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Das Pfandleihhaus
Ihre Hand umschlang die alte verrostete Türklinke und drückte sie herunter. Die Tür glitt mit einem lauten Knarren auf und entblößte einen kleinen, schwach beleuchteten Raum.
Susan Hofer betrat mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem unsicheren Gesichtsausdruck das Pfandleihhaus am Ende der Kästner-Straße, während nicht weit entfernt Autos hupten und Kinder spielten und lachten. Sie war noch recht Jung, keinesfalls älter als fünfundzwanzig Jahre. Ihr brünettes, schulterlanges Haar, das ihr zum Teil die rechte Gesichtshälfte verdeckte, warf durch das schwache Licht des Ladens einen tiefen Schatten auf ihr sonst so hübsches Gesicht und lies es ungewöhnlich finster wirken.
Die Wände in dem Laden waren fast vollständig hinter Regalen und Schränken verborgen, auf denen allerlei Dinge standen. Gegenüber der Tür war eine von einer Rauchschwade umhüllte, kleine Theke.
Susan schritt langsam auf diese zu, während sie das Sammelsurium um sie herum genauestens musterte. Ihre Unsicherheit war von ihrem nun erwartungsvoll wirkendem Gesicht verschwunden.
„Kann ich etwas für dich tun, mein Kind?“
Susan zuckte beim Klang dieser Worte leicht zusammen und sah etwas verwirrt zu der eben noch verlassenen Theke hinüber. Ein älterer Mann mit Halbglatze, unter dessen Shirt ein nicht zu übersehender Bierbauch hervorlugte, war hinter der Theke erschienen und sah Susan jetzt fragend an, während er einen kräftigen Zug von seiner Zigarette nahm.
„Oh, Hallo. Nun ja, ich…“, fing Susan an, doch sie verstummte, als ihr Blick beim vorbeifliegen auf ein breites Regal direkt neben der Theke fiel. Nach einem kurzen Zögern ging sie darauf zu und las einen kleinen Gegenstand davon auf.
Es war eine goldene, reich verzierte Taschenuhr, bei deren Anblick Susan glasige Augen bekam.
„Ja, wahrhaftig, das ist sie…“, murmelte sie leise vor sich hin.
„Wunderschön, nicht war? Und vor allem wertvoller, als man auf dem ersten Blick meinen mag.“
Susan musste wieder zusammenzucken, als die kehlige Stimme des alten Mannes direkt neben ihr erklang. Er war, ohne dass sie es bemerkt hatte, von der Theke weg auf sie zugekommen.
„Oh, tatsächlich?“, fragte sie, da ihr auf die Schnelle nichts Besseres einfiel.
„Oh ja“, meinte der alte Kerl mit einem leicht verächtlichen Ton in der Stimme, wie Susan rauszuhören glaubte.
„Kaum zu glauben, dass ich sie für nur läppische Hundert bekommen hab“, erzählter er weiter, „von so nem’ verrafften Penner. Der hatte natürlich keine Ahnung, dass ich morgen bei der Versteigerung vermutlich das Dreißigfache, wenn nicht noch mehr, dafür bekomme“ Bei den Worten musste der alte kurz auflachen.
Er nahm Susan die Uhr aus der Hand, ohne das wütende Funkeln in ihren Augen zu bemerken, und legte sie wieder auf das Regal.
„Also wieso bist du nun hier, Kleines?“, fragte er mit eindeutig gespielter Freundlichkeit. Susan nahm ihren Rucksack von der Schulter und holte eine alte Kuckucksuhr aus diesem heraus.
„Dann lass mal seh‘n, Süße“
Sie reichte die Uhr dem alten Kerl.
Während er sie sich betrachtete, fiel Susans Blick wieder auf die Taschenuhr auf dem Regal vor ihr.
„Ich kann dir höchstens Hundert dafür geben, und das ist schon ziemlich großzügig von mir“, meinte der alte nach einiger Zeit schließlich.
„Hundert sind in Ordnung“, antwortete Susan abwesend. Sie hatte sich von dem Regal abgewandt und schaute nun auf ihre alte Kuckucksuhr, die fünf Minuten vor zwölf Uhr anzeigte.
„Dann sind wir ja im Geschäft.“ Der alte ging wieder zur Theke und holte dort zwei Fünfziger heraus.
Er gab sie ihr und sagte, Susan habe zwei Wochen, sie wieder abzuholen. Sie bedankte sich, warf nochmals einen letzten Blick auf ihre alte Kuckucksuhr (ihr großer Zeiger stand jetzt auf kurz vor zwölf) und verließ hastig das Geschäft.
Der alte Mann sah noch einen Moment zu, wie die Türe knarrend zufiel.
Mit einem widerwärtigen Grinsen im Gesicht wandte er sich der Kuckucksuhr zu, um sie auf einem freien Platz irgendwo auf einer der Regale zu verstauen.
Dabei schwebte sein Blick über das Regal neben der Theke, auf der vorhin noch eine wertvolle Taschenuhr gelegen hatte.
„Was zum Teufel..?“ Dann begriff er. „Oh, dieses verdammte Miststück“, zischte der alte.
In diesem Moment schlug die Kuckucksuhr punkt Zwölf.
Susan bog grade, die Hand fest um die alte Taschenuhr ihres toten Bruders umschlungen, mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht um die Ecke am anderen Ende der Kästner-Straße, als eine heftige Explosion in dem kleinen Pfandleihhaus hinter ihr die Geräusche der hupenden Autos und spielenden Kindern in der Nähe verschlang…