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Das Schicksal in ihrer Hand
Ingrid stellte ihre Einkaufstüten ab, kramte ein paar Wollhandschuhe aus ihrer Tasche und stellte den Kragen ihres Mantels auf, um sich gegen den eisigen Novemberwind zu schützen. Um sie herum herrschte reges Treiben. Achtlos gingen die Leute an den mehr als hundert Jahre alten Fachwerkhäusern vorbei, die die Altstadt zierten. Neben einer Bank sah Ingrid eine junge Frau, die vor einem Buggy kniete und ihrer kleinen Tochter liebevoll den Mund abwischte. Ingrid beobachtete die beiden eine Weile und lächelte warmherzig, denn es erinnerte sie an die Zeit zu der auch ihr Thomas ein Kind gewesen war. Gerade als Ingrid ihren Weg fortsetzen wollte, trat eine ältere Dame an sie heran. In ihrem dunklen Gewand, das ihr offensichtlich zu groß war, sah die Frau reichlich eigenartig aus.
„Guten Tag!“, begann sie.
„Tag!“, erwiderte Ingrid verwirrt, da sie die Frau nicht kannte, ging sie einfach weiter. Doch die seltsame Dame kam ihr hinterher.
„Haben Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit?“
„Eigentlich möchte ich nur schnell meine Einkäufe erledigen und dann nach Hause.“
„Ach kommen Sie, nur ein paar Minuten.“
Nun blieb Ingrid ungeduldig stehen.
„Also gut, was möchten Sie?“
„Ich möchte Ihnen helfen. Ich bin Chirologin.“
Diesen Ausdruck hatte Ingrid schon mal irgendwo gehört, allerdings konnte sie sich nicht entsinnen in welchem Zusammenhang. So schaute sie die Chirologin neugierig an und fragte:
„Soso, und was bedeutet das?“
„Das bedeutet, ich lese Leuten aus der Hand.“
„Oh, eine Wahrsagerin also.“
Die Chirologin schüttelte langsam den Kopf, wobei die großen Ohrringe, die sie trug, unkontrolliert umherbaumelten.
„Die meisten sogenannten Wahrsagerinnen sind bloß Betrüger. Aber ich kann wirklich aus der Hand lesen, Verehrteste. Lassen sie es mich ihnen zeigen.“
Genervt winkte Ingrid ab.
„Danke, aber das ist nicht nötig. Für sowas habe ich wirklich keine Zeit. Zu Hause wartet eine Menge Arbeit auf mich.“
Doch die alte Dame schien nicht so schnell aufgeben zu wollen.
„Es dauert auch nicht lange. Und möglicherweise erfahren Sie ja etwas, das ihnen in der Zukunft hilfreich sein wird.“
„Was genau wollen Sie denn machen, wie funktioniert sowas?“
„Zuerst sage ich ihnen einiges aus Ihrer Vergangenheit und dann erst etwas über ihre Zukunft.“
„Und das sehen Sie alles in meiner Hand?“
„Aber ja. Die Hände sind expressiv und spezifisch in ihrer Aussage, sie können den Kern unseres Wesens mit größerer Genauigkeit widerspiegeln als wohl jedes andere Körperteil. Schon Aristoteles schrieb ‚Die Hand gleicht der Seele, denn wie die Hand das Werkzeug ist, so ist der Geist die Form aller Formen und die Wahrnehmung die Form alles Wahrnehmbaren’.“
„Also gut“, sagte Ingrid, deren Interesse nun doch geweckt worden war und streckte der Frau ihre Hände entgegen. Damit begann die Chirologin ihr aus der Hand zu lesen. Zuerst erzählte sie Ingrid einige Dinge aus ihrer Vergangenheit, wovon auch alles stimmte. Ingrid erschrak über die Genauigkeit und Richtigkeit ihrer Aussagen, das konnte wohl kaum geraten sein. Aber sie riss sich zusammen und blieb nach außen gelassen. Zum Schluss sagte die Frau Ingrid dann, dass sie nun einen Blick in ihre Zukunft werfen werde. Sie besah sich die Handflächen, murmelte etwas vor sich hin und war dann plötzlich ganz still. Als Ingrid die alte Dame fragend ansah, brach die ihr Schweigen und berichtete.
„Noch vor Weihnachten wird es ein Unglück in Ihrer Familie geben. Doch Sie können es verhindern.“ Ingrid hörte sich noch den dazugehörigen Tipp der Frau an, wusste aber nichts damit anzufangen. Auch wenn sie ziemlich beeindruckt von den Fähigkeiten der Frau war, erschien ihr dieses Zukunftsgerede ziemlich weit hergeholt und der dazugehörige Tipp recht unsinnig. So hatte sie die Vorhersage der seltsamen, alten Dame bald wieder vergessen.
Was genau diese ganze Sache zu bedeuten hatte, sollte sie erst später erfahren.
Etwa eine Woche später stand Ingrid in der Küche und sah aus dem kleinen Küchenfenster auf die schneebedeckte Straße. Ihr Nachbar, um den Hals eine Hundeleine tragend, passierte ihr Haus. Als Ingrid ihn erblickte, riss sie unverzüglich das Fenster auf, um ihm einen fröhlichen Nikolaustag zu wünschen. Der Mann bedankte sich freundlich nickend. Ingrid nutze die Gelegenheit, um ihm von dem bevorstehenden Essen mit ihrem Sohn zu erzählen und vergaß natürlich nicht zu erwähnen, wie sehr sie sich seit Tagen darauf freute, weil sie sich ja so selten sahen. Der Nachbar sagte ihr, sie könne Thomas liebe Grüße und seinen Dank ausrichten, weil er ihm letzte Woche so fleißig beim Einbauen des neues Schrankes geholfen hatte. Dann musste der Mann hastig weiter, um seinen vorausgelaufenen Hund einzuholen. Fröstelnd schloss Ingrid das Fenster, um sich gleich darauf dem Backofen zuzuwenden, in dem ein saftig, brauner Truthahn schmorte. Um den Zustand des Bratens besser einschätzen zu können, öffnete sie die Ofentür, wobei ihre Brillengläser unangenehm beschlugen. In diesem Moment trat ihr Mann ein.
„Na, wie sieht’s aus. Riechen tut es jedenfalls schon mal hervorragend.“
„Nun, ich komme schneller voran, als ich gedacht hatte. Ich glaube, Thomas und Sarah können schon ein Stündchen eher kommen, denn eigentlich brauchen wir nur noch den Tisch decken und die Getränke reinholen und es kann losgehen.“
„Na wunderbar, ich rufe die beiden gleich mal an und sage Bescheid.“
„Schon gut, ich mach das, hol' du die Getränke.“
Während ihr Mann dies tat, rief sie ihren Sohn an und teilte ihm mit, dass er und Sarah schon früher kommen könnten, dann deckte Ingrid liebevoll den Tisch. Sie stellte sogar jedem einen kleinen Schokoladennikolaus auf den Teller. Und weil sie wusste, wie sehr ihr Sohn Thomas Schokolade mochte, bekam er auf seinen Teller sogar zwei. Zu guter Letzt begutachtete Ingrid den aufwendig gedeckten Tisch noch mal und zupfte die Weihnachtstischdecke zurecht, bis sie ihrer Meinung nach perfekt auflag. Nachdem sie auch den Braten aus dem Ofen geholt hatte, begab sie sich zu ihrem Mann ins Wohnzimmer, wo sie gemeinsam vor dem Fernseher auf die Ankunft ihres Sohnes und dessen Freundin warteten. Die Mittagszeit verstrich und als auch um drei Uhr noch niemand da war, wurde Ingrid langsam unruhig.
„Rolf, zwölf Uhr ist längst durch und selbst wenn sie trotz unseres Anrufes um eins kommen wollten, müssten sie seit zwei Stunden hier sein. Irgendwas stimmt da nicht.“
„Vielleicht ist ihnen etwas dazwischen gekommen. Du weißt doch, wie das manchmal ist. Da ruft ein alter Bekannter an, oder das Auto springt nicht an. Gerade bei der Kälte ist das gut möglich.“
„Mag sein, aber dann könnten sie ja wenigstens durchrufen. Thomas weiß doch, wie sehr ich mich immer sorge.“
„Der Junge ist erwachsen, er wird schon wissen was er tut, nun mach dir mal keine Sorgen!“ Doch Rolf konnte seinen Worten selbst nicht so recht glauben.
Zwanzig Minuten später klingelte endlich das Telefon. Rolf, der nun auch besorgt zu sein schien, nahm den Anruf sogleich entgegen. Die Stimme auf der anderen Seite der Leitung klang bedrückt: „Herr Graber, hier ist das Städtische Krankenhaus, ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie.“
Rolf schluckte hart. Schweren Herzens hörte er sich an, was die Frau am anderen Ende zu sagen hatte. Es kam ihm vor, als wäre er in Trance, als er hörte wie die Frau etwas von einem Autounfall berichtete. Rolf vernahm auch den Namen seines Sohnes und die Worte ‚nicht angeschnallt gewesen’ und ‚tödlich verunglückt’. Des weiteren erläuterte die Frau, dass Sarah mit schweren Verletzungen im Krankenhaus lag. Als Rolf den Hörer unter Tränen auflegte, dachte er, er würde gleich zusammenbrechen. Seine Beine fühlten sich an wie Gummi, er zitterte am ganzen Körper und sein Herz schlug, als wolle es gleich explodieren. Er spürte einen unbändigen Druck auf der Brust. Als seine Frau herbei eilte und aufgeregt fragte, was denn passiert sei, sank er in sich zusammen, als könnten seine Beine die Last nicht mehr tragen.
Die Beerdigung war erst wenige Tage her und Ingrids Herz fühlte sich unheimlich schwer an. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie ihren Sohn nie wieder sehen würde. Sie saß im Wohnzimmer und versuchte Fernsehen zu gucken, aber ihr Blick fiel immer wieder auf das Bild ihres Sohnes an der Wand. Sie konnte die Trauer und den Schmerz über das Geschehene nicht zurückhalten. Tränen liefen über ihr Gesicht. Verschwommen sah sie Thomas als Siebzehnjährigen Schüler, der lebenslustig in die Kamera lachte. Sein Vater hatte dieses Foto vor vier Jahren geschossen. Ingrid hatte es ausgesucht, weil es Thomas als den immer fröhlichen Menschen zeigte, der er für sie war.
„Mama, das ist ja furchtbar, darauf sehe ich aus, wie ein Hirni. Häng doch eins auf, worauf ich nicht so blöd grinse“, hatte er gesagt, als sie das Bild damals im Wohnzimmer an der Wand aufgehängt hatte.
Die Haustür wurde aufgeschlossen und fiel dann mit einem charakteristischen Klacken ins Schloss. Ingrids Blick wanderte zur Wohnzimmertür, in der kurz darauf Rolf erschien. Sie wischte sich noch schnell die Tränen aus dem Gesicht. Rolf setzte sich neben sie auf das Sofa.
„Was ich dir noch erzählen wollte: Das Autohaus hat vorhin angerufen, wir können dein Auto schon übermorgen abholen. Es ist doch schon früher da, als geplant.“
„Oh, das ist ja super“, antwortete Ingrid. „Früher, als geplant.“ Als sie diese Worte wiederholte, hatte sie plötzlich ein komisches Gefühl. Sie wurde ganz bleich, als ihr die Szene in der Stadt neulich einfiel. Schuldgefühle überkamen sie.
„Das ist es. Jetzt verstehe ich“, stammelte Ingrid.
„Was? Was verstehst du? Was ist denn los?“
„Es ist alles meine Schuld.“ Wieder liefen Tränen über ihr Gesicht.
Rolf schloss seine Frau in die Arme, er verstand überhaupt nichts.
„Wie meinst du das, du bist Schuld?“
„An Thomas’ Tod.“
Schluchzend erzählte sie ihrem Mann von der Wahrsagerin in der Stadt und der Vorhersage, die sie gemacht hatte. Obwohl die Vorhersage dieser Frau auch ihn erschrak, versuchte Rolf seine Frau zu beruhigen.
„Ach Schatz, keiner erwartet von dir, dass du so etwas glaubst. Was hättest du denn tun sollen? Du kannst nicht alle ständig beschützen.“
Ingrid löste sich aus der Umarmung ihres Mannes und sagte: „Die Frau meinte auch, ich könne das Unglück verhindern. Ich dürfe nur die Zeit nicht verändern.“