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Das Quietschen der Straßenbahn
Still ist es. Nur das Rauschen vorbeifahrender Autos dringt durch das geöffnete Fenster zu ihm hinauf, nur hin und wieder ist das Quietschen der Straßenbahn zu vernehmen, dessen Wesen er mehr und mehr entschlüsselt. Ganz schüchtern schleicht es sich heran, ist zwischen Motorenlärm und den in sich verhedderten Hintergrundgeräuschen der Innenstadt kaum hörbar, hebt dann höher und schriller werdend an, um dröhnend in seinen Ohren zu rauschen, bevor es wieder leiser wird und hinter Autoreifen auf Asphalt, Baumkronen im Wind, plappernden Fußgängern und lachenden Kindern verschwindet. Ein Straßenbahnquietschen eben. Ein einfaches, gewöhnliches, beim Schlafen nicht mehr wahrgenommenes Straßenbahnquietschen – das war es gestern noch. Heute aber, seit heute morgen, ist es ein Geräusch mit hundert Fassetten, ein Quietschen das sich im Herannahen dehnt und beim Davonstehlen wieder zusammenzieht, ein dröhnendes Quietschen, das zunehmend lästig wird, weil er es nicht ausblenden, nicht übertönen kann - nicht mit Musik oder Nachrichten aus dem Radio, nicht mit Bässen aus den Lautsprecherboxen, nicht mit dem Surren des Kühlschranks oder Stimmen aus dem Funktelefon. Denn seit heute Morgen lebt er ohne Strom. Leer sind die Kabel, die Steckdosen versiegt wie eine zu oft genutzte Quelle in der Wüste. Dieses unsichtbare Etwas, das sonst ganz selbstverständlich vorhanden ist wie die Luft zum Atmen, wie der Gedanke, der alles in Bewegung hält, fehlt seit heute morgen, seit nunmehr vier Stunden.
Lustlos blättert er in der bereits durchblätterten Zeitung, erfreut sich kurzzeitig am leisen Rascheln des Papiers, vertieft sich dann in einen Artikel, bis abermals die Straßenbahn vorbei rauscht und ein hohes Quietschen und ein blechernes Rattern in seinen Ohren hallt, das ihn schnell das Fenster schließen lässt. Die Stille jedoch, die nun ohne Hintergrundgeräusche auf ihn einschlägt, zwingt ihn geradezu es kurze Zeit wieder zu öffnen. Und erneut fährt ihm Minuten später das hohe Rattern und Surren und Fiepen in den Kopf und da springt er auf, betätigt mehrmals hektisch den Lichtschalter in der Hoffnung, das Warten habe endlich ein Ende, doch wird er wie unzählige Male zuvor enttäuscht. Noch immer gibt es keinen Strom! Es heißt warten! Und so setzt er sich wieder leise seufzend, liest wieder in der Zeitung, unterbrochen zwischendurch von hohen Quietschtönen, die ihn ein jedes Mal aufschrecken, liest eine Stunde später, als noch immer kein Strom fließen will, die Zeitung von vorn, liest schließlich selbst die Artikel, die nicht lesenswert sind, liest und blättert und liest, während das verhasste Geräusch immer wieder seine Küche ausfüllt, dabei stetig lauter und anhaltender wird und sich schließlich am frühen Nachmittag zum alles beherrschenden Lärm aufspielt, der nichts neben sich bestehen lässt. Überall ist das Dröhnen, schallt von Wand zu Wand, rast in seinen Ohren, nimmt ihn vollkommen ein und benötigt schier endlos, bis es endlich wieder verklingt.
Als es wieder still ist, legt er die zerpflückte Zeitung entnervt zum Altpapier. Lustlos verspeist er ein paar kalte Toasts, lässt dann seinen Blick gelangweilt umherschweifen, entdeckt Krümel auf dem Tisch und fegt sie zu Boden, verlässt irgendwann die Küche, schlendert in den Flur, danach ins Bad. Haare finden sich auf dem Waschbeckenrand, die er einzeln entfernt. Ein Blick in den Spiegel. Keine Antwort kommt zurück. Weiter ins Wohnzimmer. Eine feine Staubschicht bedeckt das Regal, in die er Muster mit dem Zeigefinger malt. DVDs stehen im Regalfach nebeneinander, die er zurechtrückt auf eine Reihe, um sie anschließend wieder in die vorherige Ungleichmäßigkeit zu schieben. Auf dem Schreibtisch wartet seine Tastatur. Er legt die Hände darauf, beginnt Buchstaben zu tippen. Wörter bilden sich, Sätze entstehen, die sofort wieder verflogen sind, Zahlen und Zeichenketten und Tastenkombinationen gibt er ein, die wirkungslos bleiben, Befehle verhallen ungehört - sein Rechner kann sie nicht entgegennehmen. Unfähig ist der graue Kasten zu reagieren, starrt ihn nur traurig an mit seinem riesigen schwarzen Zyklopenauge und bittet geradezu flehentlich darum, endlich wieder das Wesen sein zu dürfen, das Leben in die Lautsprecherboxen bringen kann, das Hip Hop und Dance und Reggae auflegt, wenn er es wünscht, das mit ihm Filme anschaut und mit ihm Internetseiten besucht und ihm Youtube-Videos zeigt und ihm ein guter Zuhörer und wissender Ratgeber und enger Vertrauter und treuer Freund ist. Zurückhaben will er den Freund! Hier und Jetzt! Will ihn zurückrufen, ihn wachrütteln, will ihn anschreien und anbetteln, will endlich wieder Strom! Strom will er! Und als abermals die Straßenbahn unter dem Fenster vorbei rauscht, reißt er herum, läuft hektisch getrieben im Zimmer auf und ab, das Kreischen im Ohr, das sich mit seinem Schrei an den toten grauen Kasten vermischt.
Dann ist es wieder still. Müde lässt er sich gegen die Wand im Flur sinken, schaut geradeaus vor sich hin und verliert sich irgendwann in den Vertiefungen und Erhöhungen der Raufasertapete, verfolgt eingehend die unregelmäßige Struktur, bis er die Unebenheiten nicht mehr erkennt, weil das Licht trüber, weil es bereits später Nachmittag geworden ist, wie er überrascht feststellt. Und er hat noch immer keinen Strom - er weiß es, als er den Lichtschalter betätigt und die Glühlampe noch immer kein Lebenszeichen von sich gibt. Und so rafft er sich auf, sucht in Schubladen und Regalen nach Kerzen, und weil er in der Wohnung keine finden kann, eilt er in den Keller, läuft schnell die Treppe hinab und dabei einem der Hausbewohner direkt entgegen, der ein Päckchen Kerzen in den Händen hält. Sogleich erhält er eine handvoll, als er leise murmelt, er sei ebenfalls auf der Suche nach Kerzen, und bedankt sich freundlich bei dem Nachbar, der sein Lächeln ebenso freundlich erwidert. Ein paar Minuten bleiben sie so im Hausflur stehen, wortlos einander anlächelnd, dann, als sich das Schweigen unangenehm in die Länge zu ziehen droht, kehrt er in seine Wohnung zurück.
Es ist nun fast vollkommen dunkel, als er den Flur betritt, und intuitiv tastet er nach dem Lichtschalter, weniger in der Hoffnung, die Glühlampe werde tatsächlich Licht spenden, vielmehr ist es eine unbewusste Geste, die ganz selbstverständlich als Reaktion auf die Dunkelheit abgespult wird – und umso größer ist seine Überraschung, als alles um ihn herum in Licht getaucht ist. Er kann es nicht fassen. Geblendet kneift er die Augen zusammen, drückt ungläubig den Schalter erneut - jetzt ist es wieder dunkel -, betätigt ihn noch einmal - da ist es wieder hell. Er grinst. Es ist vorbei! Er lacht, lässt die Kerzen achtlos auf den Boden fallen, stürmt durch die gesamte Wohnung und erhellt alle Räume, schaltet Radio und Fernseher ein und dann, endlich, endlich, endlich, betätigt er den Power-Knopf des freundlosen Kastens, woraufhin ein Surren und Summen den Raum ausfüllt, das ihn glücklich macht. Ja, in diesem Moment, als weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund eilig nach oben läuft, ist er glücklich.