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Das Risiko, eine Frau zu sein
Ein bisschen hübsch, ein bisschen doof und immer ein bisschen vom Pech verfolgt. So würde Lina sich beschreiben, wenn es denn einer wissen wollte.
Im Moment war ihr Pech, dass das Auto ein neues Getriebe brauchte. Und das ausgerechnet, nachdem sie die neue Küche kaufen musste. Als Kinderpflegerin verdiente sie nicht viel, deshalb hatte sie sich für den Zensus beworben. Obwohl der Job als Erhebungsbeauftragte ehrenamtlich war, erhielt man eine großzügige Vergütung. Lina hängte sich den Zensusausweis um den Hals. Griff nach der grauen Tasche mit dem Klemmbrett und den Haushaltsfragebögen. Ein letzter Blick auf den Terminkalender: „13:00 Uhr Rilkestraße 18.“ Lina schloss die Haustüre und lief los.
Auf Höhe des Hauses Nr. 5 blieb sie abrupt stehen. Das Gebäude kam ihr vertraut vor. Lina erkannte den frei stehenden Briefkasten vor der Haustür. Genau in den hatte sie vor zwei Wochen drei Terminvereinbarungen geworfen. Aufgeregt holte sie ihren Terminplaner aus der Tasche. Hastig überflog sie Seite um Seite. Es gab keinen Eintrag mit dieser Adresse. Lina schluckte, spürte, wie sie zu schwitzen begann. Jeden Tag war sie eine Straße abgelaufen. Immer beginnend bei dem Gebäude mit der niedrigsten Nummer. Ihr dämmerte, sie hatte vergessen, den Termin einzutragen. Hektisch suchte sie die restlichen Bögen durch. Da war er … - Haushaltsbogen Rilkestraße 5! Was sollte sie den Leuten erzählen, warum sie erst am Nachmittag kam … Dass sie zu blöd war, einen Terminkalender ordentlich zu führen. Während sie Schritt für Schritt auf die Haustüre zuging, klemmte sie mit schweißnassen Fingern den Fragebogen fest. Martina Brettschneider stand auf dem Schild. Vielleicht würde die Frau sie wieder wegschicken oder sich über ihre Verspätung beschweren. Lina atmete tief ein und sprach sich Mut zu: Jeder kann mal einen Fehler machen. Was konnte schon groß passieren. Aus der Sprechanlage meldete sich eine verschlafene Stimme: „Ja, wer ist da?“
„Guten Tag, mein Name ist Lina Gerlach, ich führe im Auftrag der Erhebungsstelle …“, das leise Summen des Türöffners und ein „Kommen Sie rauf, dritter Stock!“, unterbrachen ihre Erklärung. Lina atmete auf. Die Frau ließ sie herein. Stufe um Stufe klackerten ihre Absätze auf dem glänzenden Terrazzo. Sie ist sauer -, sie ist nicht sauer -, sie ist sauer …, sprach sie im Takt mit.
Frau Brettschneider stand im Morgenmantel an der Tür. „Tschuldigung, hab geschlafen, Nachtschicht, ich bin Krankenschwester. Ach, kommen Sie doch erst mal rein!“
Erleichtert setzte sich Lina auf den angebotenen Stuhl.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, ich komme viel zu spät, unser Termin wäre schon heute Vormittag gewesen“, gab Lina zu.
„Oje, da hätten Sie mich gar nicht wach gekriegt“, lachte die Krankenschwester.
„Macht es Ihnen etwas aus, einen Moment zu warten, ich möchte mir nur kurz etwas anziehen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Neugierig sah sich Lina in der kleinen Mansardenwohnung um. Ihr Blick blieb an einem gerahmten Foto hängen. Eine um Jahre jüngere Martina Brettschneider posierte im Minirock lachend auf einem Motorrad.
Unerbittlich drängte sich eine Erinnerung in ihr Gedächtnis. September 2012. Zwei Wochen nach ihrem vierzehnten Geburtstag. Oma hatte ihr Obst und Gemüse mitgegeben. Immer wieder stellte sie den schweren Korb ab. Ein roter Opel hielt neben ihr. Herr Mettmann, der Vater ihres Schulfreundes Jochen. „Oh je, da muss aber jemand schwer schleppen. Komm, ich fahre in deine Richtung, ich bringe dich nach Hause.“ Ohne Zögern war sie eingestiegen. Froh darüber, den Korb abzustellen.
„Halt! Hier muss ich raus!“
Der Papa ihres Schulfreundes war an ihrem Elternhaus vorbeigefahren. „Weiß ich doch.“ Lustig zwinkerte er ihr zu. „Ich drehe hinten auf der Wendeplatte um.“ Er drehte nicht um. Er fuhr in rasendem Tempo weiter. Weiter, hinter das große Maisfeld. Vor Schreck und Überraschung schlugen ihre Gedanken Purzelbäume. Warum tut er das? Was will er? Er ist doch ein netter Mann! Das ist doch der Papa von Jochen! Das ist sicher nur ein Spaß, er will mich erschrecken! Ich will raus, er macht mir Angst!
Das Auto stoppte. „Warum halten Sie erst hier?“
„Ihr wollt das doch, wenn ihr euch so anzieht ihr kleinen Schlampen.“ Er griff in ihre langen Haare und zog ihren Kopf auf seine Knie. Sie schrie vor Schmerz.
„Wenn du noch einmal schreist, dann schlage ich dich windelweich.“ Sie war von seinem Angriff so überrascht, dass sie starr vor Angst zusah, wie er den Reißverschluss öffnete und sein steifes Glied herausholte. „Bitte“, hörte sie sich flüstern und etwas lauter: „Lassen Sie mich raus!“ Er drückte sein Glied an ihren Mund. Mit aller Kraft presste sie die Lippen aufeinander und versuchte den Kopf wegzudrehen. Spürte den schwitzig, nach Fisch stinkenden Penis an ihrer Wange. Ekel stieg in ihr auf. Sie bekam keine Luft mehr. Hektisch begann sie zu atmen. Übelkeit, die höher und höher kroch, brachte sie zum Würgen. Lina schluckte den säuerlichen Geschmack hinunter.
„Ich muss brechen“, sie weinte. Der Mann packte sie an den Schultern, grob schüttelte er sie. „Hör sofort auf. Raus, bevor du mir noch das Auto vollkotzt und wehe, du erzählst irgend jemandem etwas davon. Dann werde ich Jochen sagen, dass du es für Geld mit mir machen wolltest.“
Ihre Hand tastete nach der rechten Wange, etwas feuchtes, gammelig stinkendes schien sie zu berühren.
„So wir können, was wollen Sie wissen?“
Lena erschrak, sie starrte noch immer auf das Foto.
Frau Brettschneider stand im Türrahmen.
Automatisch hob sie ihr Klemmbrett vors Gesicht. Spürte den Kloß im Hals und räusperte sich: „Können Sie die Fragen online beantworten? Dann gebe ich Ihnen ein Kuvert mit dem Zugangscode. Ich brauche dann nur ein paar Daten.“
Die Mieterin war froh, dass sie nur wenige Fragen beantworten musste, den Rest würde sie nachmittags online ausfüllen.
Lina stieg die Stufen in den zweiten Stock hinunter. Sie dachte nicht mehr über die Folgen ihre Verspätung nach. Eine ältere, größere Angst war geweckt.
Viktor Schlick stand auf dem Klingelschild. Ein betagter Mann mit Nickelbrille und eingefallenem Faltengesicht öffnete ihr. Er ist alt, er wird mir nichts tun, beruhigte sie die Angst. „Guten Tag, mein Name ist Lina Gerlach und es tut mir schrecklich leid, dass ich so spät komme, ich …“.
Herr Schlick fiel ihr ins Wort: „Ich habe ganz andere Probleme als Ihre Verspätung. Vielleicht brauchen Sie mich gar nicht zu befragen. Ich habe meine Gasrechnung bekommen und kann die Erhöhung nicht bezahlen. Ich muss ausziehen.“
Lena seufzte, „Ja das liebe Geld. Herr Schlick, ich muss meine Fragen trotzdem stellen. Der Stichtag für die Erhebung ist der fünfzehnte Mai und da haben Sie noch hier gewohnt.“
„Ja, gut, dann kommen Sie rein und stellen Ihre Fragen.“ Er trat einen Schritt in die Wohnung und hob einladend den Arm.
„Es dauert nur fünf Minuten und das kann ich hier im Treppenhaus machen. Einen Moment“, sie holte den Haushaltsbogen aus der Tasche und klemmte ihn aufs Brett.
„Haben Sie die Möglichkeit, den Fragebogen online zu beantworten?“
Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein.“
Seine glasig geröteten Augen, unter denen dunkle Schatten lagen, suchten unruhig hin und her. Fanden keinen Punkt, an dem sie ruhen konnten.
„Wir machen es auf dem Postweg, sie brauchen das Kuvert dann nur noch einzuwerfen, es ist schon adressiert und frankiert.“
Nachdenklich rieb sich der alte Herr über das mit grauen Bartstoppeln übersäte Kinn. "Gut wenn’s, denn sein muss.“ Minuten später waren die Fragen beantwortet.
„Das mit ihrer hohen Gasrechnung tut mir leid, ich wünsche Ihnen alles Gute.“
„Wird schon irgendwie weitergehen, Wiedersehen“, brummelte Herr Schlick. Die Tür fiel ins Schloss.
Erster Stock. Der Mann vor der Wohnungstüre starrte sie mit verschränkten Armen an. Seine zusammengezogenen Augenbrauen und der zu einem Strich gepresste Mund verhießen nichts Gutes.
„Sie können gleich wieder gehen“, hallte es durchs Treppenhaus. „Ihnen werde ich heute keine Fragen mehr beantworten. Den ganzen Vormittag habe ich auf Sie gewartet.“ Während Lina nach passenden Worten suchte, verfärbte sich das Gesicht des Mannes rot. Zornig wandte er sich um und war im Begriff, ihr die Türe vor der Nase zuzuschlagen.
„Bitte Herr Kohlmann!“ Linas Stimme zitterte. „Es tut mir schrecklich leid, das ich erst jetzt komme …,“
„Ist mir scheißegal, ob es Ihnen leidtut“, fiel er ihr ins Wort, „ich habe noch etwas anderes zu tun, als auf Sie zu warten.“
„Herr Kohlmann,“ eingeschüchtert setzte sie erneut an, „möchten Sie einen neuen Termin haben?“
„Damit ich noch mal auf Sie warten muss!“
„Ich kann Ihnen versichern, dass in der Regel ich diejenige bin, die wartet. Oft halten die Leute ihre Termine nicht ein und ich stehe vor verschlossenen Türen oder muss zwei, dreimal zu ihnen laufen, weil sie mich vergessen haben.“
Trübe Augen musterten sie. Mit einer barschen Handbewegung wies er in seine Wohnung. „Nun kommen Sie schon rein, hier draußen muss ja nicht jeder mitbekommen, was wir miteinander reden.“
Lina freute sich, er würde ihre Fragen beantworten. Doch es graute ihr davor, dem Mann in seine Wohnung zu folgen. Es war ihr Grundsatz, bei Männern die Befragung vor der Türe durchzuführen. Widersprach sie, würde ihn das erneut reizen. Lina biss sich auf die Lippen, ihr Herz schlug bis zum Hals. Zögernd folgte sie ihm.
„Hier am Esstisch können Sie schreiben.“
Er deutete auf einen großen, ovalen Holztisch, der zwischen einem Küchenblock und einem Raumteiler stand.
Am liebsten wäre sie stehen geblieben. „Ich habe hier die Zugangsdaten für die online Befragung, haben Sie Internet Anschluss?“
„Natürlich, oder halten Sie mich für doof!“
„Gut, dann brauche ich nur ein paar Daten. Männlich, weiblich oder Diverses? Sie sind männlich!“ Kreuzte Lina an.
„Moment mal, wollen Sie da nicht lieber nachschauen.“ Ein hässliches, anzügliches Lachen. Was sollte das denn … Sie begegnete seinem Blick, er stierte auf den Ausschnitt ihrer Bluse. „Das hat Sie wohl noch keiner gefragt.“ Er lachte wie über einen Witz. Lina blieb die Antwort schuldig. Eilig ratterte sie die restlichen Fragen herunter. „Hier, der Umschlag mit dem
Zensuscode! Das war's schon, vielen Dank.” Hastig griff sie die Tasche und verstaute den Fragebogen.
„Ich habe einen guten Tropfen Spätburgunder.“ Aus dem Raumteiler zwischen Wohn-und Esszimmer holte er einen Wein. Grinsend hielt er ihr die Flasche vors Gesicht. „Wir zwei werden jetzt ein Gläschen miteinander trinken. Du musst doch deine Verspätung wiedergutmachen. Komm, auf der Couch ist es gemütlicher.“ Er beugte sich zu Lina hinunter, bis seine und ihre Augen auf gleicher Höhe waren. „Aufstehen“, sein Arm glitt um ihre Taille und zog sie hoch. Lina sah die Beule in seiner Hose. Ihre Finger krallten sich um den Tragegriff. Mit aller Kraft holte sie aus: „Nein“, der Schrei hallte durch ihren Körper, die Tasche traf ihn zwischen die Beine. Er jaulte, krümmte sich. Lina lief los.
Sie würde wieder einen Minirock tragen, sich die Haare wachsen lassen und jedem erzählen, was für ein Idiot im Haus Rilkestraße 5. wohnte, wenn es denn einer wissen wollte.