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Das Meer ist zum Sterben schön
Jede Nacht sterbe ich, um mit dem Sonnenaufgang zu erwachen…
Mein Leben ist wie ein Herz mit Kammerflimmern. Eine immer kreisende Erregung findet statt, die elektrischen Impulse spielen verrückt. Meine Herzmuskelzellen kontrahieren völlig willkürlich und ungleichmäßig. Das ist mein Leben. Und man kann das nicht lange aushalten. Aber ich lebe dafür. Ich lebe, um zu sterben. Deswegen muss ich meinen Körper so belasten. Um an der Kippe zu stehen. Ich muss mich treiben lassen im Strom der Nacht. Ich fließe in den Kreislauf des Lebens hinein wie eine Blutzelle mit äußerst begrenzter Lebensdauer. Ich trinke, ich rauche, ich lache, ich nehme die Pillen, ich ziehe mir weißes Zeug durch die Nase. Und natürlich macht man sich sorgen. Aber es geht nicht anders. Ich muss sterben. Sonst komme ich nicht voran. Ich will fühlen, sonst ist mir kalt. Wie das Wasser, das hinter mir in der Brandung tobt. Ungefähr so kalt wird es mir. Und ich ertrage diese Kälte nicht mehr. Ich ertrage sie einfach nicht mehr. Deshalb muss ich mich in den Kreislauf des Lebens spritzen lassen. Deshalb muss es weh tun. Sonst bin ich ein schlafender Vulkan, eine unverbrauchte Keimzelle, ein unaktiviertes Gen… Ich bin ein nichts. Ich muss versuchen die kreisende Erregung meines Herzens gelegentlich zu unterbrechen. Die Nacht ist der Defibrillator meines Seins. Die Drogen, der Strom, der Rauch, die Menschen, das Gelächter… Nur dann sehe ich klar. Nur dann sehe ich überhaupt was.
Die Party ist schon lange vorbei, die Meisten sind heim, aber ich sitze noch immer hier und beobachte das Lagerfeuer, das vor im Sand mit dem Tod kämpft. Das Feuer hat uns lange mit seiner Wärme und Licht gedient, doch bald wird es sich den Gesetzten der Chemie beugen müssen. Und trotzdem bewundere ich dieses Feuer. Aber nicht für die hohen hellen Flammen, die er vorhin voller Stolz spielen ließ. Nein, ich bewundere ihn für die Kraft, die jetzt noch in ihm steckt. Es hat doch das Feuer auf Deutsch, oder? Also das ist mir völlig egal, denn dieser Feuer hier ist eindeutig männlich. Das sehe ich ihn an. Und ich bewundere ihn. Auch in diesem Stadium seines Lebens vermag das Feuer mit seinem Glut mir die Hände zu verbrennen, und – dafür bewundere ich ihn am meisten - auch jetzt noch kann er neues Leben in die Welt setzten. Ich stelle mir vor wie kleine Feuersporen von dem Wind davongetragen werden und wie sie weit hinter der Sanddüne in den Feldern ein neues Feuer zum Leben erwecken. Ich sehe wie mein altes Lagerfeuer voller Stolz grinst und seinen ungestümen Sohn beim leichtsinnigen Spiel mit den Flammen beobachtet. Wie er lächelt und sich freut, dass sein Sohn so groß und stark geworden ist, dass er so weit und hell scheint. Und natürlich macht der Sohn Fehler, natürlich kann er seine Kraft nicht richtig einschätzten, natürlich wird der ein oder andere noch seine Finger an ihm verbrennen. Ha Ha! Mein Lagerfeuer grinst fürchterlich bei diesem Gedanken.
Ich bewundere mein Lagerfeuer, aber ich bin nicht so wie er. Denn mein Lagerfeuer ist ein alter Mann, der zurückblicken und lachen kann, der sich noch bis zu seinem Tod an den Flammen seines Sohnes erwärmen wird. Ich bin aber jung. Sehr viel jünger als ich es bin kann fast man gar nicht sein. Ich bin jung wie Eiskrem, und Bikinis, und Fußball. Ich bin jung wie alles, dass einmal war, und nicht wie alles, dass nicht mehr ist. Und trotzdem fühle ich mich alt und verbraucht und abgenützt. So als ob die Welt sich seit Jahren mit mir den Arsch abputzt. Ich fühle mich noch viel älter als das Feuer. Irgendwo in ihm steckt noch diese fürchterliche Hitze. Und in mir? Ich bin kalt.
Die Menschen, der Rausch der Sinne, die Anmachen, die Erotik, die Musik, der Wein… Ich fühle jetzt wie ich diesen Kreislauf verlasse. Die Kälte des Nachts bricht jetzt über mich herein. Ich klammere mich an meiner Bierflasche fest mit all meiner Macht, um den Sturz abzuhalten. Aber ich werde weggezogen, hinein in die Flut, hinein in die wütende Brandung.
Wie jede Nacht.
Ich schmeiße meine Bierflasche weg und renne so schnell ich kann. Ich renne weg von dem Feuer, und den Menschen, und dem Wein. Ich will ans Ende der Welt. Ich bin jetzt nicht mehr im Kreislauf drin. Und nun stehe ich am Meer und merke wie sein salziger Geruch durch meinen Körper strömt. Der Ozean will mich wie eine schöne Frau. Und ich will auch sie. Ich will in ihrer aggressiven Kälte baden, um endlich den Kreislauf für immer verlassen zu können. Ich weiß nicht mehr wie lange ich es aushalte kann, dieses Leben. Sogar wenn ich im Kreislauf drin bin, fühle ich wie sie an mir zerrt. Diese Mittel zum Ausschalten wirken zwar wunder, aber nur für kurze Zeit. Am Ende stehe ich doch immer hier, bei ihr, und lass mich mit von ihrem salzigen Geschmack verführen. Aber noch konnte ich sie widerstehen…
Man fragt sich, wie es dazu kam, dass ich immer hier stehen muss? Welche Umstände wohl dazu geführt haben? Was für Eltern ich hatte, würden die Psychologen wohl fragen. Wie diese Mittel wohl auf mich wirken? Aber das ist alles Quatsch. Das hier ist das, was ich schon immer wollte. Schon seit ich denken kann will ich mich ihr übergeben. In meiner Welt ist das Meer eine Frau und sie ruft schon immer nach mir. Heute Nacht ist sie schwarz und dunkel und böse. Und sie lächelt mir zu wie eine Bestie an ihrem Hochzeitstag. Sie hat lange schwarze Krallen und Riesenfangzähne und ich finde sie wunderschön. Ich will mich von ihr fressen lassen. Ich verlange nach dieser Erlösung, und sie verlangt nach mir. Und ich weiß, dass ich nicht alleine bin. Die Bestie ist die Quelle der Inspiration für alle Romantiker. Sie ist das Ziel von Touristen aus aller Welt. Und sie ist der Ursprung allen Lebens. Alle wollen in sie eindringen. Noch lange bevor es die Liebe gab, gab es diese stürmische Brandung…
Ich weiß genau, hätte ich früher gelebt, oder wäre ich unter andren Umständen aufgewachsen, dann wäre ich ein Seemann geworden, oder ein Pirat, oder zumindest Fischermann. Hauptsache die Nähe zu ihr. Und ich wäre immer weiter raus gefahren, immer tiefer in sie eingedrungen, bis sie mich irgendwann nicht mehr los gelassen hätte. Ja, das war schon immer mein allergrößte gewesen: Bis ans Ende der Welt zu segeln. Ich wäre der erste gewesen, der mit Columbus an Bord gestiegen wäre, und der letzte, der sich gefreut hätte, Land zu sehen…
Ich spüre wie mir immer kälter wird. Der Wind zerrt an meiner Jacke und zersaust meine langen Haare. Meine Füße sind aufgeweicht und tief im Sand versunken. Ich muss nur ein paar Schritte nach vorne wagen. Nur ein paar lockere Schritte nach vorne und mein Wunsch wird erfüllt. Dann bin ich für immer mit ihr vereint… aber noch tue ich es nicht.
Denn jetzt kommt meine Rettung und ich weiß, dass ich zumindest noch ein Tag auf dieser Erde aushaaren muss. Die Sonne erhebt sich über dem Horizont. Die Dunkelheit verschwimmt über das Wasser zu einem blassen Blau. Und mir kommen die Tränen. Es ist noch zu früh. Noch viel zu früh. Die Bestie wird auf mich warten müssen, denn jetzt ist die Sonne da, und die Sonne ist mein Freund. Keine Vaterfigur, keine Autorität, kein Objekt der Begierde…
Einfach nur ein Freund. Jemand, der mich begeleitet, der nicht immer Zeit für mich hat, aber doch oft. Jemand, der es weiß, mir ein Lächeln auf mein Gesicht zu zaubern. Der Ozean kann warten. Und er wird warten.
Bis ich nicht mehr kann.