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Das Morgengrauen (feat. Katla)
Ein Mädchen ganz müde, der Rock zerknittert, das Stofftier im Arm zerschlissen. Sie saß am Tisch, wartete ... um sie herum Stille. Und nur ein leises Tropfen, stetig. Ihr Kopf sank nach vorn - nicht auf Holz, sondern in warme Nässe. Das Abendessen hatte sie wieder nicht aufgegessen, aber so viel ... sie drückte das Tierchen an sich - zum Frühstück würde sie es noch mal versuchen. Gemütlich wurde es fast, sie war beruhigt. Ein bisschen süßlich roch es hier, aber das störte sie nicht. Und es war sogar noch warm, ob das wohl bis zum Morgen so bliebe?
"Was hältst du davon, Käpt'n Kommissar?", fragte sie ihren Stoffteddy. Die Antwort war ein toter Blick aus glasigen Augen. "Du solltest nicht soviel saufen, Kollege", murmelte sie mehr für sich. Gedankenverloren machte sie sich daran, mit Käpt'n Kommissar die Lache vor sich auf dem Boden aufzuwischen. Sie wusste nicht, was er davon hielt und ob das ethisch korrekt war, doch da sie nie ein Wort der Gegenwehr von ihm hörte, störte sie sich nicht weiter daran.
Etwas tropfte ihr dabei in die Haare, ach, was machte das jetzt noch. Der Teddy wand sich fast unmerklich in ihrem Griff, ein Quieken kam aus dem Inneren, jedes Mal wenn er über den Boden gepresst wurde. "Käpt'n Kommissar", mahnte sie ihn, "ich sag Dir, keine Meuterei!" Ganz nass war das Stofftier schon, nie würde das Fell ausreichen. "Ich kann mich am Tisch einfach nicht benehmen", klagte das Mädchen weinerlich. Dabei stand sie auf, riss sich noch ein Stück vom Essen ab, das sich auch schon nicht mehr wehrte.
"Siehst du das, Kommissar?!", versetzte sie, frecherweise den formalen Titel auslassend. "Ich ESSE!"
Käpt'n Kommissar verfolgte mit stummem Blick das Geschehen.
"Du schweigst, du irrer Kerl?!", schrie sie nun fast, ein wahnsinniges Glitzern in ihren Augen. "Oh Unheilvoller, welche Qualen du mir auferzwingst. Sieh nur gut hin, ich stopfe ja schon so gut ich kann." Wie zum Beweis drückte sie ihre dünne Hüfte zusammen, um ihm zu zeigen, dass wirklich kein Platz mehr in ihr war. Mit ihren nun gefüllten Hamsterbacken war sie sicher ein sehr komischer Anblick, doch Käpt'n Kommissar war Profi, und nicht der Typ, der bei einem sehr komischen Anblick gleich in Lachen ausbricht.
Ein Knöchelchen stellte sich in ihrer Kehle quer, und obwohl sie sich redlich bemühte, war das Husten nicht zu unterdrücken. Den Käpt'n traf ein Schwall halbzerkautes Nasses. "Öhem", ließ er höflich vernehmen, doch ihr war das nicht entgangen - verflogen die Schwäche, die Müdigkeit, sie schüttelte das kleine Wesen. "Wollen wir spielen?", fragte sie mit einem gemeinem Unterton. "Eene meene muh und raus ... bist du!" Ihr befleckter Finger zeigte auf ihn, zitternd vor Erregung. "Nur geschummelt", wollte Käpt'n noch sagen, da spürte er einen Finger am Auge polken. Mit der Glaskugel zog sich ein langer Faden heraus.
"Ein Faden aus Baden las einen Roman, nen faden, und ging danach baden!", sang Sophie, wie wir unsere seltsame Protagonistin nun nennen wollen, irre vor sich hin, während sie das Glasauge in ihrer Hand bewundernd anschaute. Sie ließ es mal hierhin, mal dahin rollen, während ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte. "Ui guck mal, der Faden kommt aus dir heraus, und der hier kommt aus mir heraus, erkennst du die Parallele, ERKENNST DU SIE? Oder findest du sie ... äußerst fa-den-schei-nig?"
Mit sich und ihrem Werk zufrieden, lutschte sie eine Weile an der Murmel. So sehr sich der Käpt'n auch bemühte, er wusste keine Antwort, die Sophie besänftigen könnte. Zwischen ihren Fingern hindurch, halberwürgt im festen Griff, argumentierte er weinerlich: "Du weißt genau, was passieren wird, wenn Tante Agatha dich erwischt. Das letzte Mal musstest du in den Keller, wo es noch viel dunkler und einsamer ... wo die Spinnen ..."
Sophie kicherte irre, und spuckte das Auge in ihr Essen. "Du machst mir keine Angst, Kommissar", sprach sie und setzte den Käpt'n auf den Tisch. "Denk scharf nach, wir müssen das hier lösen." Das Abendessen versuchte derweil, den lästigen Teddy abzuschütteln, jedoch mit wenig Erfolg.
Sophie wurde eines Geräusches gewahr, was sie dazu veranlasste, sofort zum Wasserhahn zu laufen und ein Glas mit dem köstlichen Nass zu füllen. Sie stellte es voller Vorfreude auf den Tisch und betrachtete es glücklich. "Siehst du das, Käpt'n Kommissar", sprach sie andächtig, den Teddy an sich schmiegend. "Das ist voll so wie in Jurassic Park, ne", ergänzte sie, noch immer das Glas mit der wallenden Wasseroberfläche betrachtend.
Der Türknauf wurde gerüttelt, und langsam öffnete sich die Tür. Herein kam ein ... Tyrannosaurus Rex! Oh mein Gott, wie konnte das nur passieren?! Nein nein, es war nur Tante Agatha, aber genauso gut hätte man sagen können, nein nein, es war nur ein Tyrannosaurus Rex, denn Tante Agatha war so schlimm wie ... ja.
Der Boden erbebte unter ihren Schritten, Sophie stieß einen schrillen Schrei aus, und hechtete unter den Tisch, von dem es immer noch zäh heruntertropfte. Unvorhergesehen gesellte sich das Abendessen zu ihr; auseinandergenommen wie es war, schmiegte es sich ängstlich an Sophie. Um sie herum kamen die Schritte des Rex Agatha immer näher. Der Käpt'n schüttelte sich, zwischen Mädchen und Fleisch gequetscht. "Seien Sie bitte nicht so unhöflich", flüsterte das Abendessen, "wir sitzen schließlich alle in einem Boot."
"Ich bin ja auch der Kapitän, und nicht der Steuermann", näselte der Kommissar feucht, als ein Schlag den Tisch über ihnen erzittern ließ.
"Bin dahaa, wer noohoooch?!", ließ sich ein brummiger Bass vernehmen. "Wo SEID ihr, ihr kleinen RACKER. Ich möchte euch AUFESSEN, äh ich meine, VERSPACHTELN, äh ich wollte sagen ... ich hab den FADEN verloren."
Plötzlich machte es "Klick" in Sophies Gehirn. Die Jahre der Unterdrückung machten sich nun bemerkbar. Unberechenbarkeit ist eine merkwürdige Sache, sie erwischt einen immer ganz unvorbereitet. Sophie sah die Welt wie durch einen pissgelben Schleier, als sie wie von einer fremden Macht geleitet unter dem Tisch hervor- und sich auf Tante Agatha stürzte. Letztere riss in Zeitlupe ihre Augen auf (ein sehr lustiger Anblick und ein ganz schönes Paradoxon, mit besten Grüßen an die Literaturkritiker unter Ihnen) und wie in Zeitlupe taumelte sie einen Schritt zurück, was ziemlich dumm war, denn Sophie bewegte sich natürlich weiterhin in Echtzeit. Ihr linker Haken landete zielsicher an Agathas Kinn und brachte diese zu Fall.
"Käpt'n Kommissar, DEIN Auftritt", schrie Sophie dem entgeistert dreinblickenden Teddy zu. Dieser besann sich schnell, und während Sophie die Titelmelodie von Magnum beatboxte, rannte er auf Agatha zu und stürzte sich auf sie.
Das Abendessen konnte sich nun auch nicht mehr halten. Es kletterte zurück auf den Tisch, rief enthusiastisch "Sauhaufeeeeeeen" und machte einen Frogsplash auf die ineinander verkeilten, am Boden liegenden Gestalten.
Dabei bekam es die Überreste seines linken Beines in Agathas Reißzähne, und schnapp - wurd's in einem Stück geschluckt. "Autsch, mieses Dreckstück!", schimpfte das nun beinlose Essen und robbte auf dem Bauch zum Geschirrschrank, um sich stilgerecht zu bewaffnen.
[Parallelhandlung Anfang] Verwirrt von der plötzlichen Musik und seinem Monoblick, verfehlte Käpt'n knapp das Ziel, sein linker Uppercut glitt an der Reptilienhaut ab - Agatha fauchte, dolchartige Zähne blitzten, und ein Teddyarm fiel zu Boden.
"Das gibt Invalidenrente", versuchte Sophie ihn zwischen zwei Boxhieben zu beruhigen, doch der Käpt'n überlegte bereits, wie er unaufällig desertieren könnte [Parallelhandlung Ende] ... und geriet beim ungeordneten Rückzug unters heranspringende Abendessen. Kleine Teddyfusseln verteilten sich im Gematsche.
„Was soll diese sinnlose Gewalt“, sinnierte Sophie plötzlich und unterließ jegliche Kampfhandlung. Sie setzte sich in Philosophenhaltung hin und betrachtete all das sinnlose Leid, das hier in so kurzer Zeit verursacht worden war.
"Du bist wirklich saublöd", sagte Agatha, die die Situation schamlos ausnutzte, und Sophie den Kopf abriss.
Eine Blutfontäne schoss in perfektem Bogen aus dem Halsstumpf, als Sophie orientierungslos durch das Zimmer torkelte. "Bin ich gar nicht", nölte der Kopf noch, als er zwischen den Kiefern des Rex zerquetscht wurde.
"Jaja, jetzt weißt du mal, wie das ist, ohne Augen und überhaupt", belehrte der Käpt'n die Enthauptete, während er versuchte, nicht unter ihren Füßen zertreten zu werden.
"Bettgehzeit! Gib endlich Ruhe, ungezogenes Gör!", fauchte Tante Agatha, und langte herzhaft zu. Ihre Vorderfüßchen bekamen Sophies Rockzipfel zu fassen, das Raubtiermaul schloss sich um die gertenschlanke Taille des Mädchens - ein Biss und nur die Beine fielen noch zwischen den Zähnen heraus.
"Hm, die kann ich doch gebrauchen", dachte sich das Abendessen, und vergaß für einen kritischen Moment seine Messersammlung.
"Käpt'n Kommissar, let's get out of here!", motivierte sich der Teddy selbst und sprang zum Fenster hinaus.
Und in diesem Moment zertrat die Hinterpranke der Agatha Rex den Oberkörper des unaufmerksamen Abendessens. Die Tante warf kokett den Schädel zurück: "Pah, die Beine hätten dir eh nicht gepaßt." Sprach's, und ging zu Bett. Der Käpt'n sollte zwar nie die Versehrtenrente bekommen, jedoch hatte er nun immer eine schöne Gute-Nacht-Geschichte für seine Kinder und Kindeskinder parat.