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Das Orakel

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12.05.2005
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Das Orakel

Tilman Rübsam ist ein begabter Pianist. Auch wenn er nicht zu den ganz Großen seines Fachs gehört, so wird seine Kunst von Kollegen, Kritikern und Publikum doch gleichermaßen hoch gelobt.
Besonders die Interpretation der Werke klassischer Meister gelingt ihm vortrefflich.
Als Rübsam mit dem täglichen Üben beginnt - er hat in wenigen Tagen einen wichtigen Klavierabend zu geben - ahnt er noch nicht, dass mit dem heutigen Tag der schwärzeste in seiner Pianistenkarriere gekommen ist
Alles fing damit an, dass er am Vormittag beim Stöbern auf dem Dachboden eine Büste des von ihm so hoch verehrten Beethoven fand.
Sogleich erinnerte er sich an die Geschichte, die mit dieser Büste verbunden ist, dass sie einmal seiner geliebten Großmutter gehörte, die selbst eine begeisterte Klavierspielerin war und eine besondere Vorliebe für das Werk des großen Beethoven besaß, und dass diese Büste auf dem alten, schwarzen Klavier, das er von der inzwischen verstorbenen Großmutter erbte, einen festen Platz hatte. Stets stand sie - er hat es noch vor Augen - auf der linken Seite des Instruments, von Wand und Abgrund gleichermaßen weit entfernt, und durfte nicht um einen Zentimeter verschoben werden.
Rübsam beschließt nun der Büste ihren angestammten Platz zurückzugeben und sich somit auch ein allzeit sichtbares Andenken an seine Jugendzeit und an die mit seiner Kunst so eng verbundene Großmutter zu schaffen.
Also reinigt er die Gipsfigur von allerlei Spinnweben und Staub, die sich im Lauf der Jahre darauf eingenistet haben, und stellt sie auf das Klavier.
Auch wenn sein Instrument äußerlich noch das Gleiche ist, welches schon seine Großmutter spielte, so hat sich bei dessen Innenleben doch Einiges geändert. Es wurde, um der höheren Beanspruchung durch den Pianisten standzuhalten, gründlich überholt und ist im Klang nun wesentlich voller als es jemals zuvor war.
Und so beginnt er mit seinem Übungsprogramm und schaut dabei abwechselnd auf Noten und Büste.
In der Stimmung seliger Erinnerung an seine Jugend spielt er zuerst ein Stück, das er früher auf dem Klavier seiner Großmutter oft zu spielen pflegte, wofür man ihn, den begabten und fleißigen Musikus, auch allseits lobte.
Schon nach wenigen Takten bemerkt er, dass sich die Büste in Bewegung setzt.
Offensichtlich getrieben von den Vibrationen seines Instruments tritt die Büste eine zwar langsame, aber doch stetige Reise zur Wand an und erreicht diese mit dem letzten Ton, wobei man beim Anstoßen ein leises "klack" vernehmen kann.
Rübsam misst diesem Ereignis keine besondere Bedeutung zu. Er hat das Klavierstück so schön wie selten zuvor gespielt und legte sich nun in seiner Musizierlaune bereits die Noten für das nächste Stück zurecht. Und die Büste erhält den eigentlich zugewiesenen Ort wieder zurück.
Auch dieses zweite Opus, ebenfalls ein Werk aus der Zeit seines jugendlichen Musizierens, gelingt ihm exzellent. Zwar hat die Büste den gleichen Weg zurückgelegt, wie schon zuvor, aber Rübsam nimmt dieses Geschehen nur insofern zur Kenntnis, als er den Ausreißer erneut umsiedelt.
Dieses Geschehen wiederholt sich einige Male: Rübsam spielt in gekonnter und wunderbarer Weise leichte Werke aus den Anfangszeiten seines musikalischen Werdegangs, und die Büste setzt sich in Bewegung, bis sie nach dem "klack" wieder auf dem alten Platz landet.
Um sich die ständigen Rückholmanöver zu ersparen hätte der Musiker den alten Beethoven eigentlich an dem von ihm angesteuerten Wandplatz belassen können, aber er war inzwischen neugierig, ob das Erbstück wirklich jedes Mal den Gang zur Wand antritt.
Doch schon beim nächsten Stück ändert sich die Lage.
Rübsam probiert ein Werk aus, welches er für eines seiner Konzerte im nächsten Jahr noch lernen muss. Bisher noch ungeübt, mischen sich viele falsche Töne in die Musik. Hier scheint er also noch viel Arbeit vor sich zu haben. Aber er hat ja keine Zuhörer. ...mit Ausnahme Beethovens.
Rübsam muss nun zusehen wie sich sogleich der einzige Zuhörer in Bewegung setzt. Diesmal allerdings nicht in Richtung Wand, sondern schnurstracks auf den Abgrund zu.
Als die Büste diesem schon bald so bedrohlich nahe kommt, dass der Absturz nur noch eine Frage von wenigen Tönen zu sein scheint, unterbricht Rübsam jäh sein stammelndes Spiel, ergreift Beethoven und stellt ihn mit einem heftigen Stoß wieder zurück und spielt anschließend dort weiter, wo er aufgehört hat.
Doch nach bereits kurzer Zeit ist es wieder soweit: Die Büste muss vor dem tiefen Fall gerettet werden.
Ist dies Zufall? Rübsam kommt ins Grübeln. Ist es Zufall, dass eine lächerliche Gipsfigur beim guten Spiel nach hinten und bei unzulänglichem nach vorn marschiert?
Schon jetzt wünscht Rübsam, er habe den Vormittag nicht mit dem Stöbern auf dem Dachboden verbracht. Schließlich wollte er nur schauen, ob er unter all dem alten Gerümpel, welches ihm seine Großmutter hinterließ, noch etwas Brauchbares oder sogar Wertvolles finden könne.
Und seine Neugier zwingt ihn nun dazu weiterzumachen. Herauszufinden, ob alles nur ein harmloser Zufall ist, oder ob die Büste doch auf irgendeine undurchschaubare Art imstande ist, gutes von schlechtem Klavierspiel zu unterscheiden.
Rübsam legt nun verschiedene Noten auf. Stücke, die er allesamt gut beherrscht und deren Vortrag bereits gute Kritiken bewirkt haben; aber auch solche, die besser nicht außerhalb des Zimmers gehört werden sollten.
Und jedes Mal reagiert die Büste so, wie bisher: Gutes Spiel endet mit dem "klack" an der Wand und schlechtes mit dem rechtzeitigen Auffangen vor dem Absturz.
Dabei stellt Rübsam fest, dass die Büste den Grad der akustischen Qualität offensichtlich durchaus genau zu unterscheiden vermag. Besonders beeindruckendes -aber auch besonders übungsbedürftiges- Musizieren gibt ihr nämlich wesentlich größeren Schwung als eine bloß mittelmäßige Interpretation.
Ein vernünftiger Mensch hätte dem Spuk an dieser Stelle ein Ende bereitet und das Unerklärliche auf sich beruhen lassen.
Nicht so Tilman Rübsam. Er ist eine Spielernatur -in jeder Hinsicht- und will es jetzt wissen!
Mit zitternden Fingern ergreift er das Notenheft der Stücke, die er bei seinem nächstwöchig bevorstehendem, wichtigen Klavierkonzert spielen wird, und legt es sich zum Spiel zurecht.
Schon nach wenigen Tönen durchfährt ein Entsetzen seinen Körper und zieht sich lähmend hin bis in die vordersten Glieder seiner Finger: Beethoven setzt sich in Bewegung! Doch nicht nach hinten, was seinem Spiel die bestätigende Sicherheit verliehen hätte, sondern nach vorn. Geradewegs dem bereits wartenden Abgrund entgegen. Und dies, wie von Geisterhand bewegt, in einem solch schnellen Tempo, dass er seinen Vortrag -kaum hat dieser begonnen- auch schon wieder unterbrechen muss.
Dieser Vorgang wiederholt sich mehrere Male und steigerte sich gar noch.
Schließlich kann er kaum noch in die Tasten langen, ohne dass die Büste - schon in offensichtlicher Warteposition - sich gleich darauf geschwind auf ihren Weg macht. Und dies zunehmend schneller, was den
armen Pianisten ebenso zunehmend mehr in Erstarrung versetzt.
Und dann passiert das, was passieren muss.
Genau mit dem letzten Akkord seines Konzertprogramms gleitet die Büste mit solch unberechenbarem Vorwärtsdrang, dass Rübsam es nicht mehr schafft, sie vor dem Absturz zu bewahren, und die Scherben des Erbstücks verteilen sich auf dem weiten Fußboden des Raumes.
Fassungslos starrt Rübsam die Überreste des Gegenstandes an, der ihn in den letzten Stunden so arg peinigte, und der sich nun - offenbar um sich der Verantwortung für seine Urteile zu entgehen - selbst zerstört hat.-
Die Kritiker schreiben fortan nicht mehr über den begabten Pianisten, der sein wichtiges Konzert -wie übrigens auch allen weiteren Konzerte- abgesagt hat. Er soll eine Boutique für Herrenbekleidung eröffnet haben. Irgendwo in der Altstadt.

 

Hallo Amadeus,

herzlich Willkommen auf Kurzgeschichten.de!

Die Idee zu deiner Geschichte finde ich gut. Eine Beethoven-Büste, die gutes von schlechtem Klavierspiel zu unterscheiden vermag und den Künstler am Ende so verunsichert, dass er sein wichtiges Konzert aufgibt.
Ein wenig unlogisch fand ich, dass der Pianist nicht selbst in etwa einschätzen kann, wie gut sein Spiel ist. Normalerweise haben diese Leute ja ein sehr gutes Gehör und merken selbst, wenn etwas nicht so ganz hinhaut.

Nicht gefallen hat mir der Stil. Ich fand ihn viel zu hochgestochen und unpersönlich. Eine etwas "einfachere" Sprache hätte mir hier wesentlich besser gefallen. Ist sicherlich Geschmackssache, aber vielleicht wartest du noch darauf, was andere Leser dazu sagen.

LG
Bella

 

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