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Das Miststück und der Gnom
Das Miststück und der Gnom
„Hilfe!“ kreischt eine hohe Mädchenstimme. Sie überschlägt sich beinahe und hat diesen dünnen Klang angenommen, bei dem man hofft, dass ihr bald die Luft ausgeht. Geht es aber offensichtlich nicht, denn ein erneutes „Hiiiiiilllllllfffeeee!“ durchschneidet die schwüle Sommerluft. Jack sitzt auf einem Ast, tief im Schatten verzogen, so dass man ihn kaum sieht. Schweißperlen rinnen ihm über den Hals. „Die Welt hält den Atem an. Warum kannst du dann nicht auch die Schnauze halten!“ denkt er und fächelt sich mit seiner grünen, spitz zulaufenden Mütze Luft zu. „Lass mich looooos! Looooos lassen, hab ich gesagt!“ Jack schnauft aus. Seine Augen funkeln böse aus dem Gesicht. Schon komisch, da hat er sich extra in dieses Dorf verzogen, wo es insgesamt vielleicht gerade einmal hundert Häuser gibt. Da hat er sich auf einen Baum verzogen, an dem sich keine Straße befindet, nur ein verwilderter kleiner Kiesweg. Und er führte nicht nach Disneyland, sondern mitten in einen finsteren Wald! Aber hatte er seine Ruhe bekommen? Erst vor einer Stunde erinnerte ihn eine Horde kleiner Kinder, warum die Geburtenzahlen in diesem Land rückläufig sind. Jetzt kommt die nächste Plagerei, wo er doch gerade erst eingeschlafen war! Höhe und Kraft der Stimme deuten auf einen Teenager hin. Jack schließt seine Augen. Seine dürren Hände massieren hastig seine Schläfen. „Konzentrier dich auf deine Atmung, konzentrier dich…“ Jetzt kreischt das Mädchen vom neuen: „Daniel, biiiitte!“ Ein leerer Ast wippt auf und ab. Dumpf stampft etwas auf den Waldboden. Christine stolpert vorwärts, als sie sich aus den Armen ihres Freundes reißt. „Du, dass sollte eigentlich Spaß sein…“ stammelt Daniel, ein paar Schritte hinter ihrem Rücken. Christine lächelt vergnügt. Sie hört tapsende Schritte im Gras, und stellt sich vor, wie Daniel auf sie zuwankt. In Wirklichkeit rührte dieser sich jedoch keinen Zentimeter. Grinsend wartet Christine darauf, eine Hand auf ihrer Schulter zu fühlen. Oder würde er ihr gleich an die Brust fassen? Das würde er sicher nicht wagen. Wahrscheinlich nestelt er mit seinen Händen an seiner Jeans herum, nur weil er nicht weiß, wohin mit ihnen. An meinen Busen, verdammt! Die Schritte verstummen. Er muss nun genau hinter ihr sein. Christine lehnt sich zurück… Daniel steht über ihr und reicht ihr seine Hand. „Alles klar?“ Christine ist überrascht. Wahrscheinlich ist der Arsch nur von einer Stelle auf die andere getreten. „Verdammt Daniel!“ Jack späht hinter einem Busch hervor. Seine klaren, hellblauen Augen sehen das Paar. Er riecht bereits den süßen Duftschleier, in den sich das Mädchen hüllt. Christine küsst die Lippen ihres Freundes, der sie so wunderbar schmutzig macht. Ihr nackter Po schabt über den Boden. Sicher werden rote Streifen auf ihrem Pastellhintern zurückbleiben. Das ist herrlich! Endlich tut sie etwas Wildes, etwas, das ihre Eltern zu verhindern suchen. Wie werden die sich auch noch freuen, wenn sie heute schon so früh nach Hause kommt und sich brav schlafen legt. Doch gerade, als sie innerlich triumphieren will, weil scheinbar alles an diesem Augenblick stimmt, verunsichert sie etwas. Ihr ist nicht bewusst, was es ist, aber sie fühlt plötzlich, dass ihre Bewegungen an Selbstverständlichkeit verlieren. Sie nimmt sie bewusst wahr, jede Ungleichmäßigkeit. So, als ob sie beobachtet werden würde. Fast verschließt sie mit ihren Fingern die Lippen ihres Freundes, als sie ihm über die Wange streicht, nur um zu hören, ob da wieder diese Schritte sind. Wieso muss sie ausgerechnet jetzt daran denken? Christine stöhnt etwas lauter, als es ihrer tatsächlichen Lust entspricht. Dieser Schrei ist für ihren Vater. Dafür, dass er sie so sehr tyrannisiert, dass sie sich selbst jetzt beobachtet fühlt. Dabei sieht er überhaupt nichts. Nichts. Sie wirft ihren Freund auf den Rücken. Ihre Krallen wetzten über seine blasse Brust. Sie bewegt sich schneller, wilder. Daddy nennt sie Schlampe? OK, sie ist es! Eine solche Bewunderung spricht aus Auge und Miene ihres Freundes, dass ihr verbissener Mund zu einem herzlichen Lächeln wird. Ihr wird bewusst, wo sie sich befindet, bei einem Menschen, der sie liebt! Christine kuschelt ihren Oberkörper eng an seinen. Jack luchst hinter einem gefällten Baum hervor. Auf seinen gelben Augen spiegelte sich ein Berg aus Jeans, der achtlos auf dem Boden liegt, genau zwischen ihm und dem nacktem Pärchen. Sein Gesicht hat diesen strahlenden Ausdruck angenommen, den ein Cartoonist sicher mit einer Glühbirne versehen würde. Jack lockert sich die Finger, während er vorwärts schleicht. Zuerst nimmt er sich die Hosentasche des Mädchens vor. Vorsichtig schiebt er seinen Kopf und einen Arm hinein. Die Jeans überragt ihn um knapp fünf Zentimeter. Wenn er nicht all zu heftig daran wackelt, müsste er unbemerkt bleiben. Jack tastete das Futter ab und streifte etwas hartes, ihren Schlüssel! Bei der bloßen Vorstellung, wie sie vor ihrer Haustür steht, und sich allmählich Verzweifelung in ihre Züge schleicht, kribbelt es in ihm. Er würde später tanzen! Über ihren Sachen. Aber noch sucht er etwas, was ihm gefällt. Christine ruht auf Daniels Brust. „Nur ein bisschen.“ ermahnt sie sich, denn der Wind streift doch merklich kühl ihre nackte Hüfte. Aber wenn sie jetzt gleich aufbrächen, wäre die Schönheit dieses Augenblicks vorbei. Daniel streichelt ihr Haar. Sie lächelt und schließt die Augen. Sie will nur dem Wind lauschen, Daniels Hand fühlen, und das Toben in ihrem Inneren ausklingen lassen. Daniels Blick gilt den Baumkronen, die über ihnen schwanken. So sieht keiner den schwarzen Seidenslip Richtung Wald rasen.
„Wo ist mein Schlüpfer?“ Christine steht entnervt vor ihren Sachen. Daniel überfliegt noch einmal den Waldboden. Er ist bereits angezogen und kratzt sich am Kopf. „Na toll!“ Sie fühlt, wie ihre Laune plötzlich kippt. Ihr ist als ob Gott höchst persönlich sie angegriffen hätte. Der Nachmittag war auch zu perfekt, als ob sie dafür nicht bestraft werden würde! Plötzlich fühlt sie Daniels Hand, die über ihren Arm streicht. Als sie sich zu ihm wendet, blicken ihr sensible Augen entgegen. Sie weiß, dass er sie bewusst so ansieht, aber dennoch beruhigte er sie. Das ist zum kotzen! Christine lächelt, wider willen. „Ist schon gut, sieh mich nicht so an!“ Jack sitzt auf einem Ast und sieht ihnen zu. Seine Beine baumeln neckisch herunter.
Jack sitzt in seinem Vogelnest und rollt sich bequem in den Slip ein. Ein Mobile aus Schlüsseln baumelt über seinem Kopf. Es stimmt ihn glücklich. Ihr Geklirre und Geklimper übertönt den Lärm der Außenwelt. So schläft Jack zum ersten Mal seit Wochen wieder sofort ein.
Fröhlich wacht er morgens auf. Seine Mundwinkel stehen so weit oben, dass seine Lippen beinahe einen Strich bilden. Zudem ist es bedenklich still im Wald. Nur einmal hört man, wie der Gnom seine Nase rümpft, um die Feuchtigkeit der Nacht los zu werden. Normalerweise begleiten diese Geräusche Jack, wie das Stampfen seiner Füße. Die Vögel müssen das Schlimmste befürchten, da eins ihrer natürlichsten Geräusche ausbleibt. Weiß der Gnom etwas, was ihren Sinnen entgeht? Hat er von ihrem Untergang geträumt? Jack steht gerade in einer Pfütze und wäscht seine rindenähnliche Haut, als er eine vertraute Stimme hört, Christines. Er versteht ihre Worte nicht ganz, aber ihre bloße Anwesenheit weckt sein Interesse. Jack biegt ein paar Äste zur Seite, um sie aus einem Busch heraus zu beobachten. Tatsächlich, es ist diese Göre von gestern, allerdings nur schwer wieder zu erkennen. Sie schleppt sich vorwärts. Jack braucht nicht lange suchen, um den Grund ihres verkaterten Ganges zu erkennen: Beide Augen sind halb zu geschwollen, ihre Lippen aufgebläht. Als sie auf ihn zukommt, denkt er zuerst an Flucht, bleibt dann aber doch in seinem Versteck. Sie beugt sich mühsam zu ihm herunter. Jack wird unruhig, nur ein paar Äste trennen ihr Gesicht von seinem Körper. Nur ein paar Zentimeter. „Was hast du dir nur dabei gedacht!“ Scheltet sich Jack. Ihr minziger Atem strömt ihm entgegen. Christine durchwühlt den Boden. Scheinbar sucht sie etwas. Ihren Schlüssel! Jack beobachtet sie fasziniert. „Scheiße.“ formen ihre Lippen, aber sie spricht es nicht aus. Tränen laufen ihr die Wange hinunter. Jack blickt sie fassungslos an. Er hat schon oft Kinder plärren hören, sie auch dabei gesehen, aber dies hier ist anders. Ihm ist, als beobachte er sie, bei etwas Intimem. Er betrachtet ihre spiegelnden Augen, ihren zitternden Körper. Kein Laut dringt aus ihr heraus. „Heyyy!“ Erklingt eine Stimme, ganz zart. Dabei zieht sie das Wort so in die Länge, als sei es ein Singsang aus einer ihrer Meditationstechniken. Jack zuckt zusammen. Christine sieht Jasmin, ihre Freundin, vor sich stehen. Ein Tempo weht in ihrer Hand, ihr Gesicht sieht so verständnisvoll aus, dass Christine am liebsten gehen würde. Stattdessen nimmt sie das Taschentuch und erhebt sich. Sie schüttelt unbewusst den Kopf. Ihr Gesicht fasst sich langsam. „Hast du meinen Slip gefunden?“ Jasmin antwortet ihr mit offenem Mund. „Meinen Slip?“ wiederholt Christine gereizt. Sie wischt sich die Tränen von den Wangen. „Tut mir leid.“ Jasmin lächelt scheu. Es ist ein, „Ich-mein-es-doch-gut-Lächeln“. „Ich hoffe, irgendein Perverser hat ihn erwischt. Soll von mir aus reinspritzen, Hauptsache mein Vater findet ihn nicht.“
„Glaubst du, er wird extra hier raus fahren?“
Christine grinst. „Wenn er mich damit runterputzen kann, auf jeden Fall.“ Jasmin sieht immer noch nachdenklich aus, so, als müsste sie Christines Aussage erst mal in ihr Weltbild integrieren. Wie aus einem Instinkt heraus fasst Christine sie bei der Hand. Sie weiß nicht warum sie das tut, aber irgendwie scheint sie zu der Überzeugung gelangt zu sein, dass sie es mit einem Kind zu tun hat. „Er hat diese Woche Nachschicht. Zehn Stunden hockt er heute am Band. Er wird ganz bestimmt vorher mit mir hier raus fahren…dieses Arschloch!“ Christine sieht ihr in die Augen und beschließt daraufhin ihre Hand noch nicht los zu lassen. „Verstehst du?“ Jasmins Lippen pressen sich aufeinander, anscheinend soll kein Wort vorschnell entweichen. Sie überlegt. „Aber wenn wir den Slip nicht gefunden haben, wird er wohl nicht gerade im Weg rum liegen.“ Jack starrt sie fassungslos an. Aber er könnte! So müssen sich Vögel fühlen, wenn das abrupte „Bam“ einer Scheibe ihren Flug stoppt. Entsetzt blickt er sie an, so, als ob sie ihm irgendwie helfen könnte. Aber das kann sie nicht, weil Jack ihr wehtun wird. Plötzlich fällt ihm ein, was er hier tut. Er beobachtet eine Göre, als wäre sie ein neues Naturereignis. Dafür gibt es keinerlei Grund. Sie ist noch nicht einmal laut gewesen. Sie war nur ein Interesse von ihm, weil er noch nie gesehen hat, wie jemand lautlos weint, das ist alles. Und es ist interessant gewesen. Sehr interessant. Jack dachte daran, wie sie über ihm kniete, wie ihre Augen glänzten. Und wie er meinte, dass auch von ihm der Druck abfiel, allein durch die Tatsache, dass er sie beobachtete. Sei´s drum. Er würde sie noch mindestens einmal weinen sehen, wenn er ihrem Vater den Slip unter die Nase hielt. Wieder Erwartens löst dieses Bild keine Freunde in ihm aus. Selbst der Humor an der Sache geht Jack vollkommen verloren. Stattdessen beißt es ihn innerlich, er fühlt sich hässlich.
Jack sitzt am Ende eines Astes, völlig regungslos. Die Sonne scheint sich selbst schon auf den Feierabend einzustellen. Ihre Strahlen tauchen die Umgebung in ein gleichmäßiges, warmes Licht, ohne zu blenden. Vögel fliegen um ihn herum, zwitschern, aber das wird auch nichts mehr nützen. Jack unterhält sich nicht mit ihnen. Es geht sie nichts an. In seiner Brust staut sich ein Druck an, den er nicht ausgleichen kann. Er schnauft, aber das reicht nicht. Jack kennt dieses Gefühl nur sehr gut. In milderer Form ist es sein ständiger Begleiter, den er nur loswird, wenn er sich ärgert. Normalerweise hilft es ein paar Halme abzuknicken, Bäume zu treten und seine Nase zu rümpfen. Oder Leuten ihre Habseeligkeiten zu stehlen. Genau genommen funktioniert das von allem am Besten. Wahrscheinlich würde es diesmal nichts nützen. Jack drückt seine Fäuste zusammen. In der rechten schneidet ihn Christines Schlüssel in seine harte Haut. Jack ist sich noch nicht sicher, ob er ihn zurücklassen soll. Immerhin könnte er ihr diesen dann nicht in einem schwachen Moment überlassen. Aber der Schlüssel beruhigt ihn.
Der Kiesweg stottert. Jacks Augen schießen zur Seite. Ein alter Passat nähert sich ihnen. Durch die braunen Halbkreise zweier Scheibenwischerspuren und den Vogelmist auf der Scheibe erkennt er die Insassen. Christines Magen zieht sich wieder zusammen, als sie die Passattür schließt. Die Gegenwart ihres Vaters fühlt sie deutlich in ihrem Nacken. Vor ihr sieht der Wald noch entspannend aus. Die Bäume strahlen im sonnigen Licht. Wenn sie sich nicht umdrehen müsste, könnte sie sich beruhigen. Sie würde sich auf die Erde setzten, ihre Beine eng an ihre Brust drücken, damit ihr zwickender Magen abklänge, und die Bäume betrachten. Vielleicht würde sie sich vorstellen, ihr Freund sei bei ihr, und nehme sie in den Arm. Aber sie kann das nicht. Sie muss mit ihrem Vater suchen, also wendet sie sich ihm zu. Ihr Vater mustert sie bereits, mit einem stechenden Blick. Seine Arme baumeln an seinen schlanken Hüften hinab, und streifen dabei über die Bauwolle seines Rubyshirts. Seine Lippen verziehen sich zu etwas, das sowohl Lächeln als auch Bitterkeit sein kann. „Also, wo hast du dich mit deinem Freund rumgetrieben?“
„Mit Jasmin.“ Christine lächelt scheu.„Wir sind hier gewesen, höchstens noch bis zur Kurve, aber nicht weiter.“ Sie kniet sich ins trockene Gras. Auf ihrer Augenhöhe steht Jack, nur ein paar Halme von ihr entfernt. Seine braune Haut verbirgt sich im Schatten. Christine bemerkt ihn nicht, als sie den Boden abtastet. Sie reibt sich über die Nase, um den Druck der sich dort anstaut, abzubauen. Die Angst schimmert in ihren Augen, wie ein lauerndes Fieber. Sie schnauft tief aus. Jack tut es ihr gleich. Er weiß nicht warum, aber wenn er sie so ansieht, beruhigt ihn das. Christine fühlt sich beobachtet, schon wieder. Als sie hinter sich schaut, begegnet sie dem Blick ihres Vaters. Hatte sie ihn gefühlt? „Weiter!“ fordert er sie auf. Christine will auf keinen Fall weiter gehen. Sie will keinen Schritt mehr auf die Stelle zugehen. Kann man vielleicht noch die Abdrücke ihres Hinterns sehen? Die Spuren von Daniels Knien? Ihr wird schlecht. Christine geht schnell voran. Wenn sie dahin müssen, will sie wenigstens die erste sein, die… Christine stockt. Ihr Slip hängt an einem Ast, außerhalb ihrer Reichweite. Ihr Magen zieht sich zusammen, Entsetzten schleicht in ihr Gesicht. Ihr Vater kommt hinter der Biegung zum Vorschein. Sie muss ihn aufhalten. „Dad!“ schreit sie und stützt sich gegen seine Brust. Sie umklammert ihn mit beiden Armen und vergräbt ihr Gesicht in seinem Shirt. „Bitte verzeih mir!“ Ihr Vater verkrampft, als bisse sie ihm an der Kehle. Eine Hand zuckt nach vorn, verharrt ein paar Zentimeter über ihrem Hinterkopf, unschlüssig. „Ich wollte den Schlüssel nicht verlieren! Bitte schlag mich nicht!“ Er senkt die Hand, und streicht ihr übers Haar. Anscheinend tröstet ihn seine eigene Geste, denn der Schrecken weicht allmählich aus seinen Zügen. „Das will ich doch gar nicht.“ flüstert er. Jack beobachtet die beiden. Das hat er nicht erwartet, aber es freut ihn. Irgendwie. Selbst, wenn sie den Slip jetzt nicht mehr finden werden. Jack kommt es vor, als ziehe er sich in seinem eigenen Körper zurück, und beobachte ihn. Kritisch registriert er die freudigen Empfindungen, die von ihm ausgehen. Es gefällt ihm? Christine ist gerade dabei seinen Plan zunichte zu machen. Sie würde entkommen, und was weit aus schlimmer wäre, wieder kommen. Wie kann ihn so was in Begeisterung versetzten? Jack verkrampft seine Hand und schlägt sie gegen sein klopfendes Herz. Es tut Christine gut an die Brust ihres Vaters gedrückt zu werden, auch wenn sein Shirt nach Sägespänen und Schweiß riecht. Aber solch eine vertraute Geste hat sie nicht oft erlebt. Sie kommt sich beinahe beschütz vor. Und das bei ihrem Vater. Fast meint sie, der Tag könnte eine Wende in ihrer Beziehung herbeiführen, doch dann sagt er: „Lass uns einfach noch eine Weile suchen, ok?“ Christine drückt ihr Gesicht ganz fest in seine Schulter. Scheiße! „Das hat doch keinen Sinn.“ Wieder sucht sie seine Arme, aber er geht einen Schritt zurück. Lässt sie allein und ängstlich stehen. „Keinen Sinn?“ Er senkt seinen Kopf, um ihr genau in die Augen zu sehen. So als müsse er sie unter einem anderen Blickwinkel betrachten, dem des Miststücks, das versucht etwas vor ihm zu verbergen. Christine lächelt. „Ich hab heute den ganzen Vormittag gesucht.“
„Meinst du ich fahre mit dir raus, für nur fünf Minuten?“
„Natürlich nicht.“ Christine betrachtet ihren Vater traurig, es ist ausweglos. Er wird sie misshandeln. „Lass uns gehen…“ Als sie sich umdreht, schießen ihr Tränen in die Augen. Fast stolpert sie über ihre zittrigen Beine. Ihr Vater steht verdutzt hinter ihr. Sein Gesicht bemüht sich verbissen darum, den liebenden Ausdruck zu bewahren, der sich zu immer tieferer Abscheu verzieht. „Christine!“ Sie geht weiter. „Wenn du keine Prügel willst, bleibst du jetzt stehen.“ Christine bäumt sich auf, eine Hand schnellt zu ihrem Mund, um ihn noch rechtzeitig zu verschließen. Und tatsächlich, der klägliche Laut verschwindet wieder in ihrer Magenregion und wird durch ein erneutes Aufbauen ausgelassen. Ihr Vater steht da und starrt zu Boden. Seine Lippen bewegen sich lautlos, als würde er eine Beschwörung intonieren. „…verschlampt alles und kümmert sich nicht drum, wickelt dich ein, als ob du machtlos wärst…“ Jack kann Lippen lesen. Er hat selbst oft vor sich hingemurmelt, und wenn es Sätze wie diese waren, so folgten immer Taten. Jack schaut zu Christine. Langsam zittert sie voran. „Lauf, verdammt!“ denkt er. Es ist seine Schuld, aber er wollte es so, wieso kann er es jetzt nicht sehen? Als Christine den Atem ihres Vaters hört, ist es bereits zu spät. Seine Faust trifft sie am Hinterkopf. Für eine Sekunde ist sie blind. Dann befindet sie sich am Boden und spürt den Spann ihres Vaters in den Rippen. Sofort verbirgt sie ihren Kopf zwischen den Armen und zieht ihre Beine an, um den Unterleib zu schützen. Zu ihrem Entsetzten muss sie feststellen, dass sie dort auch die Schuhspitze ihres Vaters erwischt hat. Christine schreit. Ein weiterer Tritt trifft ihre Knie. „Du bist so eine Schlampe!“ brüllt ihr Vater. „Hast du hier gefickt, als du den Schlüssel verloren hast?“ Christine spürt den spitzen Spann eines Lederschuhes an ihren Unterarmen. Diese brennen. Sie fragt sich, wann die Knochen brechen würden. Was tut dieser Idiot?! Jack steht im Gebüsch. Er kann es nicht begreifen. Klar, es würde Strafe geben, aber was ist das da? Soll er ihn zurückhalten? Er wollte doch warten. Christine schreit auf. Jack befindet sich plötzlich auf der Straße, neben Christines Kopf. Er sieht nach oben, zu ihrem Vater. Er hat keine Furcht vor ihm. Nur bittere Ablehnung, Hass. Zornig greift ihr Vater nach ihrem Haar. Noch bevor Jack weiß, was er tut, schnellt seine Faust nach vorn. Gerade will er dieses Stück am Haar hochreißen,…verharrt… Unsicher ballt er seine Faust, seine Augen weiten sich. Er lässt ihr Haar los und betrachtet es, ungläubig. Jack funkelt den Mann böse an, dem er den Schlüssel in die Hand gedrückt hat. Der glaubt daran, dass er den Schlüssel dabei hatte. Irgendwie die ganze Zeit. Jack ist sich dessen sicher. Er hält den Schlüssel in der Hand und gafft seine Tochter an. Wie kann das sein, fragt er sich sicher. Bin ich verrückt? Jetzt fährt er sich durchs Haar. „Entschuldige dich!“ flüstert Jack. Er schaut wieder zu seiner Tochter. Dann steckt er den Schlüssel verstohlen in die Tasche. Als Jack dies sieht, ist es kein Licht was ihm aufgeht, sondern ein Flutlichtmast, der sich zu ihm herunterbeugt. Genau das ist es, was ich tue! Ich belüge mich selbst! Und indem er ihren Vater sieht, sieht er, wie lächerlich diese Lüge aussieht. Plötzlich spürt er Gefühle, die unter seiner Haut lauern, wie sie der Druck in seiner Magenregion sind, der sich plötzlich lockert. Bereit angehört zu werden. Ein Friedensangebot?
Sie liegt noch immer im Gras. Ihr Vater ist weg. Ihr Verstand hat diese Nachricht bereits verdaut, aber die Erleichterung tritt noch nicht ein. Sie löst ihre Umklammerung und setzt sich auf den Hintern. Rot tropft es aus der Nase, das brünette Haar hängt in Strähnen von ihr herab, ihre Arme und das Shirt sind auch in Blut getränkt. Christine fühlt sich billig. Als wäre man fertig mit ihr, und hätte sie weggeworfen. Abgenutzt liegt sie jetzt da und reibt sich statt des nassen Schritts ihre aufgeplatzten Unterarme. Diese haben einen Riss, aus dem Blut rinnt. An beiden Armen, an der gleichen Stelle. Sie grinst. Das ist wirklich scheiße! Sie grinst breiter, das ist eine waschechte Misshandelung. Wenn man sie finden würde, würde man Mitleid oder Sex mit ihr haben wollen? Wahrscheinlich beides. Sie lacht tonlos. Das Bild verschwimmt vor ihr. Plötzlich steht sie, auf schmerzenden Beinen. Wäre sie doch bloß mit ihrem Vater mitgegangen! Nun muss sie allein nach Hause. Allein durchs Dorf. Sie schleppt sich vorwärts. Wenn sie jetzt aufbricht, könnte sie, nach einer ordentlichen Dusche und einem Kleiderwechsel, gleich zu ihrer Freundin. Dort würde sie sich verwöhnen lassen, wie ein ausgehungertes Kätzchen. Sie läge mit dem Kopf auf ihren Schoss, während sie sich den Nacken streicheln ließ. Dazu noch Fernsehen und Leckerein. Allerdings, wenn sie jetzt los will, würde sie sich dem Dorf preisgeben. In Gedanken kann sie schon Frau Bruslowski hören. Sie würde ihre Gardine nur ein Stück zur Seite ziehen und sie durch ihre Gläser beobachten. „Oh mein Gott, Ludwig, dass musst du dir ansehen! Die kleine Maurer schlürft wieder um die Häuser!“ Dann würde sich ihr alter Mann ans Fenster drücken. Mit erregtem Gesicht würde er sie verfolgen. Heimlich beobachten, ob ihre kurzen Jeans nass im Schritt waren, oder Blut ihre Oberschenkel hinunter lief. „Du Ärmste.“ Käme aus ihm heraus. Mehr nicht. Mehr stellte er sich gewiss nur vor und wahrscheinlich würden seine Empfindungen über das gebotene Maß an Mitgefühl hinausgehen. Genau wie es bei den Jungs der Fall sein würde, die sie von der Straße, oder ihren Fenstern aus sähen. Sie wären entsetzt, aber später, wenn sie in ihren Betten lägen erfreut. Sie würden darauf warten, sie wieder bei einer Fete zu erleben, betrunken. Denn natürlich hofften sie, dass sie betrunken sein würde, und rieben sich bei dem Gedanken daran nicht nur ihre Bäuche.
Es dämmert bereits, als Christine sich immer noch im Wald befindet. Sie hat sich an den Wegrand gesetzt, und ihre Beine geknetet. Diese wollen sich noch immer nicht so recht bewegen. Sie brennen, als hätte man ihr die Haut abgezogen. Christine stützt sich an die Rinde eines Baumes, um aufzustehen, ihr Gesicht verzerrt sich. Jack steht zwei Äste über ihr, hinter dichtem Blattwerk versteckt. Warum ist sie noch immer hier? Warum er hier ist, ist ihm klar. Er braucht sie. Ob er das jetzt will oder nicht. Christine spürt wieder diese Blicke in ihrem Nacken. Aber sie hat keine Angst. Es dämmert, sie sitzt allein im Wald. Anscheinend wird sie beobachtet, aber sie hat keine Angst. Ist sie schon wahnsinnig? Sie erhebt sich und blickt genau zu der Stelle, wo sie den Blick fühlt. Sie sieht es nicht wirklich, aber irgendwo zwischen den Ästen ist der Schatten dicker, robuster. Wenn sie verrückt wäre, würde sie den Schatten ansprechen. Aber sie ist es nicht, und es ist dämlich den Schatten anzusprechen, sogar für ein Stück wie sie. Sie grinst kalt. Aber wen kümmert das eigentlich? Wenn man ihr wirklich die Achtung entgegenbringt, die sie den meisten unterstellt, dann könnte sie ihn auch ansprechen. Und selbst wenn dieser Schatten bloß Einbildung ist, so ist es doch immerhin ihre Einbildung. Vielleicht ist sie ja nicht verrückt, aber bei Verstand ist sie auch nicht. „Hey!“ Sie sagt es wirklich! „Hey! Wer bist du?“ Sie starrt lange auf den Schatten. Für einen Augenblick denkt sie, dass er sich bewegen würde. Aber es kommt nichts. Sie verharrt. Jack starrt sie an! Das Mädchen hat ihn angesprochen! Noch nie hat ihn jemand angesprochen, jedenfalls kein Mensch. Er will ihr antworten. Aber er traut sich nicht. Es würde sie langweilen. Sie würde sich von ihm abwenden. Christine schaut ihn noch immer an. Erwartungsvoll. Jack schluckt. Christine wendet sich vom Schatten ab.
Es ist bereits halbdunkel, sie kann nach Hause gehen, sich fertig machen. Als sie gerade los will, hört sie eine tiefe Stimme: „Jack!“ Sie dreht sich sofort wieder zum Schatten. Jetzt hat sie das Gefühl, dass dieser steht. „Wie?“
„Jack.“ Sie grinst. Eine Hand zwickt sie ins Bein. Sie hatte es deutlich gehört. Wer bist du? Jack. „Ich bin Christine.“ Sie lächelt, wie ein braves Kind bei seiner Oma. Plötzlich dämmert ihr, dass sie nicht bescheuert ist. Sie spricht nicht mit einer psychischen Erscheinung, einem Schattenspiel oder einem imaginären Freund, sondern mit einem Mann, der sich nachts auf Bäumen versteckt. Christine starrt die Erscheinung an, lächelt, und läuft. Jack blickt auf die Stelle, an der sich so eben noch sein Mädchen befunden hatte. Aber nun ist sie weg, und er wieder allein.
„Hiiiiiiiiaaaahhhhhhhh!“ schrillt eine Kinderstimme. Hiiiiiiiiaaaahhhhhhhh, ein Laut, der sich vom Rückenmark direkt ins Herz sticht, ohne den Umweg über die Ohren zu suchen. Es ist unmöglich diesen Laut zu ignorieren, geschweige denn von ihm nicht in helle Aufregung versetzt zu werden. Aber jemand schafft es. Die Gestalt liegt tief im Schatten verzogen, auf einem Ast. Man könnte ihn selbst bei vollem Licht nicht vom Baum unterscheiden. Augen und Mund sind geschlossen, so dass seine Rindenhaut mit dem Stamm verschmilzt. Sein halber Körper ist bereits mit Moos bedeckt, ein Spinnennetz endet auf seinem rechten Fuß. Nur seine grüne Spitzmütze verrät, dass da etwas liegt. Sein Atem hebt seine Kleidung weniger oft, als der Wind. Vielleicht einmal die Minute. Wozu auch? Sein Nest liegt zwei Äste weiter von ihm. Er hört sein Schlüsselmobile. Es klirrt im Wind, wie Ketten. Jack träumt vom Winter. Er stellt sich vor, wie sich Flüssigkeit in den Zwischenräumen seiner Haut sammelt und ihm mit Kraft der Kälte zum Platzen bringen wird. Eine Variante, die sich in den zwei Wochen, die er jetzt hier liegt, zu seinem Favoriten herauf geschwungen hat. Das Kind lacht. Ein Ball landet im Gebüsch. Schritte, Stampfen. Jack fühlt sich, wie die Erde selbst, auf der sie rennen, wie der Wind, der ihre hellen Stimmen trägt. Er ist alles, nur nicht er selbst. Denn in ihm, in seiner Brust, heult eine Stimme, die lauter und schriller ist, als die eines jedes Kindes. Die Schritte nähern sich ihm. Früher hätte ihn das in Aufregung versetzt, aber jetzt nicht mehr. Die Schritte steuern auf ihn zu. Jack öffnet sein linkes Auge mit einem Knacken. Staub wirbelt vor ihm. Grelles Sonnenlicht brennt in seinem Auge. Jack fühlt, wie sein Herz schneller schlägt. Er ist das Ziel jenes Wesen, das er allein schon von seinem Schritt als kein Kind identifiziert. Jetzt knackt auch sein zweites Auge. Er ist blind. Er sieht gerade einmal die Umrisse von zehn Fingern, die sich ihm nähern. Sie riechen nach Creme. Ein Duft kommt ihm entgegen, ein schwerer. Er trägt das süße Aroma von „Christine“ denkt er sofort. Der Wind, die Erde, all dies ist vergessen. Er besteht nur noch aus einem laut klopfendem Herz und einem tiefen Verlangen ihn ihm. Die Hände umfassen ihn. Entweder würden sie ihn jetzt töten, oder retten. Er wird vom Moos befreit, Luft kühlt seine Hüften. Staub rieselt aus seinem Hemd, als man ihn aufrecht in die Höhe streckt. Jack sieht nun die Umrisse deutlicher, des Wesens, was ihn aufgehoben hat. Es besteht aus langem Haar und einem schmalen Gesicht. „Hallo Jack!“ Sein Herz setzt fast aus. Es ist Christines helle Stimme. Noch immer kann er sie nicht klar erkennen, aber verdammt, sie ist es! Sein Mund knackt. Ihm ist, als hätte ein Zentner Sägespäne seine Stimmbänder bedeckt, als er ihr antworten will. Zuerst kommt gar nichts aus ihm heraus. Dann ein tiefes, kratziges: „Ähm.“ Er hustet, er hustet ihr entgegen, dass es ein Wunder ist, dass er nicht splittert. Christine lacht. Nun sieht er sie schon deutlicher vor sich. Sie hat ein breites, überschwängliches Lachen. Ihre Augen glimmen vor Aufregung. Ihre Wangen sind entweder schon wieder angeschwollen, oder noch immer. Jack weiß das nicht. Er weiß nur, dass er seine Göre wieder hat!