranz war. Mir war es recht so. Meine Gedanken beschäftigten sich zum Teil mit Tobias, der fröhlich auf dem Beifahrersitz vorne saß und sich mit dem Fahrer unterhielt. Diese Arbeit ist nichts für junge und unerfahrene Auszubildende. Hauptsächlich aber schaute ich aus dem Seitenfenster auf die vorbeiziehenden Häuser und Straßen und dachte über das Leben nach. Man stellt sich immer wieder dieselben Fragen und versucht vergeblich, eine Antwort darauf zu finden. Ich meine, irgendwo war auch Recht in den Buchstaben, aber wie ich bereits gesagt habe, herzlos sind wir nicht. Selbst Leonie mit ihrem Hass hat im Grunde gutes Herz. (Denn ich bin überzeugt, dass sie ihre Begeisterung dafür nur zur Schau stellt, sozusagen als Schild).
Es läuft immer auf die gleiche Art und Weise ab. Erst das Zielobjekt von allen Seiten umstellen, damit die Fluchtversuche rechtzeitig unterbunden werden können. Dann wird formhalber an der Tür geklingelt. Aber ich habe noch kein einziges mal miterlebt, dass die Eingangstür nicht gewaltsam aufgebrochen werden musste. Eigentlich wissen die Leute ganz genau, dass sie nicht einen Hauch einer Chance haben und es ist eine hilflose Trotzreaktion. Niko macht es immer mit einem tiefen Seufzer aber mit der Bestimmtheit eines Bären. Die Tür fliegt auf und das Haus wird gestürmt. Nur Sekundenbruchteile vergehen, bis wir auf Knien und mit Tränen in den Augen angefleht werden, aber sie verstehen nicht, dass wir genauso hilflos sind wie sie. Wir tun nur unsere Arbeit, wie man so schön sagt.

Heute regnete es, und war für einen Sommertag kalt und ungemütlich. Auch diesmal sah ich sie nur Bruchteile von Sekunden, als ich an ihr vorbei fuhr. Mein Kopf war noch immer voll mit schweren Gedanken und ich hatte außerdem Kopfschmerzen, obwohl ich die Abschiebung am Freitag so weit es ging verkraftet hatte. Obwohl ich es schon unzählige Male mitgemacht hatte, konnte ich nicht einfach so zusehen und am nächsten Tag so leben, als wäre nichts geschehen. Manchmal sehe ich ihre Gesichter, so wie jetzt, wenn die Scheibenwischer einen Schwenk vollenden und die Scheibe wieder mit neuen Regentropfen übersät ist. Ich sehe den Schmerz darin und dann muss ich jedes mal daran denken, dass wir sie mit unseren Händen dem Verderben überlassen, sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit der Verfolgung und dem Hungertod in ihrem Heimatland schutzlos ausliefern. Aber mir sind die Hände gebunden, so wie auch meinen Kollegen. Und dann machen die Scheibenwischer einen Schwenk nach rechts und ich sehe wieder die Straße vor mir.
Wie ich es vorausgesehen habe, hat Tobi es auch nicht verkraftet. Er saß in seiner Ecke im hinteren Abteil und war ungewöhnlich still. Das Hämmern auf der Tastatur hörte sich etwas monoton an, als ich mich neben ihm an meinen Arbeitsplatz setzte und den Computer hochfuhr. Auf mich wartete Arbeit, die ich am Freitag nicht erledigen konnte. Alles routinemäßiges Zeug. Leonie stellte mir eine Tasse Kaffee auf den Tisch und wünschte mir einen guten Morgen. Dann zögerte sie eine Weile und überreichte mir ein kleines Päckchen, das schön mit vielen Bunten Bändern verpackt war. Ein Geschenk für Melissa, meine älteste Tochter, die heute ihren einunddreißigsten Geburtstag feierte. Vielleicht war der Frau doch noch zu helfen, dachte ich insgeheim und bedankte mich herzlich bei ihr. Die nächste halbe Stunde sprach ich mit Tobias und versuchte ihn auf andere Gedanken zu bringen. Zeit heilt alle Wunden. Er muss sich nur auf sein Leben konzentrieren und seine Arbeit erledigen. Aber insgeheim glaube ich, dass dieser Job nichts für ihn ist. Er hatte noch eineinhalb Jahre, es sich vielleicht doch noch anderes zu überlegen.
Heute hatte ich viele Besucher gehabt, die mir gegenüber saßen und irgendwelche Anträge in die Hand gedrückt hatten. Einigen Anträgen konnte ich mit Freude stattgeben, andere werde ich bei Gelegenheit schonend ablehnen müssen. In Gedanken war ich schon bei meiner Tochter, die ich heute Abend bei ihrer Geburtstagsfeier sehen würde. Das war auch der Grund dafür, dass sich meine Laune zum Ende des Arbeitstages sich deutlich gebessert hatte und ich seelisch über dem Berg war. Leonie war kurz vor halb Fünf zu mir gekommen und bat mich, Melissa beste Grüße und viele Glückwünsche zu überbringen. Und ich las vieles in ihren Augen und in ihrem Verhalten, das in den kurzen Gesprächsfetzen unausgesprochen blieb. Ich versprach ihr, dass ich ihre Grüße ausrichten würde und das meinte ich ernst.

Das Mädchen saß auch am Dienstag auf der Bank. Ich fragte mich eigentlich, warum der Passanten oder Nachbarn oder wenigstens den Mitarbeiter des Kiosks nebenan sie überhaupt nicht zu beachten schienen. Mir fiel auch auf, dass ich noch nie die Eltern oder Erziehungsberechtigten des Mädchens gesehen hatte. Sie schien wirklich ganz alleine dort zu sitzen. Und als ich heute in ihre Augen blickte – dadurch, dass die Ampel Rot war, war der Verkehr stehen geblieben – blieb mir fast das Herz stehen und mir wurde kalt in dem ganzen Körper, so stark war die Mitteilung, die mir diese tote Augen übermittelten. Ich brauchte einige Augenblicke und wildes Gehupe von hinten, um zu bemerken, dass die Straße vor mir frei war.
Heute musste ich Leonie bei ihrer Arbeit helfen. Wir arbeiteten zusammen, wie in alten Zeiten. Mich überkam sogar Nostalgie und ich erinnerte mich an die wärmste Momente meines Lebens. Sie war schlank und schön. Und dazu noch unheimlich intelligent. Ich erinnere mich gerne an unsere erste Nacht in der Scheune meines Vaters. Damals waren wir jung und sorglos; genossen die Freiheit und die Liebe. Und wenig später kamen die Hochzeit und das erste Kind. In meinem Haus sind noch viele Sachen von Leonie geblieben. Sie hat sie vergessen, oder einfach für unwichtig erachtet. Aber für mich sind sie heute noch fest ans Herz gewachsen. Und dann sah ich ein vertrautes Gesicht auf dem Monitor und jede Zelle meines Körpers erstarrte. Ich glaube sogar, dass sich kalter Schweiß auf meiner Stirn gebildet hatte.

Ich wusste nicht, was ich tat. Irgendwie lief es, als würde mich jemand fernsteuern. Meine Hände und Füße schienen Eigenleben entwickelt zu haben. Ich glaube, ich habe damals sogar den Computer nicht heruntergefahren, was ich als gewissenhafter Arbeiter eigentlich immer tue. Als wäre ich ein Beobachter, sah ich mir zu, wie ich ins Auto stieg und das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrückte. Die quietschenden Reifen hörte ich nicht mehr, weil mein Gehirn mit einem Problem beschäftigt war, für das ich nicht die leiseste Idee hatte, wie ich es lösen sollte. Hingegen wusste ich ganz genau, dass ich keine Zeit mehr hatte.

Im Nachhinein war es pures Glück, dass ich keinen Unfall gebaut oder verursacht hatte. Ich glaube, Gott war mir in diesen entscheidenden Sekunden gnädig. Und eins zählte – dass ich rechtzeitig an der Hauptstraße angekommen bin. Und nun, in dem Wissen, dass ich etwas Gutes getan hatte, kann ich mich, als während ich hier in einer etwa vier mal vier Meter großen Kammer sitze und mein restliches Leben friste, getrost an die Wand lehnen und mich entspannen … Ach ich glaube es läutet schon zum Mittagessen. Heute gibt es gebratene Kartoffeln mit Schweinefilet.

 

Hey Sonde53935,

Du solltest den Text unbedingt mal jemanden laut vorlesen, oder ihn Dir vorlesen lassen. Da sind viele Sachen drin, die Dir sicher auffallen werden.

Solche z.B.:

... aber keiner kann es mir verdenken, dass ich meinen Blick von einem jungen Mädchen nicht abwenden kann, wenn ich eine solche sehe.

... ein solches ...

Sie saß auf einer Bank, der vor einem zweistöckigem Einfamilienhaus stand, ...

..., die vor einem ...

Und doch hinterließ sie bei mir ein schwer zu fassendes Gefühl, ...

... in mir ...

u.s.w. Auch die RS benötigt sicher noch ein wenig Nacharbeit ;).


Zu der Geschichte an sich. Ich verstehe sie nicht.

Ich habe Frau, Kinder, Enkelkinder ...

Meiner Frau gegenüber bin ich immer treu geblieben, ...

und am Ende war er doch mit Leonie zusammen, die ihn verlassen hat? Da gibt es ja noch Sachen in seinem Haus von ihr?

Ich weiß auch nicht, wen oder was er auf dem Monitor erblickt, dass er losrast und dafür in die Zelle zieht? Wenn sieht er, was tut er? Ich finde keine Antwort. Und was hat es mit dem Mädchen auf sich? Welche Rolle spielt sie für ihn, außer dass er sich im morgentlichen Vorbeifahren um sie sorgt?

Verwirrte Grüße :)
Fliege

 

Hallo Frage,

dann hoffe, ich , dass ich ein wenig Klarheit breingen kann:

und am Ende war er doch mit Leonie zusammen, die ihn verlassen hat? Da gibt es ja noch Sachen in seinem Haus von ihr?

Leonie ist seine Ex-Ehefrau. Deshalb ist er ihr auch treu geblieben. Eine Scheidung habe ich nicht explizit angegeben, sollte aber in der Luft schweben.

Ich weiß auch nicht, wen oder was er auf dem Monitor erblickt, dass er losrast und dafür in die Zelle zieht? Wenn sieht er, was tut er? Ich finde keine Antwort. Und was hat es mit dem Mädchen auf sich? Welche Rolle spielt sie für ihn, außer dass er sich im morgentlichen Vorbeifahren um sie sorgt?

Darauf habe ich eigentlich einen riesengroßen Wink mit dem Zaunpfahl gemacht. Erst mit dem Titel der Geschichte, dann immer und immer wieder das gleiche Gesicht, das er jeden Morgen sieht und schließlich das Ziel wo er am Ende hinfährt... Ich denke, da sollte doch ziemlich klarwerden, dass es sich um das Mädchen handelt, die abgeschoben werden soll und das er gegen das Gesetz von der Abschiebung rettet.

Ich kaue nicht so gerne alles durch. Ein Leser sollte ein wenig mitdenken, sonst ist es nciht spannend meinst du nicht? Bis jetzt haben alle von denen ich eine Rückmeldung bekommen habe, die richtige Lösung gefunden. (Aus anderen Foren) Ich wundere mich, warum du nicht, aber vielleicht liegts daran, dass du zu schnell gelesen hast?

Die Lebenssonde

 

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