- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Das Mädchen und die Frau
Ich kam gerade vom Einkaufen und fuhr am Schulzentrum vorbei, als ich ein Mädchen, sitzend an ihr Fahrrad gelehnt, auf der kleinen Rasenfläche hinter dem Hülsparkstadion erblickte. Ein Rucksack stand neben ihr. Anscheinend kam sie gerade aus der Schule. Sie rupfte an einem Gänseblümchen. Im Vorbeifahren sah ich sie an. Sie bemerkte mich ebenfalls und schaute mir in die Augen. Sie trug eine Brille, die silbern und rot im Sonnenlicht schimmerte. Ihr blondes Haar trug sie schulterlang und vereinzelt konnte ich rote Strähnchen sehen. Der Wind hatte es schon ein wenig zerzaust. Schwarze Hose, blau- oranger Pullover, dann war ich schon vorbei. Was machte sie wohl dort um diese Uhrzeit? Es war zwanzig vor zwei. Die sechste Stunde war schon lange aus. Wieso fuhr sie nicht nach Hause? Schlechte Noten konnten nicht der Grund sein, die Sommerferien lagen gerade mal zwei Tage zurück. Nachdenklich überquerte ich die Straße und fuhr in Keylaer ein.
Ob sie wohl ein schönes Zuhause hatte? Glücklich hatte sie nicht ausgesehen. Sehr alleine und traurig hatte sie gewirkt. Vermutlich war sie sehr einsam.
Vielleicht waren ihre Eltern geschieden. Bestimmt hatte sie nicht mal Geschwister.
Wenn sie nach Hause kam, war die Mutter gewiss am Arbeiten und sie durfte irgendetwas aus der Mikrowelle essen. Und bei den Hausaufgaben half ihr auch niemand. Und abends, wenn die Mutter dann mal zu Hause war, war es nicht anders. Vielleicht wechselten sie zwei, drei Sätze, aber mehr auch nicht. Und das Mädchen durfte sich den ganzen Tag lang um den ganzen Haushalt kümmern und hatte auch gar nicht die Zeit, neue Freunde zu finden.
Ja, so war es wohl.
Ich rief mir ihren Blick, ihre Statur wieder vor die Augen. Sie erinnerte mich an jemanden. Aber an wen?
Nur noch ein paar Meter, dann würde auch ich zu Hause sein. Bei meinem Mann und den Kindern. Aber war es überhaupt mein Zuhause? Eine Bekannte von mir hatte mal gesagt: „Dein Zuhause ist nur da, wo du dich wohl fühlst!“
Fühlte ich mich neben einem dauernd besoffenen Mann und einer Reihe hyperaktiven und ungezogenen Kindern wohl? Nein, das war nicht mehr mein Leben. Vor Jahren vielleicht, aber jetzt...
Die Idee war mir bei Müller gekommen. Ich kaufte schnell eine Parabel, vier Tintenkiller und fünf Hefte und schwang mich aufs Rad. Das Schulzentrum war nicht weit weg, in fünf Minuten war ich da. Hoffentlich hatte mein Freund noch nicht Schulschluss.
Der Schulhof war verlassen. Die siebte Stunde hatte schon angefangen. In der Pause hatte er noch zu mir gesagt, dass sein Lehrer ihn zwanzig Minuten früher entlassen würde, da sie nur WPU II Wahlen hatten. Ich radelte zur kleinen Rasenfläche hinter dem Hülsparkstadion.
Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu ihm nach Hause. Ich stellte das Rad ab und setzte mich. Mehrere Leute fuhren vorbei. Überwiegend Ältere, die gemütlich vor sich hin tuckerten.
Aber schließlich sah ich eine Frau, die recht flott an mir vorbei fuhr. Ich ließ das von mir bearbeitete Gänseblümchen sinken und schaute sie an. Und obwohl sie sehr schnell fuhr, konnte ich mir ihr Aussehen genauestens einprägen. Sie wirkte ziemlich geschafft und fertig. Ihre Klamotten waren zwar ordentlich, aber nicht mehr ganz sauber. Sie hatte drei gefüllte Einkaufstaschen bei sich. Zwei am Lenker, eine auf dem Gepäckträger. Das Fahrrad schien alt und eierte ein wenig, allerdings kaum merklich. Wo sie wohl hinfuhr?
Vermutlich nach Hause, zu ihren Kindern und ihrem Mann. Das Haus war bestimmt schön und groß und hatte einen tollen Garten mit Terrasse und Planschbecken. Dort wurde sie bestimmt schon freudig erwartet. Vermutlich hatte sie Süßigkeiten für die Kleinen dabei und für ihren Mann seine geliebten Zigarillos. Sie würde die Taschen ausräumen, Essen kochen und mit den Kindern spielen. Und abends wird sie sich bestimmt mit ihrem Mann gemütlich vor den Fernseher setzten und RTL schauen.