- Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
- Kommentare: 17
Das Menetekel
1. Jerusalem
Im Studierzimmer des Rabbi Meir herrscht staunenswertes Chaos und allgegenwärtiger Verfall. Ein modriger Geruch entströmt Hunderten von wahllos aufeinander getürmten, uralten Büchern und Manuskripten. Die abgestandene Luft enthält zusätzlich eine säuerliche Komponente, deren Ursprung vermutlich in der mangelnden Körperpflege des Schriftgelehrten zu suchen ist. Abwechselnd wirft der alte Mann prüfende, misstrauische Blicke auf die Papiere in seiner Hand und auf seinen ungewöhnlichen Besucher.
„Hören Sie, Abbe´ Barruel,“ sagt er dann mit knarrender Stimme, „ wollen Sie sich einen Scherz auf Kosten eines armen, alten Rabbiners erlauben? Diese Protokolle und Berichte hier sind absolut unglaubwürdig, hahnebüchen, geradezu haarsträubend! Allerdings muss ich trotz deren thematischer Absurdität zugeben, dass sie in einwandfreiem Althebräisch verfasst sind. Bemerkenswert. Woher stammen diese seltsamen Texte?“
Der Pater in seiner Benediktinerkutte rutscht auf dem abgeschabten Ledersessel herum.
„Sie haben ganz Recht, verehrter Rabbi, diese Texte sind tatsächlich nur als Scherz gedacht, sie sind Teil eines Spieles, das in hohen klerikalen Kreisen hinter den Mauern des Vatikan leidenschaftlich kultiviert wird; so etwas wie ein intellektueller Wettkampf, eine Art scholastisches Moorhuhn-Schießen, verstehen Sie?“
„Scholastisches Moorhuhn-Schießen?“
Der Rabbi versteht nicht.
„Es ist ein Detektiv- und Verwirrspiel.“
Der Baal Shem schüttelt seinen Kopf in deutlichem Missfallen und zwirbelt ungehalten den spärlichen, grauen Bart an seinem Kinn.
„Ich habe meine Zeit nicht gestohlen,“ sagt er dann brüsk und nimmt die riesige Hornbrille ab. Seine kleinen Augen sind alt und trübe, aber ihr Blick ist wach. Der Abbe´ lächelt weiter, sichtlich um Bescheidenheit bemüht.
„Es liegt uns fern, Ihre kostbare Zeit zu stehlen, verehrter Professor. Auch wenn es ein Spiel ist, so legen wir trotz allem größten Wert auf wissenschaftliche Genauigkeit und Kompetenz. Ihre Übersetzung dieser hebräischen Schriften in’s Französische hat für uns den Stellenwert einer wissenschaftlichen Expertise und ist dementsprechend hoch dotiert.“
Der Rabbi hört sofort auf, seinen leidgeprüften Bart zu misshandeln.
„Ah ja, tatsächlich?“
„Sind Sie mit einem Honorar von fünfzehntausend Euro einverstanden? Die Hälfte als Anzahlung in bar und sofort.“
Wie ein levantinischer Sonnenaufgang erscheint ein breites und freundliches Lächeln auf dem Gesicht des Rabbi. Es enthüllt zwei fehlende Schneidezähne und einen Goldzahn im Unterkiefer. Entschlossen setzt er seine verschmierte Brille wieder auf.
„Einverstanden. Unter einer Bedingung: Eine Quittung kann ich Ihnen genauso wenig ausstellen wie ich meinen Namen unter diese Translationen setzen werde, werter Herr Abbe´! Mit Verlaub, diese Papiere hier sind ja offensichtlich Fotokopien von...hm, äh...vermutlich echt antik aussehenden Papyrusstücken. Ich muss mich natürlich ernsthaft fragen, ob Ihre Brüder nicht im Begriff sind, dieses hochgelehrte Spiel ein wenig zu sehr auf die Spitze zutreiben. Scholastisches Moorhuhn-Schießen! Ich beglückwünsche Sie zur Erfindung dieses sinnentleerten Ausdrucks. Ihre Offenheit ehrt Sie, obwohl sie mich verwirrt. Und wer sind Ihre fiktiven Gegenspieler? Atheisten? Andersgläubige? Ketzer? Möglicherweise Gegner aus den eigenen Reihen, die Jesuiten oder das Opus Dei? Vielleicht sollten Sie und Ihre gelangweilten Brüder sich besser mit dem Studium der Thora befassen, dann bliebe Ihnen nämlich keine Zeit mehr für solche hochfahrenden Koketterien.“
Der Abbe´ zeigt unbeirrt sein sanftes Lächeln, nur ganz kurz blitzen Schalk und Kampflust auf in seinen braunen Augen.
„Ein harsches Urteil, wenn Sie gestatten, verehrter Rabbi Meir. Wir ziehen es vor, in dem Spiel durchaus einen potentiellen Nutzen zu sehen. Betrachten Sie es doch schlicht im Sinne einer Rettungsübung, die ja auch dem Unvorhersehbaren, dem Undenkbaren entgegentreten soll.“
„Meinetwegen,“ sagt der Rabbi ergeben und zählt sorgfältig die bunten Geldscheine.
„Mir kann’s ja egal sein. Kommen Sie in acht Tagen wieder. Und vergessen sie das restliche Geld nicht!“
2. Heidelberg
„Bitte geben Sie sich keine allzu große Mühe, ich verstehe von der Materie nicht das Geringste, verehrte Frau Professorin,“ sagt Hochwürden Ägidius Münzhuber mit gespielt resignierter Stimme zu der Quanten-Physikerin Rosemarie Dupont. Sie führt ihn und seine zwei priesterlichen Begleiter gerade durch die Laser- und Zeitpufferkulissen ihres Forschungslaboratoriums. Völlig unbeirrt fährt sie mit ihren Erklärungen fort.
„Wir haben hier eine Apparatur entwickelt, die ihre bemerkenswerten Eigenschaften dem Phänomen des sogenannten >Bose-Einstein-Kondensats< verdankt.“
Münzhuber als promovierter Physiker weiss sehr wohl, wovon die dunkelhaarige, resolute Frau im Augenblick spricht. In seiner Eigenschaft als Vertreter des Vatikan ist es jedoch angebracht, vorerst die Maske des einfachen Gottesmannes zu tragen.
„Ich weiss nicht, was das für ein Kondensat ist, aber es klingt ganz so, als würde es sich dabei um das Manna oder zumindest eine Hostie ihrer hochgeschätzten Physiker-Zunft handeln, nicht wahr, meine lieben Brüder?“
Frau Professor Dupont lächelt mit schmalen Lippen, kurz und freudlos.
„Vor beinahe fünfzehn Jahren ist zum ersten Mal der praktische Nachweis dieses Kondensates gelungen, in dem man eine Vorrichtung zur Verlangsamung von Lichtwellen entwickelt hat. Man entdeckte, dass Lichtwellen, deren Geschwindigkeit unter die bekannte Konstante absinkt, sich in Materie verwandeln.“
„Und Gott der Allmächtige sprach: Es werde Licht,“ ruft Hochwürden erfreut aus und reibt sich die Hände.
„Die Genesis liegt somit ganz auf der Linie der modernen Physik oder wohl besser umgekehrt, habe ich Recht, Frau Professor?“
Er hat Recht. Der Frau Professor ist das ziemlich egal. Sie nickt kaum wahrnehmbar mit dem Kopf.
„Mir und meinem Forschungsteam ist es nun gelungen, genau das Gegenteil zu erreichen, nämlich Lichtwellen über ihre normalerweise absolut konstante Geschwindigkeit hinaus zu beschleunigen.“
„Was Sie nicht sagen! Und was ist das Ergebnis solch einer Beschleunigung? Haben sie Erbarmen mit uns weltlich-ignoranten Kirchenmännern,“ sagt Hochwürden kläglich.
„Nun, das Ergebnis ist die Schaffung eines zeitlosen Raumes, einer künstlichen Ewigkeit, wenn sie so wollen. In letzter Konsequenz entsteht sogar vermutlich so etwas wie Geist, Geist im Sinne von Spirit, verstehen Sie? Im Moment sind wir allerdings von der wirklichen Ewigkeit noch ein ordentliches Stück entfernt, vom Geist noch viel weiter, leider. Aber eine Art Kompression der Zeit, eine Stauchung ihres linearen Ablaufs ist mit den verhältnismäßig einfachen Mitteln, die sie hier sehen, einwandfrei möglich geworden. Das wiederum bedeutet, dass mit gewissen Einschränkungen eine Art Zeitmanipulation durchaus keine Utopie mehr ist. Eine dieser Einschränkungen scheint zu sein, dass eine Beschleunigung und damit Verkürzung des Zeitstrahles nur in Richtung Vergangenheit funktionieren kann.“
„Donnerwetter,“ sagt Hochwürden, „wollen sie damit sagen, dass Zeitreisen in die Vergangenheit möglich sind?“
Seine Begleiter rücken nervös die Brillen auf ihren Nasen zurecht, ihre Augen fixieren die spröden Lippen der Physikerin.
„Genau das will ich damit nicht sagen, meine Herren. Vor allem das Wort >Reise< wäre wohl eine schlecht gewählte Bezeichnung. Reise impliziert die Bewegung von lebendigen Körpern und menschlichen Individuen, aber so weit sind wir noch lange nicht. Wir können im Grunde genommen bis jetzt nur gewisse Formen von Materie mit geringer Dichte und Volumen in die Vergangenheit transportieren, Geruchsmoleküle und Gase zum Beispiel, Farbpigmente und Ähnliches.“
Hochwürden Ägidius Münzhuber führt wie in ungläubigem Staunen seine Hand zum Mund, bedeckt seine Lippen mit den gespreizten Fingern. In Wahrheit fliegen seine Gedanken.
„Wenn ich nicht genau wüsste, dass Gott allmächtig ist und seine Absichten unergründlich, würde ich vermutlich sagen, das ist reine Hexerei. Seien sie froh, dass die Zeiten der Inquisition schon so lange vorüber sind, meine Liebe.“
„Da bin ich mir manchmal gar nicht so sicher,“ sagt Frau Professor Dupont sarkastisch. Ihr Lächeln ist wieder nur kurz, fast ein wenig bitter. Hochwürden zieht es vor, auf ihre Bemerkung nicht näher einzugehen.
„Tja, der Mensch greift nicht nur nach den Sternen, sondern auch nach göttlicher Macht. Unsereins fragt sich natürlich, wohin uns diese Forschungen noch führen werden. Wie sehen sie die zukünftige Entwicklung ihrer eigenen Forschungsarbeit, Frau Professor? Ich meine, mit welchen Ergebnissen rechnen sie in absehbarer Zeit? Wird der Mensch irgendwann in die Vergangenheit reisen können, wie es ihm beliebt?“
„Nach den heutigen Erkenntnissen dürfte es ziemlich ausgeschlossen sein, dass jemals ein Mensch durch die Zeit reisen wird. Die entstehenden Paradoxa sind einfach zu groß und würden vermutlich sogar die Grundfesten des Raumzeit-Kontinuums zerstören. Aber, wie gesagt, gewisse Manipulationen im Sinne einer Veränderung von Ursache und Wirkung sind vermutlich jetzt schon machbar – damit habe ich mich noch nicht näher befasst - aber diese Technik steckt ja auch noch in den Kinderschuhen. So wie es momentan aussieht, werde ich meine Forschungen ohnehin bald einstellen müssen. Sie haben sicherlich von den neuen Gesetzgebungsrichtlinien der Ethikkommission des Europaparlamentes gehört, die demnächst zur Verabschiedung vorgelegt werden. Wissen Sie, als es damals um die Gentechnik ging, waren die Herrschaften nicht so zimperlich. Kurz gesagt, man hat mir vorerst die finanziellen Mittel für meine Arbeit gestrichen und auf Eis gelegt. Wahrscheinlich werde ich bald wieder optoelektronische Systeme für Multimedia-Anwendungen konstruieren müssen, um mir meine Brötchen zu verdienen.“
Ohne große Mühe gelingt es Hochwürden, einen betroffenen Gesichtsausdruck zur Schau zu stellen, obwohl er innerlich triumphiert. Seine schwarzgekleideten Begleiter nesteln aufgeregt an ihren Brillen herum.
„Die Bibel sagt, der Mensch soll sich die Welt untertan machen, einzig aus diesem Grunde hat Gott ihn mit Intelligenz und Wissbegier ausgestattet. Die Welt des Menschen ist aber nicht nur der Planet Erde, sondern der gesamte Kosmos, in dem er lebt. Auch die wissenschaftliche Erkenntnis ist letztlich ein Weg zur Erleuchtung, nicht allein Gebet und Kontemplation führen zu Gott!“
„Sie überraschen mich sehr, Hochwürden Münzhuber! Ist das nur Ihr persönlicher Standpunkt oder neuerdings auch die offizielle Position der katholischen Kirche? In den Augen des Klerus sind die Naturwissenschaften doch schon seit Jahrhunderten grundsätzlich ein Werk des Teufels, wenn ich mich nicht sehr irre.“
„Nun, alles ist im Fluss, alles wandelt sich unaufhörlich, warum nicht auch die Kirche, meine Liebe? Leben heißt Veränderung, und Kirche und Papsttum sind immer noch höchst lebendig, dessen kann ich sie versichern.“
„Da muss mir wohl irgendetwas entgangen sein,“ murmelt Frau Dupont trocken und steckt die Hände in die Taschen ihres Arbeitskittels. Sie legt die kluge Stirn in Falten, ihr Blick wird prüfend und ein wenig spöttisch.
„Wenn die Kirche tatsächlich so interessiert an naturwissenschaftlichen Forschungen ist, warum unterstützt sie dann solche Bemühungen nicht auch in praktischer Hinsicht? Die Kirche verfügt doch über enorme finanzielle Mittel!“
Hochwürden Münzhuber zeigt sein allergütigstes Hirten-Lächeln. Seine schweigsamen Begleiter tauschen hoch erfreute Blicke durch die blank geputzten Gläser ihrer goldumrandeten Brillen.
„Sehen Sie, Frau Professor Dupont, genau deswegen sind wir heute zu Ihnen gekommen. Ich bin von höchster kirchlicher Autorität befugt, Ihnen ein interessantes Angebot zu unterbreiten. Ein Arrangement, das es Ihnen ermöglichen würde, ihre wertvolle Arbeit in Ruhe fortzusetzen.....
3. Rom
Papst Clemens der Fünfte ist übernächtig und verspürt bedrohliche Magenschmerzen. Die Bürde seines Amtes scheint ihn an diesem frühen Morgen im August 1307 noch tiefer in seinen Amtssessel zu drücken als gewöhnlich.
„Wie sollten wir Eurer Meinung nach auf diese unerhörte Provokation des französischen Königs reagieren, Bruder Nuntius,“ sagt er mit brüchiger Stimme zu seinem Sekretär, „Wir können doch nicht tatenlos und schweigend zusehen, wie dieser gottlose Phillip der Schöne den größten Teil des Templerordens zerschlägt! Er hat alle hochgestellten Ritter in den Kerker der Bastille werfen lassen und sämtliche Komptureien und Vermögenswerte des Ordens in Frankreich beschlagnahmt, er spuckt damit auf das vertragliche Recht und die Autorität des Heiligen Stuhles, nur um mich, Papst Clemens, zu demütigen! Nun, was dieser König für ein Mensch ist, das wissen Wir schon länger: Er ist ehrlos, heimtückisch, geldgierig, machthungrig und zu allem fähig. Er ist also durchaus berechenbar, nicht wahr? Aber was für ein Mensch ist der Großmeister des Templerordens von Jerusalem, dieser Ritter Jaques de Molay?“
Der päpstliche Nuntius zerrt nervös und unbehaglich an den dürren Fingern seiner linken Hand. Er ist der wichtigste Berater des Pontifex, ein Ratgeber, der dem Papst ausgerechnet in dieser wichtigen Angelegenheit noch keinen vernünftigen Rat weiss.
„Jaques de Molay ist ein aufrechter Mann und ehrenwerter Ritter von nur mäßig religiösem Eifer und geringer Bildung, Eure Heiligkeit. Die komplizierte Situation der politischen Machtverhältnisse Europas und die Stellung der römischen Kirche darin sind ihm ziemlich fremd, fürchte ich. Wohl ist er des Schreibens und Lesens der französischen Sprache kundig, nicht jedoch des Lateinischen. Dafür beherrscht er die Sprache der Sarazenen, wie man hört. Jedenfalls soll er die prächtigsten arabischen Flüche bei seiner Verhaftung ausgestoßen haben. Er ist ein tapferer und kampferprobter Ritter, heiliger Vater, aber er ist kein Mann von politischem Verstand und diplomatischem Geschick; es gebricht ihm leider obendrein an Gewandtheit der Rede. Dummerweise kennt er als Großmeister nicht nur die Natur und Bedeutung des Templerschatzes, sondern auch dessen geheimes Versteck.“
„Also ist auch er berechenbar, Eurer Meinung nach,“ sagt Papst Clemens müde. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fallen auf den Ring des Fischers an seiner schlaffen Hand, erwecken das gediegene Gold zu rötlichem Glanz. Der Nuntius starrt auf das Insignium der Macht, als besäße es die magische Kraft der Inspiration.
„Ich fürchte, er wird sich zunächst im Sinne der Anklage coram publico in den wichtigsten Punkten für schuldig bekennen, und er wird es sogar relativ guten Gewissens tun, selbst wenn die Vorwürfe nicht zutreffend sind. Um sich und die Ordensritter zu rechtfertigen und einer lebenslangen Haft zu entgehen, wird er vermutlich anschließend das Geheimnis der Templer dem König preisgeben. Phillip der Schöne wird mit diesem Faustpfand entweder die Institution des Papsttums und die Katholische Kirche kaltlächelnd zerstören oder, wenn er klug ist, uns noch unverschämter erpressen als die Templer dies die letzten zweihundert Jahre schon getan haben. Unseren Machtanspruch und vermutlich auch unseren Hals könnte nur ein Umstand retten - wenn das Versteck dieser vermaledeiten hebräischen Dokumente außerhalb Frankreichs läge“
Die eingesunkene und reglose Gestalt des schwachen Stellvertreters Gottes auf Erden erwacht zu neuem Leben. Ein Licht in der Dunkelheit?
„Das ist ein interessanter und beinahe tröstlicher Gedanke, mein lieber Nuntius! Die Tatsache, dass König Phillip den Prozess öffentlich führen lässt, könnte sich zuletzt vielleicht als Vorteil für uns erweisen. Wir könnten möglicherweise schneller sein als seine Soldaten und Agenten. Die Quelle der ewigen Bedrohung des Christentums ließe sich dann endlich ein für allemal aus der Welt schaffen. Was seid ihr doch für ein kluger Kopf!“
Der Sekretär verachtet die Schwäche des Papstes und im Grunde dessen ganze Person. Dennoch ist er stolz und glücklich, dem Pontifex in dieser schwierigen Lage ein wenig Optimismus einflößen zu können.
„Vielleicht wäre es weise, gewisse organisatorische Vorkehrungen zu treffen, Heiliger Vater. Ihr habt durchaus Recht, Schnelligkeit könnte entscheidend sein. Wir sollten eine zuverlässige Reiterstaffette aufstellen lassen, von Paris nach Marseille, dort ein oder zwei schnelle Schiffe bereithalten für die Fahrt nach Jerusalem. Desgleichen zum Hafen von Cherbourg, falls sich das Versteck des Schatzes in Portugal oder, wer weis, womöglich sogar in Schottland oder Britannien befinden sollte.“
Der Pontifex Maximus ist beeindruckt von der Pragmatik und dem Ideenreichtum seines Beraters. Und er ist erleichtert, also sagt er in salbungsvollem Ton:
„Diese dunkle Welt ist wahrhaftig das Werk eines rätselhaften Gottes, mein lieber Bruder. Nun gut – Euer Rat erscheint mir sinnvoll. Ihr könnt alles Erforderliche unverzüglich in die Wege leiten. Möge uns wenigstens die Vorsehung gnädig sein, wenn es Gott schon nicht ist.“
Der päpstliche Siegelring glüht jetzt beinahe kupferrot. Und dann beweist das heilige Geschmeide doch noch seine magische Kraft, denn der Nuntius hat plötzlich eine verblüffende Eingebung.
„Wenn Eure Heiligkeit gestatten, so hätte ich noch einen weiteren Vorschlag zu unterbreiten.“
„Sprecht, mein Bruder, ihr wisst, euer Rat ist mir stets willkommen!"
Die Ohren des Nuntius glühen nun beinahe ebenso kupferrot wie der Ring des Fischers.
„Ihr solltet euch ganz offen auf die Seite Phillips des Schönen stellen, indem Ihr Euch der Klage gegen den Templerorden anschließt. Das gäbe Euch die Möglichkeit, den rechtmäßigen Anspruch der Kirche auf die Güter und Schätze der Templer zu bekräftigen und würde die Kreise dieses Königs erheblich stören! Könnt ihr Euch seine Verblüffung und Verwirrung vorstellen, wenn ihr ihm so den Wind aus den Segeln nehmt? Phillip ist ohnehin nicht sonderlich beliebt bei den Königshäusern Europas sowie am Hofe des deutschen Kaisers und Ihr könntet ihn auf diese Weise politisch isolieren. Indem Ihr unabhängig von ihm Anklage erhebt gegen den Orden der Templer, klagt Ihr indirekt auch das rechtswidrige Vorgehen des Königs an und betont das Vorrecht der Kirche.“
„Auch ich bin höchst verblüfft, mein lieber Nuntius! Ihr seid wahrhaft ein Meister der politischen Strategien. Ohne Zweifel seid Ihr zu Größerem berufen. Ich werde auf der Stelle nach einem Schreiber schicken und auch den päpstlichen Kanonikus zu mir bestellen. Wir werden keine Zeit verlieren und dem König von Frankreich noch vor dem Beginn des Prozesses unsere päpstliche Bulle überreichen. Titel: >De pastoralis praeeminentiae<, über das Vorrecht der Kirche!“
Der Pontifex Maximus strahlt jetzt vor Begeisterung. Er legt seine beringte Hand auf die Schulter seines Sekretärs und beugt sich ihm vertrauensvoll entgegen. Seine Stimme wird leise, fast zu einem verschwörerischen Flüstern.
„Wir werden diesem Hurensohn Phillipp eines Tages die Eier abschneiden und sie ihm in sein Schandmaul stopfen, nicht wahr?“
Diesmal war es am Sekretär, über diese gänzlich unbekannte Seite des irdischen Vertreters seines obersten Dienstherren zu staunen.
4. Heidelberg
Frau Professor Dupont schüttelt bedauernd ihren Kopf und schaltet den Overhead-Projektor ab.
„Es tut mir leid, meine Herren, aber eine praktische Demonstration zum Beweis der Wirksamkeit dieses physikalischen Apparates ist leider nicht so ohne Weiteres möglich. Es scheint zwar in der Tat so etwas wie ein Naturgesetz zu existieren, das die Entstehung von eindeutigen Paradoxa – also von menschlichen Doppelgängern und dergleichen - durch Manipulationen des Raumzeitgefüges nahezu unmöglich macht, aber Sie sollten bedenken, dass selbst eine kleine Ansammlung von Atomen oder Molekülen – und mehr lässt sich unter keinen Umständen in die Vergangenheit schicken - unter gewissen Umständen die Ursache für einen Rattenschwanz von ungeahnten Konsequenzen sein kann, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen.“
Pater Münzhuber versucht sich vergeblich eine Ratte vorzustellen, die mit der Schnauze im Mittelalter wühlt, sich dabei ihren hungrigen Bauch am zweiten Millenium wetzt und mit der zitternden Spitze ihres haarlosen Schwanzes im selben Augenblick in die Zeitblase der Gegenwart hineinsticht, um damit warnend direkt vor seiner Nase herumzufuchteln.
„Alles, was wir beabsichtigen, ist die Übermittlung einer schlichten Botschaft in Wort oder Schrift, die seine Heiligkeit Papst Raffinger gemäß einer Eingebung durch unseren Herrn Jesus Christus verfasst hat. Sie muss unbedingt zum Wohle der gesamten Christenheit und zur Aufrechterhaltung des weltweiten Religionsfriedens einer relativ unbedeutenden historischen Persönlichkeit aus den Reihen des Klerus zur Kenntnis gebracht werden. Unseren umfangreichen Untersuchungen und Extrapolationen zufolge wird diese winzige und harmlose Korrektur den bekannten Gang der Geschichte so gut wie gar nicht beeinflussen. Wissen Sie, im Grunde genommen geht es einzig und allein um den Erhalt wichtiger Dokumente der Kirchengeschichte, deren damaliger Verlust dem Heiligen Stuhl samt Vatikan heute sehr große Probleme bereitet. In naher Zukunft könnte der katholischen Kirche sogar ein neuerliches Schisma drohen, eine weitere, blutige Spaltung der christlichen Glaubensgemeinschaft, damit einhergehend natürlich auch die spirituelle Desorientierung von Millionen gläubiger Christen in aller Welt.“
Der Pater fühlt sich gar nicht wohl in seiner Haut, denn er hantiert nicht mit seinen gewohnten spirituellen Werkzeugen; er fühlt, dass er im Grunde völlig blauäugigen Unsinn verzapft, dass er sich auf äußerst dünnem Eis bewegt. Und er weiss auch, dass sich die Zukunft selbst dann nicht vorhersagen lässt, wenn man die bekannte Vergangenheit beeinflussen kann.
Die Physikerin blickt ihn schweigend an. In ihren Augen liegt eine Mischung aus Unglauben und Mitleid. Hochwürden Münzhuber ist sich ziemlich sicher, dass im Augenblick auf seiner hohen Stirn in roter Leuchtschrift weithin lesbar die Worte ARMER VOLLIDIOT geschrieben stehen. Oder zumindest ELENDER HEUCHLER.
„Ich glaub‘ es einfach nicht,“ murmelt Frau Dupont. Dann erhebt sie sarkastisch ihre Stimme.
„Vielleicht sollte ich mich vorsichtshalber erst einmal ausgiebig mit dem Stammbaum meiner Familie befassen, meine Herren, bevor Sie von mir verlangen, mit einem Knopfdruck Ihre religionsgeschichtliche Marginalie zu korrigieren! Vielleicht war da ein Priester oder ein Kardinal im Spiel, ein Ordensritter oder zufällig ein französischer König, nicht auszudenken! Ich würde gerne ausschließen, dass einem meiner ehrwürdigen Oheime infolge jener korrigierten, klerikalen Marginalie der Schädel abhanden kommt. Womit wir übrigens auch schon das erste niedliche Paradoxon produzieren würden! Wenn ich deshalb gar nicht erst geboren werden würde, dann gibt es logischerweise auch dieses Experiment und diesen Apparat nicht. Wer kommt zuerst, die Henne oder das Ei?“
Noch bevor Hochwürden Münzhuber etwas entgegnen kann, ergreift der schmallippige Jesuiten-General Visconti das Wort. Mit kalten Augen blickt er die empörte Wissenschaftlerin an.
„Erlauben Sie mir einen kleinen Hinweis, verehrte Frau Professor? Wir sollten noch einmal folgende Tatsachen völlig klar stellen: Wir haben einen Vertrag mit Ihnen abgeschlossen - Sie forschen, wir bezahlen. Der Nobelpreis geht an Sie, die Nutzungsrechte für die Ergebnisse ihrer Forschungen gehören der Kirche, Sie erinnern sich? Wollen Sie an ihrem Projekt auch in Zukunft weiterarbeiten oder lieber nach hause gehen? Für den Fall dass Sie bleiben, kann ich Sie jedoch eines versichern: Wir werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – und wir sind da Profis, glauben Sie mir – Ihren Familien-Stammbaum durchleuchten und, wenn nötig, noch bis in das Jahr 1314 zurückverfolgen und dokumentieren. Es liegt wohl auf der Hand, Frau Professor, auch wir würden auf Ihre geschätzte Existenz in dieser Gegenwart nur sehr ungern verzichten.“
Das Gesicht Viscontis, die unheimlichen Augen, sogar die Stimme des Jesuiten erinnern Rosemarie plötzlich an Anthony Hopkins als Hannibal Lecter in dem alten Film >Das Schweigen der Lämmer<. Sie glaubt ihm jedes Wort, obwohl sie schwören könnte, dass der Abbe´ unter seiner bodenlangen Kutte einen Pferdefuß verborgen hält.
5. Jerusalem
Das Lächeln von Rabbi Meir, des Baal Shem von Königsberg, ist freundlich und einladend wie schon lange nicht mehr. Das kommt aber nicht nur daher, dass ein leidlich geschickter Dentist mittlerweile die hässlichen Zahnlücken in seinem Gebiss geschlossen hat, sondern auch durch die Anwesenheit eines höchst willkommenen Besuchers in seiner Studierstube.
„Ahh, mein lieber Abbe´ Barruel, wie schön, Sie wieder zu sehen! Kommen Sie, setzen Sie sich. Gerade eben bin ich mit den Übersetzungen für Sie fertig geworden, ganz wie versprochen. Nachdem sich jemand mit diesen Dokumenten scheinbar große Mühe gegeben hat, ist mir nichts anderes übergeblieben, als mir ebenfalls bei ihrer Übersetzung Mühe zu geben, ha, ha. Ich muss schon sagen, das Ganze ist ein ziemlich freches Bubenstück, alle Achtung! Als Jude habe ich zwar kein Problem damit, einen gewissen Herrn Jesus Christus vom Sohn Gottes wieder zu dem schlichten jüdischen Rabbiner degradiert zu sehen, der er nach unserer Überlieferung immer schon gewesen ist, aber ich kann mir vorstellen, dass die Glaubenskongregation der katholischen Amtskirche nur wenig Freude an diesen Texten haben würde, seien sie nun echt oder nicht. Wenn Jesus tatsächlich nicht am Kreuz gestorben ist, dann hätte Rom ein ernstes Problem, nicht wahr? Adieu, du schöne Mär vom Leidensopfer für die Sünden der Menschheit, ha, ha, Schluss mit dem Märchen, dass wir Juden euren Jesus gekreuzigt haben, ha, ha!“
Auch der Abbe´ Barruel lächelt, aber die Augen strafen ihn Lügen. Sein Lächeln wirkt gefroren.
„Was würden Sie dazu sagen, verehrter Rabbi Meir, wenn ich Ihnen nun beweisen könnte, dass diese Dokumente echt sind?“
Einen Augenblick lang herrscht beinahe verblüfftes Schweigen. Der Schriftgelehrte nimmt seine stets verschmierte Brille ab und betrachtet ausgiebig seine brüchigen Fingernägel, bevor er mit listigem Blick antwortet.
„Nun, äh, zunächst würde ich wohl sagen: Potzblitz und Donnerwetter! Und dann würde ich vermutlich aus Gründen der Vorsicht fragen, ob Sie an mein restliches Honorar gedacht haben,“ sagt der Baal Shem und grinst seinem Gegenüber frech in’s Gesicht, „und dann würde ich Sie natürlich fragen, woher diese Dokumente stammen, wie Sie in ihre Hände gelangt sind und was Sie damit vorhaben.“
Der Abbe´ holt einen dicken Briefumschlag aus seiner Aktentasche und legt ihn demonstrativ vor der Nase des Rabbi auf den Schreibtisch.
„Soviel zu Ihrer ersten Frage, um Sie zu beruhigen. Die zweite Hälfte Ihres Honorars, wie vereinbart. Sie können das Geld gerne nachzählen. Und nun zu Ihren restlichen Fragen.
Diese Papyrusrollen stammen aus Jerusalem, genauer gesagt, aus dem Tempel des Salomon. Sie erinnern sich; als damals die Ritter des Templerordens die Stadt erobert hatten, errichteten sie ihr Quartier auf dem Tempelberg. Die heutige Al-Aksa Moschee ist auf den Fundamenten und Kellern der Ställe Salomos erbaut worden, und die Kreuzritter des Ordensmeisters Graf Hugo von Payens haben damals heimlich archäologische Grabungen durchgeführt und sind dabei auf diese Dokumente gestoßen. Die wenigen Eingeweihten der Templer beschlossen damals, diese für die Christenheit niederschmetternde Wahrheit niemals preiszugeben und für immer zu begraben. Sie hätten wohl besser daran getan, diese Schriften sofort und restlos zu vernichten. Trotz aller Geheimhaltung wurde allerdings schon bald hinter vorgehaltener Hand von der Existenz eines geheimnisvollen Templer-Schatzes gemunkelt, aus dem dann im Laufe der Zeit jener sagenhafte heilige Gral geworden ist.“
„Es gibt nichts Dauerhafteres als die Geschichte von einer anständigen, jüdischen Weltverschwörung und das obskure Geheimnis eines rätselhaften Schatzes wie das eures heiligen Grals,“ sagt der Rabbi spöttisch und wirft schnell einen prüfenden Blick auf den Inhalt des Briefumschlages. „Das sind tiefverwurzelte Archetypen, glorreiche, geistig-kulturelle Errungenschaften, deren Dämonologie man selbst durch die Enthüllung von echten Wahrheiten nicht so leicht zerstören kann. Das ist genau wie mit den Religionen, mein lieber Abbe´. Solche Geschichten besitzen mehr als neun Leben und noch längere Schwänze als die Katzen in den Ruinen des Kolosseums von Rom.“
Der Baal Shem von Königsberg nimmt einen Stapel Papiere aus der untersten Schublade seines Schreibtisches und überreicht sie seinem Besucher.
„Wenn ich der Logik Ihrer Einlassung folgen darf,“ sagt der Benediktiner Abt und grinst dabei ebenso hinterhältig wie sein Gastgeber, während er oberflächlich in den Papieren blättert, „dann ist die jüdische Weltverschwörung kein Hirngespinst, dann gibt es sie also tatsächlich, nicht wahr?“
Der Rabbi ist durchaus in der Lage, die Häme seines Lächelns noch zu steigern.
„Selbstverständlich existiert diese Verschwörung, mein lieber Abbe´, was denken Sie denn? Sie besteht sogar schon seit mehr als zweitausend Jahren, wie Sie mühelos aus der Existenz jener hebräischen Dokumente ableiten können, die Sie nun der Welt als den Schatz der Templer, als den entzauberten, heiligen Gral präsentieren wollen. Wer, glauben Sie, hat diese Protokolle damals wohl verfasst?“
Abbe´Barruel ist mehr als verblüfft.
„Sie wollen also allen Ernstes behaupten, dass diese Dokumente ein zweitausend Jahre alter, von den Juden aufgelegter Schwindel sind? So einen Unsinn glaubt Ihnen doch kein Mensch!“
„Genau so ist es, mein lieber Barruel, kein Mensch würde diesen Unsinn glauben. Wie Sie sehen; unsere kleine Verschwörung gegen das Christentum funktioniert bestens!“
„Es ist nicht zu fassen,“ murmelt der Priester mit blassen Lippen. „mit Verlaub, ihr Juden seid tatsächlich die großartigsten Scholastiker und Winkeladvokaten, die es je gegeben hat. Aber sei’s drum, das ändert weder meine Absicht noch meine Überzeugung, verehrter Rabbi.“
„Ich kann mir Ihre Absicht lebhaft vorstellen, Sie wären beileibe nicht der Erste, der den Apostolischen Stuhl erfolgreich mit dieser angeblichen Wahrheit erpresst. Die Kirchenväter sind daran gewöhnt, schließlich zahlt Rom schon seit beinahe zwei Millenien mehr oder weniger satte Schweigegelder an die Templer und deren Nachfolger. Ihre persönlichen Motive sind mir im Grunde genommen auch ziemlich egal, mein lieber Abbe´. Das einzige, was mich wirklich interessieren würde, ist, wie diese so sorgsam verborgenen Papyri in Ihre Hände gelangt sind und wo der Schatz so lange Zeit versteckt war.“
Abbe´Barruel zögert ein wenig mit seiner Antwort.
„Wie ich die Dokumente ausfindig gemacht habe und auf welchen Wegen ich an sie gekommen bin, das möchte ich lieber weiterhin Ihrer Phantasie überlassen. Es gibt gewisse Dinge, über die ich nicht sprechen kann, denn ich muss jene Menschen schützen, die mir geholfen haben. Das werden Sie sicher verstehen. Aber das ehemalige Versteck des Schatzes will ich Ihnen gern verraten. Was würden Sie wohl tun, wenn sie einen Baum verstecken wollten?“
„Natürlich würde ich den Baum im Wald verstecken, das weiss doch jedes Kind!“
„Sehen Sie, genauso haben es die Templer auch gemacht. Wo versteckt man am Besten einen Haufen hochgeheimer, für das Christentum gefährliche Dokumente vor den Spionen der Inquisition? Natürlich unter tausenden von ähnlichen Papieren und Büchern, den sogenannten Remota im Geheimarchiv hinter den Mauern des Vatikan, also mitten im Zentrum der Feindesmacht, wo niemand jemals auf die Idee käme, danach zu suchen.“
„Respekt,“ sagt der Rabbi, „waren ganz schön durchtrieben, diese Tempelritter. Wer hätte das gedacht. Gab es nicht sogar Spekulationen darüber, dass die Templer in Wirklichkeit Anhänger des Islam gewesen sind? Nun, wenn Sie mich fragen, dann waren diese schlauen Burschen nichts Geringeres als Kinder des auserwählten Volkes. Wer sonst besäße diese kühle Raffinesse und kluge Weitsicht, werter Herr Abbe´, wenn nicht wir Juden?“
Abbe´Barruel stopft hastig und mit leicht gerötetem Gesicht die Papiere in seine Aktentasche, dann steht er auf und reicht dem Alten die Hand.
„Wenn das so ist, mein lieber Rabbi Meir, dann wird es höchste Zeit, mich zu verabschieden. Sonst entdecken Sie am Ende noch, dass auch ich in Wahrheit einer der Ihren bin.“
Das hämische Gelächter des Baal Shem von Königsberg klingt aufdringlich wie das Meckern eines Ziegenbocks. Es begleitet den Gottesmann in der braunen Benediktinerkutte bis hinaus vor die Türe.
6. Paris
Jaques de Molay erhebt sich von der dürftigen Pritsche seiner Kerkerzelle und schüttelt sich hastig die Strohhalme aus den Haaren, dem Bart und von seinen zerlumpten Kleidern. Er kann das leise Klirren von Waffen und eisernen Schlüsseln hören und die verhaltenen Stimmen der königlichen Wachsoldaten, die sich seiner Kerkertüre nähern. Ein Augenpaar späht prüfend durch die schmale Essensluke.
„Ritter Jakob von Molay, der päpstliche Großinquisitor wünscht Euch vertraulich zu sprechen. Seid Ihr mit einer kurzen Unterredung einverstanden?“
„Worauf du einen lassen kannst, Junge,“ knurrt Jaques grimmig und stopft sein Hemd in die Hose. Drei schwere, eiserne Riegel werden in ihren Führungen zurückgeknallt, ein Schlüssel dreht sich im Schloss, dann öffnet sich die dicke Eichentür.
„Nur hereinspaziert in meine bescheidene Mönchszelle, Eure Erzheiligkeit, fühlt Euch ganz wie zu Hause. Ich hoffe, Ihr habt endlich gute Nachricht für mich! Seit vier Wochen renne ich jetzt in diesem verdammten Kellerloch hier auf und ab und warte auf die Urteilsverkündung. Nimmt dieser schändliche Prozess denn niemals ein Ende? Wir hatten eine klare Vereinbarung getroffen, wenn ich mich nicht täusche, und ich habe meinen Teil davon erfüllt. Sogar nach bestem Wissen und Gewissen, wie Euch wohl klar sein wird, Monsignore. Der Habgier und Herrschsucht sowohl des Königs als auch des Papstes ist reichlich Genüge getan durch mein Geständnis, was also hindert die beiden Herren daran, sich gegenseitig heimlich auf die Schultern zu klopfen und mich und meine Mitbrüder verdammt nochmal endlich frei zu lassen?“
Der Großinquisitor ist ein kleiner, hagerer Mann mit einer Adlernase, buschigen Augenbrauen und hochmütigen, kalten Augen. Er presst ein Tüchlein unter seine imposante Nase, das mit köstlichen Duft-Essenzen getränkt ist. Im Keller der Bastille riecht es schonungslos nach Schimmel, Schweiss, Urin und Exkrementen.
„Was bringt Euch zu der Annahme, Graf de Molay, dass sich König Phillip und Papst Clemens gegenseitig beglückwünschen sollten?“
„Nun, selbst in Jerusalem hat man davon gehört, dass ein gewisser Erzbischof von Bordeaux vor allem deshalb zum Papst erwählt wurde, weil es Phillip dem Schönen so gefiel. Und wenn ich mich nicht sehr irre, dann wart Ihr selbst einmal Bischof in Poitiers von Phillips Gnaden, mein Herr.“
„Der König mag’s zufrieden sein, Papst Clemens auch, aber ich als Hüter des rechten Glaubens bin’s mitnichten, Jakob von Molay, und Ihr wisst ganz genau warum. An Euren Geständnissen bin ich nur wenig interessiert. Was kümmert mich Aragon oder Zypern, mögen es Eure Ritter halten oder nicht. Was ich wirklich von Euch will, verehrter Ritter des Kreuzes oder – wer weiß - vielleicht sogar des Halbmondes, das sind die geheimen Dokumente eures Ordens, den wahren Schatz der Templer, der dem heiligen Stuhl in Rom seit zweihundert Jahren ein gewaltiger Dorn im Auge ist. Sagt mir, wo ich diesen Schatz finde und Ihr und Eure Ordensleute seid frei zu gehen, wohin Euch beliebt. Wenn nicht, so könnt Ihr gewiss sein, dass ich es nicht verhindern werde, wenn Euch König Phillip in seinen Kerkern bis zu eurem Lebensende verschimmeln lässt. Was sagt Ihr dazu, Jakob von Molay?“
„Mit Verlaub, das ist ein etwas merkwürdiges Angebot, Eure Erzheiligkeit. Wer sagt Euch denn, dass mir der König nicht den gleichen krummen Handel vorgeschlagen hat, und zwar zu deutlich besseren Konditionen? Doch sagt selbst, welchem Wort sollte ich überhaupt noch vertrauen, dem Phillips mit seinen Machtphantasien oder dem eines römisch-katholischen Großinqisitors von Königs Gnaden, der nur zu gerne der nächste Papst werden möchte?“
Der Staatsanwalt Gottes nimmt vor Schreck das Tuch von seiner Nase und wird noch ein wenig blasser, als er ohnehin schon ist.
„Der König weiss um die Natur des Templerschatzes?“
„Noch nicht, mein Lieber,“ entgegnet de Molay in drohendem Tonfall, „noch nicht. Und nun lasst mich bitte allein, ich brauche Zeit zum Nachdenken! Außerdem verpestet Ihr langsam die gute Luft hier unten!“
Zur Abwechslung läuft das Gesicht des Erzbischofs purpurrot an. Seine Augenlider beginnen zu flattern. Er beherrscht seinen Zorn nur mit äußerster Mühe.
„Ihr solltet bedenken, dass die Zeit knapp wird für euch, verehrter Herr Ritter. Schon morgen wird das Strafgericht zusammentreten und das Urteil verkünden. Der König wird Euch und die Templer lebenslänglich im tiefsten Kerker Frankreichs eingesperrt lassen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche!“
„Und wenn schon, einen Handel mit ihm könnte ich auch noch nach dem Urteil machen. Für Euch hingegen wird die Zeit in der Tat etwas knapp. Einen schönen Tag auch noch, Herr Großinqisitor! Und grüßt mir Papst Clemens, den elenden Schwächling und Verräter!“
Mit wehender Soutane rauscht der Erzbischof empört aus der Gefängniszelle. Die Wachsoldaten nehmen ihre rußenden Fackeln mit und verriegeln die eisenbeschlagene Kerkertüre. Jakob von Molay ist wieder alleine mit sich und der Verzweiflung in der Dunkelheit seines Verlieses.
7. Heidelberg
Abbe´ Visconti ist mit seinem Vortrag zu Ende. Ungeduldig, aber äußerlich kühl schreitet er im Labor auf und ab. Er lässt dabei Rosemarie Dupont keine Sekunde lang aus den Augen. Sie ist überzeugt, dass diese Augen bernsteinfarben sind.
Der Opus-Dei-General bleibt vor ihr stehen. Unwillkürlich hält sie ihren Atem an, um dem möglichen Schwefelduft zu entgehen. Sie ist beinahe enttäuscht zu sehen, dass die Pupillen seiner Augen nicht schlitzförmig sind.
„Frau Dupont, dürfte ich Sie nun bitten, Ihre Apparatur entsprechend dieser Daten hier zu programmieren?“
Er legte ein bedrucktes Papier neben die Computer-Konsole, auf dem die geographischen Koordinaten und die Zeitdistanz angegeben waren.
„Und Sie sind sicher, Hochwürden, dass diese Angaben absolut exakt sind?“
Visconti lächelt, aber sein Blick ist eiskalt.
„Sie dürfen annehmen, dass wir nicht das geringste Interesse daran haben, irgendwelche vermeidbaren Risiken einzugehen. Wir haben die besten Köpfe der Fachwelt zur Berechnung heran gezogen, seien Sie beruhigt. Dürfte ich Sie nun bitten?“
Widerwillig macht sich die Wissenschaftlerin daran, die Koordinaten in den Steuerungs-Computer einzugeben.
„Bitte sehr, Hochwürden, es ist angerichtet“, sagt Rosemarie nach einer Weile trocken und macht den Platz vor der Tastatur frei.
„Sie können nun Ihren Text eingeben. Wenn Sie anschließend das Horus-Symbol drücken, sehen Sie in einer Art Vorschau die holographische Projektion des Textes hier in dieser Bluescreen-Box. Wenn Sie die Projektion auf die Reise in die Vergangenheit schicken wollen, halten Sie die Horustaste gedrückt und klicken dann mit der rechten Maustaste auf das Feld mit der Aufschrift GENERATOR.“
„Ist das alles?“
„Das ist alles, Signore Visconti.“
Seine Heiligkeit rafft die Schöße seiner schwarzen Soutane und setzt sich. Sekundenlang ertönt nur das Klappern der Plastiktastatur. Ein letzter, prüfender Blick auf den Bildschirm, dann drückt Viskonti die Horus-Taste.
In strahlendem Rubinrot erscheint die aus jedem Blickwinkel dreidimensional lesbare Schrift frei schwebend in der Mitte der Projektions-Kammer.
Ein letzter Blick in die erregten Gesichter der anwesenden Kleriker, dann klickt Visconti entschlossen das Dialogfeld an und der Computer setzt den Bose-Einstein-Prozessor in Betrieb.
8. Paris
Kaum hat der päpstliche Großinqisitor den Kerker verlassen, geschieht ein Wunder im tiefsten Keller der Bastille, das dem Großmeister des Templerordens vor Entsetzen schier den Atem raubt und ihn voll Ehrfurcht auf die Knie fallen lässt. In der Mitte des Raumes schwebend erscheinen plötzlich Buchstaben und Worte, geformt einzig aus rubinrot strahlendem Licht. Jakob weiss sofort, dass nur Gott durch solche Zeichen zu ihm sprechen kann. Verzweifelt versucht er, den Sinn dieser geheimnisvollen Botschaft zu verstehen, indem er die Worte laut ausspricht. Aber Gottes Botschaft ist ihm in der Sprache der Kirche Roms zuteil geworden, und Jaques de Molay ist der lateinischen Sprache nicht mächtig.
Er versteht jedoch plötzlich aus tiefstem Herzen und mit seinem ganzen Verstand, dass der wahre Allmächtige und Allbarmherzige einzig der Christen-Gott sein kann. Allah hätte sich gewiss arabischer oder persischer Schriftzeichen bedient.
Jakob verbringt die Nacht in unablässigem Gebet der Reue, und am nächsten Morgen tritt er stolz und geläutert vor das Tribunal des Königs und widerruft mit fester Stimme alle seine Geständnisse.
Noch am Abend des nämlichen Tages, am 18. März 1314, lässt ihn der erzürnte König auf den Scheiterhaufen führen und vor der Bastille in aller Öffentlichkeit verbrennen. Der Orden der Tempelritter ist damit endgültig zerschlagen.
Das Geheimnis des Templerschatzes soll weitere 700 Jahre lang bewart bleiben. Bis zum April des Jahres 2023, als ein vom Glauben abgefallener Archivar der Vatikan-Bibliothek für verbotene Schriften in hochgeheimen Dokumenten zur Kirchengeschichte stöbert und dabei auf offensichtlich antike Papyrusrollen mit hebräischen Schriftzeichen stößt.
I templari c’entrano sempre!
Das Spiel der Templer ist noch lange nicht zu Ende......