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Das schönste Geräusch der Welt
„Bitte“, sagte Herr Klein.
„Nein“, erwiderte Tanne.
„Nur einmal“, bettelte Herr Klein weiter.
„Nein“, adamantete Tanne.
„Nur einmal!“
„Nein!“
„Nur ein bisschen!“
„Nei-hen!“
„Warum nicht!“ quengelte Herr Klein weiter.
„Weil …“ - Tanne machte eine Pause, in der er sich aus der knienden Position erhob und sich zu dem hinter ihm stehenden Herrn Klein umdrehte - “… Herr Klein, weil ich der Handwerker bin und Sie der Kunde. Sie bezahlen mich dafür, dass ich eine handwerkliche Dienstleistung erbringe. Und nicht dafür, dass ich Sie hier mit Bauschaum rumspielen lasse.“
„Dafür kann ich Sie aber doch auch bezahlen“, wendete Herr Klein ein. Er schaute – nomen est omen – zu Tanne hinauf, der ihn um gut eineinhalb Köpfe überragte.
„Ja, aber wenn dann irgendetwas nicht mit der Arbeit in Ordnung ist, dann haben Sie auch keinerlei Gewährleistung“, gab Tanne mit in die Hüften gestemmten Händen zurück. „Dann kann ich keine Garantie dafür übernehmen, dass auch alles so gemacht ist, wie es gemacht werden muss. Ich muss den Hohlraum selbst ausschäumen, das kann ich nicht Sie machen lassen. Oder wollen Sie auf alle Garantieansprüche verzichten?“ Als er sah, dass Herr Klein drauf und dran war, dies zu bejahen, setzte Tanne schnell hinzu: „Glauben Sie, ihre Frau möchte auf alle Garantieansprüche verzichten?“
Herr Klein zögerte, offenbar sogar dazu entschlossen, den Weg des sicheren Todes einzuschlagen, besann sich dann aber seufzend. „Na gut“, gab er klein bei. Er sah ehrlich betrübt aus.
Tanne ging wieder in Stellung und schäumte den Hohlraum unter dem Dielenboden weiter aus. Pschschschschschschscht! Er blickte kurz auf und sah die Reflektion von Herrn Klein im Glas des Fensters, unter dem er arbeitete. Der Mann stand hinter ihm, ein breites, entrücktes Lächeln auf dem Gesicht, den Kopf in verträumter Schieflage und den Blick versonnen ins Nichts gerichtet. Was für ein … Tanne wusste nicht, was man zu so jemandem sagen konnte. Seit dem Moment, an dem Tanne begonnen hatte, mit dem Bauschaum zu arbeiten, hatte er den bis dahin desinteressierten Herrn Klein im Nacken sitzen gehabt. Auch jetzt glaubte er den Atem seines Kunden im Nacken zu spüren.
„Vielleicht …„
„Aaaaah!“ brüllte Tanne auf, zu Tode erschrocken von der Stimme Herrn Kleins, die unmittelbar neben seinem Ohr erklungen war. Er sprang auf, packte Herrn Klein am Kragen, um ihn ... und … ließ ihn wieder los. Er war immerhin Kunde. „Sind Sie wahnsinnig, mich so zu erschrecken?“
„Ich … nein, ich dachte nur, vielleicht können Sie mir ja vielleicht eine von den Dosen da lassen, damit ich dann nachher ein bisschen schäumen kann, ja?“
„Herr Klein?“ fragte Tanne.
„Ja?“
„Sind Sie wahnsinnig geworden?“
„Nein?“ fragte Herr Klein, unsicher, ob es sich hierbei wohl um die richtige Antwort handeln mochte.
„Nein?“
„Nein“, behauptete Herr Klein jetzt mit größerer Selbstgewissheit.
„Dann tun Sie das bitte … nie … wieder. Ja?“
„Ja.“
„Gut.“
„Und können Sie mir denn eine von den Dosen da lassen?“
„Wenn Sie mich jetzt in Ruhe fertig arbeiten lassen, Herr Klein, dann lasse ich Ihnen auch hundert Dosen Bauschaum da.“ Im gleichen Augenblick bereute Tanne, das gesagt zu haben. Herr Klein strahlte.
„Köhler“, sagte der ältere schnauzbärtige der beiden Beamten, die vor Tannes Wohnungstür in der zweiten Etage standen. „Und mein Kollege Bricht.“ Da der Kollege, ein ernst blickender, vielleicht fünfundzwanzigjähriger Beamter in Uniform, nichts dergleichen tat, nahm Tanne an, dass es sich dabei um seinen Namen handelte. „Polizei“, fügte Köhler überflüssigerweise hinzu.
„Ja“, bestätigte Tanne, weil er das genauso sah.
„Sind Sie Herr Christoph Tanne?“
„Ja“, gestand Tanne, weil dem so war.
„Kennen Sie einen Herrn Hans Klein?“
Tanne schwieg. Dann sagte er: „Nicht als solchen.“
Köhler stutzte, während Bricht sich nichts anmerken ließ. „Was heißt das?“ hakte Köhler nach.
„Ich kenne keinen Hans Klein als Hans Klein. Ich kenne ein paar Kleins, aber ich weiß nicht, ob einer von denen Hans heißt, heißt das“, erläuterte Tanne.
„Sie haben gestern Vormittag bei Herrn Klein eine Reparatur vorgenommen, Herr Tanne“, sagte Bricht zwischen professionell zusammengebissenen Zähnen.
„Dann kenne ich ihn. Das ist also Hans Klein.“
„Leider nicht mehr“, knirschte Bricht und Köhler warf ihm einen mahnenden Blick zu.
„Herr Klein wurde heute Nachmittag von seiner Frau tot aufgefunden“, sagte Köhler.
„Oh“, trug Tanne dazu bei, in Ermangelung sinnvollerer Kundgaben.
„An der Sache ist etwas merkwürdig“, fuhr der Beamte fort. „Herr Klein wurde nämlich tot aufgefunden in einer Badewanne voller bereits aushärtendem Bauschaum.“
„Ah“, sagte Tanne, weil er dies für den sinnvolleren Beitrag hielt. Die Alternative war, in Gelächter auszubrechen. Bricht und Köhler machten nicht den Eindruck, als hätte ihnen das gefallen.
„Dem Stand der Ermittlungen zufolge hat Herr Klein die Badewanne mit Bauschaum gefüllt. Das Badezimmer der Kleins ist recht klein und Fenster wie Türe waren geschlossen. Aufgrund der Lösungsmittel im verwendeten Bauschaum der Marke … hm, Thorsten?“
„Pfuscher“, assistierte Bricht seinem Kollegen.
„Der Marke ‚Pfuscher’ …“, fuhr Köhler fort. „… hat Herr Klein das Bewusstsein verloren und ist in die von ihm zuvor befüllte Wanne gestürzt. Dort ist er dann … sozusagen … ertrunken. Oder erstickt.“
„Bedauerlich“, artikulierte Tanne zurückhaltend.
„Weshalb wir Sie aufsuchen, Herr Tanne“, griff nun Bricht mit bissigerem Tonfall in die Unterhaltung ein. „Können Sie uns vielleicht erklären, woher Herr Klein insgesamt achtundzwanzig Dosen mit Bauschaum der Marke ‚Pfuscher’ hatte?“
„Siebenundzwanzig“, sagte Tanne. „Eine von den Dosen ist von ‚Rausch’.“ Brichts Blick war bestimmt im Spiegel geübt worden. „Die Dosen hatte er von mir.“
„Warum achtundzwanzig Stück?“ fragte Köhler.
Ich hatte keine hundert, dachte Tanne. „Er hat sie mir abgekauft“, erklärte Tanne notgedrungen. „Er wollte sie gerne haben. Ich weiß nicht wofür.“
„Haben Sie sich nicht gewundert?“ wollte Köhler wissen.
„Doch. Aber Herr Klein war Kunde. Warum sollte ich ihm keinen Bauschaum verkaufen?“ Die Beamten schwiegen. „Mein Gott, der Mann war volljährig“, fügte Tanne hinzu, woraufhin Bricht wieder tief in die Blickkiste griff.
Köhler schürzte nachdenklich die Lippen, fuhr sich dann mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand über den Schnurrbart und sagte dann: „Gut, Herr Tanne. Ich denke, das war es für den Moment. Ich möchte Sie dennoch bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten, sollten wir noch weitere Fragen an Sie haben.“
„Sie wissen, wo Sie mich finden“, erwiderte Tanne. „Schönen Tag noch.“
Die Beamten erwiderten den Gruß und polterten die Treppe hinunter. Tanne trat in seine Wohnung zurück und schloss die Tür. Er schüttelte den Kopf, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Vor seinem geistigen Auge stand Herr Klein inmitten von Bauschaumdosen in der Tür seiner Wohnung und strahlte über das ganze Gesicht, der glücklichste Mensch aller Zeiten. Dieses Geräusch, hatte er Tanne erklärt, als sie zusammen zu seinem Kastenwagen gegangen waren, um die Dosen zu holen, dieses Geräusch - pschschschscht - sei wirklich das allerschönste Geräusch auf der ganzen Welt. Tanne hatte geschwiegen. Immerhin war Herr Klein Kunde, und Kunden nannte man nicht bescheuert.
Aber der Mann hatte ja keine Ahnung gehabt. Von Bauschaum nicht, und nicht von Geräuschen. Tanne ging in seine Küche und schaltete das Radio wieder ein, das er ausgeknipst hatte, als die Beamten geläutet hatten. Das schönste Geräusch der Welt! Ausgerechnet Bauschaum!? „Was für ein Trottel“, murmelte Tanne und nahm am Küchentisch Platz. Er drehte das Radio, aus dem nur atmosphärisches Rauschen zu hören war, etwas lauter, lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und seufzte glücklich. Armer Irrer, dachte Tanne, während er konzentriert dem vielschichtigen Knacken, Rauschen und Knirschen des Radios lauschte.
Armer Irrer.