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Das Rätsel von Kittanga
Friedrich saß an einem der Blechtische und schlürfte genüsslich an seinem gut gekühlten Lamirre. Die Mittagshitze war erträglicher hier oben als im schwülen, vibrierenden Bosafa. Staunend betrachtete Friedrich die märchenhaften Formen der Bergketten und das fruchtbare Tal, wuchernd von exotischer Üppigkeit. Die Terrasse bot wahrhaftig eine einzigartige Aussicht über das idyllische Dörfchen. Er konnte sich kaum sattsehen an den eng übereinander verschachtelten weißen Häusern, den gepflegten Gemüsegärten und den schattigen Gassen, wo sich Kinder tummelten und Nachbarn gemächlich zum Plausch stehenblieben. Fern waren der Lärm und die Hektik von Bosafa, wie verflogen das ermüdende Gefühl, als Fremder stets auf der Lauer zu sein. Hier in Kittanga fühlte er sich sicher, unter das Volk gemischt. Die Einwohner beachteten den Besucher nicht. Sie ließen ihn sein. Auf der großzügigen Terrasse des Cafés spielte sich das Dorfgeschehen ab. Die schattenspendenden Magnolien hatten die Geschichte seit vergessenen Zeiten beobachtet. Friedrich lauschte dem melodischen Klang der Stimmen und war fasziniert von den ausdrucksvollen Zügen der Männer in ihren traditionellen Gewändern. Hier wurde Karten und Domino gespielt, dort wohl Geschäfte gemacht und rund umher diskutierte man aufgeregt die jüngsten Ereignisse des vielfach gespaltenen Staates.
Die Benganer des Nordens, die nicht ins Nachbarland geflohen waren, hatten sich organisiert und in der Provinzhauptstadt Kungar einen Protestmarsch veranstaltet, der von der Shimpolizei blutig niedergeschlagen wurde. Aus Solidarität zu ihren Stammesverwandten hatten die Kalesen im Südwesten die Shim in Torlik verfolgt, ihre Geschäfter beschädigt, die Frauen geschändet und etwa ein Drittel der Männer ermordet. Die westlichen Medien übertrugen leichengepflasterte Straßen und schmerzverzerrte Gesichter. Die Weltmächte schürten die Unruhen im Namen des Friedens und der Demokratie und einigten sich unwillig über die Verteilung der Schätze des reichen, geplagten Landes. Der Präsident versicherte, dass er die Situation firm in der Hand habe und kein Grund zur Besorgnis bestünde, während er die Zügel dem Verteidigungsminister anvertraute und seine reichlichen Habseeligkeiten seinem Verwalter in einem fernen Alpenland.
Friedrich war Student politischer Wissenschaften und hatte im letzten Semester ein Seminar über die aktuelle Situation in Zandosien belegt. Gefesselt von Machtspielen, Intrigen, Idealen und Ilusionen, hatte sich in ihm eine Phantasiewelt aufgebaut, die ihm bei kaltem Kaffee und schlecht übersetzten Manuskripten den Schlaf raubte. So beschloss er, sich eigenhändig von der Existenz dieses einzigartigen Ortes zu überzeugen, und mit Hilfe des zandosischen Seminaristen, Sulime, den Schauplatz des faszinierenden Geschehens zu bereisen.
Von Bosafa war er bitter enttäuscht. Keine mächtigen Paläste ragten über ihm, sondern trostlose Wohnblöcke. Keine weise Zivilisation fand er vor, doch einen Ameisenhaufen gehetzter Passanten. Seine Erwartungen wurden erstickt von den Abgasen, die sich mit dem Unbehagen des unerfahrenen Reisenden vermischten. Nur Sulimes Studenten und Freunde, die in den Cafés ehrgeizig ihre Sprachkenntnisse zur Schau stellten und dabei Friedrich in die verborgensten Geheimnisse der politischen Intrigen einweihten, sättigten seine Begierde, sich am Schauplatz des Geschehens zu wissen.
Sulimes Cousin hatte ihm den Ausflug nach Kittanga organisiert, und Friedrich war dankbar für die Abwechslung, angeregt von der spektakulären Kulisse und fasziniert von den Bewohnern. Neugierig, wie die Zeitgeschichte wohl hier in einem Bergdorf zerredet wurde, beobachtete er die Männer an den umliegenden Tischen. Dort schallte ein ironisches Lachen, hier herrschte ein seriöser Unterton, und die Gruppe neben dem Tresen lauschte mit Spannung den Ausführungen eines respektierten Alten mit schneeweißem Bart. Die Menschen in Kittanga sprachen ruhiger, leiser als in Bosafa. Sie mussten den Verkehrslärm nicht übertönen. Gerade als ihm das bewusst wurde, hörte Friedrich aufgeregte Stimmen vom anderen Ende der Terrasse. An einem der Tische hatten vier Männer sich in einen lautstarken Streit verwickelt. Sie trugen den traditionellen Suntang der Landsmänner. Die erhitzten Gemüter verzerrten ihre Gesichter und sie gestikulierten aufgeregt. Der Jüngste von ihnen, ein kräftiger Mann im dunkelgrünen Suntang, schien besonders erzürnt von den Bemerkungen seiner Begleiter. Gegenüber von ihm saß ein Mann mit gepflegtem Spitzbart, der ihm eifrig erwiderte. Die beiden Männer links und rechts hakten immer wieder ein, doch ihr gehobenes Alter ließ ihre Kommentare überlegter und gelassener wirken. Plötzlich schlug der jüngere Mann im grünen Suntang vehemment mit der Faust auf den Tisch. Er sprang auf, warf einen zornerfüllten Wortschwall auf den Tisch, und bewegte sich mit hastigen Schritten in Friedrichs Richtung. Die anderen drei sahen einander vielsagend an. Einer der Älteren winkte abwertend ab, doch der Spitzbart erhob sich und folgte dem Erzürnten. Genau neben Friedrichs Tisch holte er ihn ein.
Er packte ihn an der Schulter:
“Awa, ja sigul, Morais, ta sunu na fulkan milawa!”
Seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Der Mann im grünen Suntang drehte sich ruckartig um und schrie ihm drohend ins Gesicht:
“Si ta na kalami nasunni, mulai ta kasanga yawa.”
Sein Verfolger schien nun einen beschwichtigenden, erklärenden Tonfall einzuschlagen:
“Mi ara na shannu wami. Kunna kalib.”
Doch das erhitzte den ersten nur noch mehr. Sein hervorstehendes Kinn zitterte bedrohlich.
“Kalib, ta shita yuna? Bastir Makur?” , fuhr er ihn an.
Der Spitzbart verteidigte jetzt energisch seine Stellungnahme:
“Ara kasangu na iktan, on mi na rasu.”
Die umliegenden Tische hatten bereits ihre Gespräche eingestellt und verfolgten, wie Friedrich, mit angehaltenem Atem den Streit. Der jüngere Mann rang die Hände vor dem Gesicht, um seine Verachtung deutlich zu machen. Friedrich fiel eine tiefe Narbe auf der linken Seite des Kinns auf.
“Wasi kasanga Makur buna, si Um na kanna rasim? Rasanga mara ani makim?”
Den Spitzbärtigen trafen die Worte wie ein Dolch in die Brust. Das Blut schoss ihm vor Zorn ins Gesicht. Friedrich bemerkte das Messer in seiner Gürtelschleife und ihm wurde unbehaglich. Er versuchte, in den Gesichtszügen der anderen Betrachter zu lesen, ob sich hier in Kürze eine Tragödie abspielen würde und sah sich heimlich nach einem Fluchtweg um. Der Mann mit dem Spitzbart schrie jetzt rachevoll seine Überlegenheit heraus, um seinen Gegner vor aller Augen zu schänden.
“Kasangis kannu taia wem. Kasangna wasa maiur yawa.”
Dieser blickte ihm hasserfüllt in die Augen. Die angestaute Spannung ließ Friedrich diesen Zeitraum wie eine Ewigkeit vorkommen. Dann näherte sich der Mann mit der Narbe dem Spitzbart einen Schritt. Er schielte kurz über die Nebentische, als wolle er die Reaktion der Anwesenden abschätzen, dann wurde seine Stimme plötzlich verschwörerisch, ruhiger und leiser, wenngleich der Ärger noch immer deutlich herauszuhören war:
“Waya, fasat angur, ani salat maftak. Ara wi balaki te salangu, fa ara nat buna.”
Die Worte konnte man wohl nur von Friedrichs Entfernung aus vernehmen. Diese zugeflüsterte Wahrheit, dieses anvertraute Geheimnis, brachte den zweiten zum Schweigen. Wie versteinert sahen die zwei Männer einander in die Augen. Der Spitzbart verstand und bemerkte mit einem Anklingen von Einsicht.
“Ara na wasanga le.”
Dann fügte er versöhnlich hinzu:
“Bangi, tagona wen kostuk!”
Und sie gingen auf den Tresen zu, um die Tatsachen im Licht der Erkenntnis zu debattieren.
Friedrich fühlte sich, als habe er eben an der Quelle der Erkenntnis gestanden und das erleuchtende Wasser nicht trinken können. Die weiteren Betrachter des Geschehens widmeten sich ungerührt wieder ihrer Tätigkeit, doch in Friedrichs Kopf spielte sich die Szene wieder und wieder ab, und er rätselte mit all dem in den letzten Monaten erworbenen Wissen über seine Bedeutung. Außer den geläufigen Worten, wie “ich”, “kann” oder “und”, die auch nützlich waren, um sich vorzustellen, ein Taxi zu rufen, oder eine Mahlzeit zu bestellen, glaubte er nur, das Wort “König” verstanden zu haben. Sulimes Bekannte hatten es desöfteren erwähnt. Der König im Exil, Makur Radok. Zu erfahren, was der Mann mit der Narbe auf dem hervorstehenden Kinn seinem spitzbärtigen Begleiter zugeflüstert hatte, welche Verschwörung hier die Gemüter beschwichtigt hatte, das wurde zu Friedrichs größtem, frustriertem Bedürfnis.
Bei seiner Heimreise, nach weiteren aufschlussreichen Diskussionen in Sulimes gebildeten Kreisen, hatte er bereits den Entschluss gefasst: Er wollte sich noch intensiver mit dem faszinierenden politischen Geschehen dieses Landes befassen, das die Welt so nebensächlich beobachtete. Er wollte in die Tiefen des Konfliktes eindringen, und dazu musste er die Sprache erlernen. Sulime war stolz, dass sein Schüler ein derartiges Interesse an seinem geliebten Heimatland entwickelt hatte und hatte ihn mit zandosischen Grammatiken und Schreibübungen ausgestattet. Zurück in seiner Heimatstadt fand Friedrich mit viel Mühe einen zandosischen Landsmann, der um eine erschwingliche Summe bereit war, sechs Stunden wöchentlich Friedrichs eifriges Grammatik- und Vokabellernen in eine lebendige Sprache zu verwandeln. Vier lange Jahre widmete sich Friedrich den zandosischen Schriftzeichen, Verbformen und Fällen, und am Ende konnte er auch die von Sulime unter Lebensgefahr herausgeschmuggelten Originaldokumente fast mühelos lesen.
Friedrich war zufrieden. Zwar schmunzelten Sulime und seine Freunde über seinen starken Akzent, doch er konnte sich bereits ohne Mühe an ihrem Gespräch beteiligen, verstand ein jedes Wort. Vier Jahre waren sein Vorsatz gewesen, doch dann kam der Krieg dazwischen und verhinderte seine Studienreise nach Zandosien. Mit Spannung verfolgte er das Geschehen aus der Ferne. Die Post von Sulime kam nur noch selten und mit größtem Risiko über die Grenze, doch Friedrich befasste sich tagtäglich mit dem Geschehen im fernen Zandosien. Die Flüchtlinge verschafften eine neue Informationsquelle und eine weitere Gelegenheit, seine Sprachkenntnisse zu üben. Nach dem Krieg wurde seine Einreise noch zehn Monate durch das Visumsverfahren verzögert. Scharfschützen, Schmierblätter und Ausbeuter, strömten am Tag nach dem Fall von Nuriba ins Land, doch ein Student politischer Wissenschaften weckte höchsten Verdacht.
Doch jetzt war Friedrich endlich zurück in Zandosien. Die Krönung seiner Arbeit konnte beginnen. Er hatte die Details jahrelang sorgfältig geplant. Friedrich würde in jede der vierzehn Provinzen des Landes reisen und eine detailierte Umfrage an deren Bewohner vornehmen. Den Titel seiner Thesis hatte er vor drei Jahren verfasst: “Aus dem Volksmund – Populäre Repräsentationen des Zandosischen Konflikts”. Zuerst gönnte er sich jedoch einen Abstecher nach Kittanga, an den Ort, der ihn damals derart inspiriert hatte, dessen Atmosphäre er oft heraufbeschworen hatte, um sich an langen Studienabenden zu motivieren.
Er saß am selben Tisch wie vor acht Jahren. Der Cafébesitzer hatte ihn gar noch erkannt, und war überrascht gewesen, als Friedrich in fließendem Zandosisch antwortete. In Kittanga schien es, als habe das Land nicht vor kürzester Zeit noch Tod und Zerstörung heimgesucht, als sei das Leben dort stehengeblieben, wo er das Dörfchen vor Jahren verlassen hatte. Die Berge, die Üppigkeit, die Gässchen, die Kleider, der kühle Lamirre in seinem Glas, alles war wie damals. Die Terrasse unter den Magnolien strahlte die selbe Atmosphäre aus. Friedrich blickte um sich und ließ die Eindrücke auf sich wirken. Sein Blick wanderte in die Richtung, wo er die vier Männer damals beobachtet hatte – und da sah er sie. Im ersten Augenblick dachte er, das Gefühl der Vertrautheit trüge ihn, die Erinnerung des Erlebten und vielmals heraufbeschworenen spiele ihm einen Streich. Dann überkam es ihn, dass es in einem kleinen Dörfchen wohl gar nicht so unwahrscheinlich war, dass vier Einheimische in einem Café jahrelang den selben Stammplatz einnahmen. Er betrachtete sie sorgfältig. Die Jahre waren nicht völlig spurlos an ihnen vorbeigegangen. Friedrich glaubte, tiefere Falten in ihren Zügen erkennen zu können. Doch die Narbe auf dem Kinn – er war zweifellos derselbe. Sein Gegenüber – dieselben Augen. Er trug sogar noch einen Spitzbart. Und die beiden Alten - eindeutig. Friedrich konnte sein Glück nicht fassen. Zwar würden sie sich kaum noch im Detail an ihren Streit vor acht Jahren erinnern, doch Friedrich konnte sie befragen. Sie würden die ersten Beteiligten an seiner Thesis “Aus dem Volksmund” sein. Besser konnte seine Arbeit in Zandosien gar nicht beginnen. Friedrichs Gedankengänge wurden von einer aufgeregten Stimme unterbrochen. Der Jüngste am Tisch beschimpfte lautstark seine Kollegen. Diese reagierten vehemment. Ein Schlag mit der Faust auf den Tisch. Ein Wortschwall aus Flüchen und Beleidigungen. Der Mann mit der Narbe am Kinn erhob sich und kam auf ihn zu, gefolgt vom Spitzbart. Friedrich zweifelte an seinem Bezug zur Wirklichkeit. Er musste sich an seinem Glas festhalten, um etwas Handfestes zu spüren. Es war, als belohne das Schicksal seine jahrelange Mühe und spiele nun vor seinem geschulten Ohr die verheißungsvolle Szene erneut ab, als habe der Vorfall in seinem Streben nicht symbolische, sondern wortwörtliche Bedeutung. Sein Herz pochte, als der Mann mit dem Spitzbart den Erzürnten genau neben seinem Tisch an der Schulter fasste:
“Jetzt ist aber genug, Morais, du musst doch nicht immer so aufbrausen!”
Er drehte sich um und schrie drohend.
“Wenn dir nicht ernst ist bei der Sache, dann kannst du ja abspringen.”
Ein Ansatz des Verfolgers, ihn zu beschwichtigen.
“So habe ich das doch nicht gemeint. Es war halt Pech.”
Das hervorstehende Kinn zitterte, als er schrie.
“Pech nennst du das? Den König verlieren?”
Friedrich hielt den Atem an. Die Wiederholung der Szene tat ihr nichts an Bedrohlichkeit und Gewalt ab. An den umliegenden Tischen waren aller Augen auf die beiden Männer gerichtet.
“Ich konnte ja nicht wissen, was auf dem Spiel stand.”
Der Höhepunkt an Zorn und Verachtung:
“Wie kannst du mit dem König rauskommen, wenn das Ass noch nicht gespielt wurde? Spielst du mit mir oder mit ihnen?”
“Hätte ja in deiner Hand sein können. Man kann ja mal ein Risiko eingehen.”
Der Mann mit der Narbe näherte sich dem Spitzbart und flüsterte verschwörerisch:
“Mensch, pass halt auf, oder kauf dir eine Brille! Ich hab dir doch mit dem Daumen gedeutet, dass ich nichts habe.”
Die Einsicht:
“Hab’ ich versäumt.”
Zur Versöhnung:
“Komm, gehen wir einen Kostuk trinken!”