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Das Mädchen aus der Grünstraße
Keuchend ließ Tim sich auf die Decke fallen. Die trockenen Grashalme pieksten in seine Unterschenkel. Das Kreischen und Lachen der Kinder, die im flachen Wasser plantschten, war selbst hier in der hintersten Ecke des Freibades noch zu hören. Wassertropfen perlten von seiner Haut, zogen in den flauschigen Stoff der Picknickdecke ein. Er schloss die Augen und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen, die sich wie ein wohliger Mantel um seinen Körper legte. Etwas sauste an ihm vorbei. Blinzelnd schaute Tim zur Seite. Ein paar Schritte von ihm entfernt beugte sich ein kleiner Blondschopf unbeholfen vor und hievte einen quietschgelben Wasserball über seinen Kopf. Mit hastig stolpernden Schritten lief der Kleine auf einen jungen Mann zu. Einen Moment blieb Tims Blick an dem jungen Vater hängen, dann fiel ihm eine weitere Gestalt unter der großen Eiche auf. Tim betrachtete sie und stutzte. Dann erkannte er sie. Es war das Mädchen aus der Grünstraße. Allzu lange wohnte er noch nicht dort, doch auf dem Nachhauseweg war er schon mehrmals an ihr vorbei gelaufen. Jedes Mal saß sie auf der verwitterten Holzbank vor dem kleinen Springbrunnen und schien dem Plätschern des Brunnens ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Etwas faszinierte Tim daran wie sie dort saß. Friedlich, schien mit der Welt im Reinen zu sein. Er fragte sich, ob sie eine andere Welt sah als er, vielleicht eine schönere, eine bessere. Bisher hatte er nicht die richtigen Worte gefunden, um sie anzusprechen. Dem Versuch durch ein freundliches Lächeln Kontakt aufzunehmen, folgte keine Reaktion. Tim hatte dennoch nicht das Gefühl, dass sie ihn ablehnte, eher dass sie in ihren Gedanken versunken war. Seit er sie das erste Mal gesehen hatte, ertappte er sich immer wieder dabei, wie seine Gedanken zu ihr schweiften, verharrten, bis er sich wieder losreißen konnte in die Wirklichkeit.
Nun saß sie dort in einiger Entfernung auf der blütenweißen Decke, gescheckt von den Schatten des sich wiegenden Baumes. Die Beine an ihren Körper gezogen, schaute sie nachdenklich in seine Richtung, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ob sie ihn an- oder an ihm vorbeistarrte, konnte Tim nicht genau erkennen. Er beugte sich vor. Ihr langes haselnussbraunes Haar floss über ihre Schultern wie ein seichter Bach über Steine und Hölzer. Eine Silberkette blitzte an ihrem Hals hervor. Der Anhänger verschwand hinter den angewinkelten Knien, auf denen ihre schlanken Hände ruhten. Tim ließ seinen Blick über ihre makellosen Beine gleiten. Die zierlichen Füße waren unbeschuht. Er überlegte, ob jetzt die Gelegenheit war, sie anzusprechen. Ein Windstoß riss ihn aus seinen Gedanken. Reflexartig hielt er seine Kleidung fest, die er achtlos neben seiner Decke platziert hatte. Eine Wollknäuel landete vor seinen Füßen. Er beugte sich vor und nahm es an sich. Es war eine leichte Baumwolljacke mit großen roten Knöpfen. Tim blickte sich um. Dem jungen Vater würde sie wohl nicht gehören. Er sah wie das Mädchen die Decke abtastete und sich suchend umschaute. Tim wollte sich schon erheben, als sein Blick auf den Kugelschreiber fiel, der neben einer leeren Trinkdose lag. Er zögerte kurz, beugte sich aber dann zu seiner Tasche auf der Suche nach einem Stück Papier. Er fand eine Packung Taschentücher. Eins der Papiertücher zog er heraus und schrieb sorgfältig seine Handynummer darauf. Darunter setzte er seinen Namen. Das Tuch schob er in die Seitentasche der Jacke. Einen kurzen Moment dachte er sich, dass das albern sei, doch er war schon aufgestanden und schritt auf sie zu. Die trockenen Grashalme knackten leise unter seinen Füßen. Kurz vor ihr blieb er stehen. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Tim räusperte sich kurz. „Hallo, ist das deine Jacke? Die Windbö hat sie zu mir geweht.“
Das Mädchen hielt inne und starrte in seine Richtung. „Ich weiß nicht.“ Sie streckte ihre Hand aus. Tim reichte ihr die Jacke.
Ihre Hände glitten über den weichen Stoff. „Ja das ist meine.“, lächelte sie. „Danke.“
„Keine Ursache.“, sagte er schnell und überlegte, ob er das Gespräch nun weiter führen oder gehen sollte.
„Ich hab dich schon ein paar Mal gesehen, du sitzt oft auf der Bank vor dem Springbrunnen.“, sagte er schließlich und versuchte seiner Stimme Sicherheit zu verleihen.
Das Mädchen zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Ja das stimmt. Wohnst du dort?“
„Ja, etwas weiter die Straße runter. Ich heiße übrigens Tim.“
„Melissa.“
Eine Pause entstand. „Und, bist du alleine hier?“, wollte er wissen.
„Ja und nein. Eine Freundin ist auf dem Weg und holt mich gleich ab.“ Noch während sie sprach, klingelte ein Handy. „Oh entschuldige, einen Moment.“ Sie griff in die Tasche ihrer Capri-Hose und zog das Telefon hervor.
Tim trat einen Schritt zurück, private Gespräche gingen ihn nichts an. Doch seinen Blick konnte er nicht abwenden. Vom Nahen verzauberte sie ihn noch mehr. Er betrachtete lange ihr Gesicht, während sie redete. Sie hatte Grübchen, wenn sie lächelte.
Das Gespräch war schnell zu Ende und Melissa verstaute das Handy wieder in ihrer Hosentasche.
„Das war meine Freundin, ich muss jetzt gehen.“, sagte sie, während sie aufstand.
„Okay, dann will ich dich nicht aufhalten.“ Tim lächelte ihr aufmunternd zu.
„Dann mach’s gut. Hat mich gefreut.“
„Gerne geschehen, bis dann!“ Tim drehte sich um und lief zurück zu seinem Platz. Mit einem Grinsen ließ er sich auf die Decke fallen, erst jetzt bemerkte er wie schnell sein Herz pochte. Aus der Ferne sah er wie Melissa die Decke ausschüttelte und sie flüchtig zusammenlegte. Gezielt griff sie nach ihrer Tasche und öffnete sie. Sie holte einen kleinen Stab hervor. Tim beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. Mit geübtem Griff zog sie am unteren Ende des Stabes, sodass sich dieser verlängerte. Ein Stock. Ein Ruck durchfuhr Tim, er schluckte. Ein Blindenstock. Seine Gedanken überschlugen sich. Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr nachlaufen sollte, doch er sah nur noch, wie sie zwischen den Badegästen aus seinem Blickfeld verschwand.
Tim verbrachte seitdem viel Zeit am Springbrunnen in der Grünstraße. Er hoffte sie noch einmal wieder zu sehen, hoffte, dass sein Telefon klingeln würde. Hoffte. Wartete. Vergebens.