Das Mondscheinkind
Da stand ich machtlos und geschockt vor dem Fenster. Niemand konnte sich das erklären und trotzdem war dies die Antwort auf alle Fragen. Ihr Leben lang musste sie leiden und ein ganz anderes Leben als wir führen, nun wurde sie endlich davon erlöst.
Ich hatte mich schon immer gefragt, wer in dem Haus gegenüber wohnt. Noch nie habe ich jemanden gesehen, das Haus zu betreten oder zu verlassen. Das Merkwürdige an all dem war, dass das Haus immer geschlossene Läden hatte. Eine Zeit lang dachte ich, das Haus sei unbewohnt, da es unvorstellbar ist ein Leben in der Dunkelheit zu führen. Niemand in der Nachbarschaft konnte sich das erklären, auch ich nicht. Doch schneller als gedacht, löste sich das Rätsel auf.
Ausgerechnet in dieser Nacht plagten mich meine Gedanken und ich konnte kein Auge zu machen. Ein Knirschen und Knacken riss mich aus meinen Gedanken. Vorsichtig bewegte ich mich in Richtung Fenster. Ich sah ein Mädchen etwa in meinem Alter, mit langem, lockigem Haar aus dem leblosen Hause kommen.
Ich ergriff das als einmalige Chance, endlich mal herauszufinden, wer das ist und
weshalb ich sie noch nie gesehen habe. Schnell zog ich mir eine Jacke über und machte mich auf den Weg. Ich lief ihr nach, mit der Hoffnung sie würde mich nicht bemerken. Es war ein langer Weg, den wir machten und ich wurde immer ungeduldiger. Wer ist dieses Mädchen? Wo will sie hin? Wo bin ich überhaupt? Zahlreiche Fragen beschäftigten mich und ich fand keine Antwort dazu. Auf einmal drehte sich das Mädchen um, da sie mich bemerkt hatte. Mit kleinen Schritten kam sie immer näher auf mich zu. Meine Beine fingen an zu zittern, da ich nicht wusste was mich erwarten würde. Wie sieht sie aus? Ich wurde von Zeit zu Zeit nervöser. Ihre Umrisse wurden immer klarer und langsam konnte ich ihr Gesicht sehen.
Da stand sie vor mir, mit ihren blauen Augen auf mich gerichtet und ihr warmer Atem auf meiner Haut spürend. Sie nahm mich an der Hand und lächelte mich an. Alles war dunkel nur die Sterne leuchteten am Himmel. Was mache ich nur hier, ich sollte mich nicht in der Nacht draussen aufhalten, schon gar nicht mit einem fremden Mädchen. Die Nacht war so klar und ruhig und meine Sorgen schienen wie weggeblasen. Wo bringt sie mich hin? Von meiner Angst war nichts mehr zu spüren obwohl das Mädchen fremd für mich war, sah ich in ihr etwas Vertrautes.
Sie führte mich an einen Ort, den ich zuvor noch nie gesehen habe. Sie schloss mir
mit ihren Händen meine Augen und flüsterte: „Denk nicht nach, geniesse einfach nur die Nacht.“ Was meinte sie damit? Nichts war zu hören ausser dem fernem Ton der Grillen und ihren Atemzügen. Noch immer hielt sie meine Hand in ihrer fest. Ich war weg von all meinen Gedanken und Sorgen und atmete nur noch die frische Nachtluft ein. Als ich nach einer Weile meine Augen öffnete war sie weg und die Sonne war schon leicht am Horizont zu sehen. Ich schaute mich nach ihr um, doch von ihr war keine Spur mehr da. Verwirrt lief ich nach Hause. Ich hatte so viele Fragen, die mir niemand beantworten konnte. Als ich vor meiner Haustür stehen blieb und auf das Haus gegenüber blickte, war wieder alles verschlossen und dunkel.
Erst heute merke ich was für ein tapferes Mädchen sie eigentlich war, so stark und mutig.
Noch in der darauffolgenden Nacht, um die gleiche Zeit, machte ich mich wieder auf den Weg. Lief an den wunderschönen Ort und hoffte, das Mädchen wiederzusehen. Da weilte sie auch schon unter dem Sternenhimmel. Vorsichtig setze ich mich zu ihr. Wir schauten uns tief in die Augen und sie lächelte mich an. Von diesem Augenblick an wurden wir Freunde. Gemeinsam betrachteten wir den Sternenhimmel und genossen einfach nur die Nacht. Die Luft war kühl und rein, kein Auto war zu hören alles war still. Ich bin kurz eingeschlafen und als ich von den warmen Sonnenstrahlen geweckt wurde, war sie schon wieder verschwunden.
Ich denke noch oft an sie. Vor allem an Tagen wie diesen, wo ich mich liegend von der Sonne erwärmen lasse und auf die prachtvollen Herbstblätter blicke. Sie hat so viel von ihrem Leben verpasst. Manchmal versuche ich mich in ihr Leben hineinzuversetzen. Ich glaube, ich könnte niemals ein solches führen.
Das Mädchen liess mir den ganzen Tag keine Ruhe, sie wirkte so geheimnisvoll und irgendetwas steckte dahinter, ich wusste nur nicht was. Ich konnte es kaum erwarten bis es Nacht war. Ich starrte nur noch hinaus und wartete bis die Nacht ausbrach.
Endlich war es wieder so weit und ich verschwand in das dunkle Nachtleben. Ich lief wie jede Nacht an denselben Ort, wo auch wieder das Mädchen auf mich wartete. Ich versuchte diese Nacht ihr Geheimnis herauszufinden. Doch als sie mich wieder an der Hand nahm und mich an einen ganz anderen Ort führte, vergass ich wieder alles um mich herum. Sie brachte mich auf eine Wiese mit einer Schaukel. Ich hatte das Gefühl zu fliegen, es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit. Ich kannte dieses Mädchen nicht, doch ich fühlte mich wohl mit ihr wie noch nie zuvor. Wir haben nie richtig miteinander geredet, trotzdem spürte ich eine besondere Verbindung zu ihr. Meine Neugier, betreffend ihre Lebensweise, weckte in mir sicher auch ein Interesse an dieser Verbindung. Mit der Zeit wurde das Treffen, jede Nacht am selben Ort, zur Gewohnheit. Durch ihr entdeckte ich die schönsten Seiten der Nacht und somit eine ganz andere Art des Lebens. Der Alltag war nicht mehr wie gewohnt. Die Nacht lernte ich auch aus einer anderen Sicht kennen. Die Verbindung zwischen uns wurde von Zeit zu Zeit immer stärker und wir wurden gute Freunde, vielleicht sogar ein bisschen mehr als nur Freunde.
Als langsam wieder die Sonne am Horizont auftauchte, konnte ich Angst und Trauer aus ihren Augen herauslesen. Schnell rannte das Mädchen von mir weg ohne etwas zu sagen. In dieser Nacht, hatte ich das Mädchen das letzte Mal gesehen.
Das Schicksal kam schneller als erwartet. Auf einmal löste sich das Geheimnis von selber auf.
Es war eine stürmische Nacht, Blitz und Donner hinderten mich das Haus zu verlassen. Am nächsten Morgen wurde ich vom Sonnenlicht geweckt, welches direkt in mein Gesicht schien. Ich schaute aus dem Fenster und alles war verwüstet. Ich erblickte, wie das Sonnenlicht, durch ein Loch in den Läden, in das Haus des Mädchens drang. Ich stand da wie versteinert und Tränen rollten mir übers Gesicht.
Noch heute gehe ich nachts hinaus, wenn ich mich von meinen Gedanken losreissen will und noch immer spüre ich sie neben mir, obwohl sie mich schon längst verlassen hat.