Mitglied
- Beitritt
- 12.07.2002
- Beiträge
- 589
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Das Schloss (12.07.04)
Nein, diese Geschichte hat nichts mit Kafka zu tun. Sie handelt von etwas Schönerem, nämlich vom Urlaub.
Seit Jahren hatten wir unseren Sommerurlaub auf eine bestimmte Form festgelegt: wir erholen uns erst zwei Wochen an den sonnigen Gestaden des französischen Mittelmeeres, um danach – frisch ausgeruht – einige Tage „Kultur“ anzuhängen, und diese immer in einer anderen schönen Gegend unseres Nachbarlandes. Zugegeben, die Aufteilung zwischen „Faulenzen“ und „Lernen/Erleben“ ist leicht einseitig – aber sie hat sich bewährt. Diese Ferien wurden immer bestens vorbereitet. Dabei obliegt es mir, zu entscheiden, ob zum Beispiel Hotels per Fax, oder aber per E-Mail angeschrieben werden sollen. Meine Frau sucht sich die Reiseroute und die Hotels, in denen wir übernachten wollen, aus und bestimmt, wie das Urlaubswetter zu sein hat. Mit dieser Arbeitsteilung sind wir bis heute bestens gefahren.
Letztes Jahr waren die weiten Hochebenen der Cevennen dran. Eine dünn besiedelte Landschaft, die wunderbar zu den wenigen Quadratmetern Strand an der Côte Azur kontrastiert. Und einzelne Kunstschätze hat die Gegend obendrein zu bieten.
Als Etappenziel hatten wir ein Hotel am Eingang der Corniche des Cevennes gewählt. Kein normales Hotel: es war ein Schloss. Meine Frau fand es auf einer reich bebilderten Internet-Seite und verliebte sich sofort in die Idee, endlich einmal wie ein König im Schloss zu leben! Wir freuten uns wie die Kinder darauf.
Unser Auto schnaufte nicht schlecht, als es sich den Schlossberg hinauf mühte. Es war nicht wegen des Urlaubgepäcks. Am Meer benötigen wir immer nur wenige Kleider. Vielmehr machten ihm die „Kleinigkeiten“, die wir dort einkauft hatten, zu schaffen. Die zwei Pagen im Livree, die uns die beiden Flügel des schweren Portals hätten öffnen sollen, hatten schon Feierabend. Immerhin war es schon kurz nach neunzehn Uhr, als wir eintrafen. Später erfuhren wir im Gespräch, dass sie führende Mitglieder der örtlichen Gewerkschaft waren. Das erklärte natürlich ihr Verhalten.
In weitem Bogen fuhren wir vor die ebenfalls weit geschwungene Freitreppe. Schon damals fragte ich mich, wie denn der Bauherr damals schon wissen konnte, was für einen wahnsinnig großen Wendekreis mein alter Mazda hat. Bis heute weiß ich es nicht.
Adel verpflichtet. Mit großartiger Geste öffnete ich den Wagenschlag, reichte meiner Gattin den Arm und führte sie die Treppe hinauf, zum Haupteingang. Dass ich peinlichst darauf achtete, genau in der Mitte der Treppe zu gehen, war Ehrensache. Nur: die reich verzierte und in vornehmem Holz gehaltene Eingangstüre zu unserem Glück war zu.
Etwas abseits, im zweihundert Jahre alten, exotischen Park (das wussten wir aus dem Internet), saßen zwei Herren. Der eine sah aus, wie ein englischer Gentleman aus dem Bilderbuch: fein gebügelte helle Hose, weißes Hemd, zweifarbige Schuhe und natürlich eine schwere Pfeife, die lässig im rechten Mundwinkel hing. Er beachtete uns nicht; das wäre wohl unter seiner Würde gewesen, denn wir kamen in Turnschuhen an. Aber warum saß der andere Herr, auch er – wie wir - in Turnschuhen, sogar mit kurzer Hose und ausgewaschenen T-Shirt, daneben? Ein eigenartiges Paar. Wir waren verwirrt und standen immer noch vor der verschlossenen Türe. Schellen half nichts. Vielleicht funktionierte die gut zweihundert Jahre alte Klingel gar nicht mehr? Oder sie schreckte jemanden in den weit hinten gelegenen Gemächern des Schlosses auf. Die Wege waren weit, Eile in diesem Rahmen nicht angebracht, also warteten wir weiter. Dass wir uns dabei auf unsere Koffer setzten war vielleicht nicht der Gipfel des guten Geschmacks. Aber wir waren müde von der Reise.
Es verging eine Viertelstunde, die uns mindestens wie eine ganze vorkam, da erhob sich der andere Turnschuhträger, näherte sich uns und fragte in einem Französisch, das mit einem starken italienischen Akzent eingefärbt war: „Suchen Sie jemanden?“ Wir gaben uns als neu angekommene Gäste zu erkennen, worauf er sich freundlicher Weise bereit erklärte, für uns die Chefin des Hauses zu rufen, die dann auch, sehr gemächlich, aus den Tiefen des Schlosses erschien und uns huldvoll öffnete. Würde ich jetzt schreiben, dass uns ein „Hauch von frischer Farbe“ entgegenströmte, würde meine Nase auch heute noch rebellieren. Mit Recht. Es stank bestialisch nach Ölfarbe und wir ignorierten es freundlich. Auch sehr alte Gemäuer müssen ja mal renoviert werden. Wo kämen wir denn sonst hin?
Es war uns schon fast peinlich, dass extra wegen uns der Computer eingeschaltet wurde, nur um uns zu bestätigen, was wir längst wussten, nämlich dass wir Halbpension bestellt hatten. Und das war genau der Moment, in welchem sich das freundlich beflissene Antlitz der Hausherrin schlagartig verdüsterte und einer sehr besorgten Mine wich. Bevor sie etwas sagen konnte, glaubten wir bereits, schuldbewusst, zu wissen, dass es unsere leichte Verspätung war, die Grund für ihren Unmut war. Es stimmte ja auch, mittlerweilen war es bereits zwanzig Uhr geworden. Der wahre Grund war ein anderer. Mit dramatischer Gestik und reicher Wortwahl wurde uns erklärt, dass der Koch leider – und übrigens aus völlig unerklärlichen Gründen – einen Tag vor unserer Ankunft sang- und klanglos verschwunden sei. Dabei hob die Schlossherrin die Hände, mit nach oben gekehrter Handfläche gen Himmel, so als ob sie hinzufügen möchte „Gott der Gerechte“. Gerechterweise gab sie uns dann eine vage Information, wo wir das nächste Restaurant finden könnten, außerdem überreichte uns Madame den Zimmerschlüssel und wies auf die große Treppe, die nach oben führte. Meine Frau ging mit dem Schlüssel, der nach Größe und Gewicht einem mittelalterlichen Kerkerschlüssel würdig gewesen wäre, voran und ich mimte – in Ermangelung eines Vorhandenen – den Diener, der ergebenst und im gebührenden Abstand, die Koffer in den dritten Stock schleppte. Ein Trinkgeld erwartete ich übrigens nicht. Endlich waren wir in unserem kleinen Königreich angekommen. Hungrig zwar, aber wir stellten dafür umgehend und unisono fest, dass wir in der Nacht nicht erfrieren würden. Diese alten, dicken Schlossmauern schützten uns nicht nur vor möglichen Erdbeben, sie hatten auch die wunderbare Eigenschaft, tagsüber die Sonnenglut in sich zu speichern, und sie dann nachts gezielt, wohl dosiert, nach innen, in die Zimmer abzugeben. Zum Ausgleich für die fehlende Klimaanlage waren dafür die Fenster – genau genommen: das Fenster – klein. Man muss hier schon beim Bau sehr auf die Sicherheit der Bewohner dieses Schlosses geachtet haben, indem man statt Fenster Schiessscharten einbaute. Und diese hatten einen weiteren Vorteil, die Fledermäuse, die während der ganzen Nacht das Schloss umkurvten, flogen so schnell vorbei, dass sie den Eingang in unser Zimmer offensichtlich immer übersahen.
Gut, wir waren hungrig, dabei aber so müde, dass wir darauf verzichteten, ins Restaurant zu fahren. Wir beschlossen, uns noch etwas in den Park zu setzen und eine Flasche Wein zu trinken um den Abend ausklingen zu lassen. Meine Frau wollte sich vorher noch etwas frisch machen, nach der Reise. Ich ging schon runter.
Nachdem ich mich, in würdiger Entfernung vom edlen Engländer, gesetzt hatte, gesellte sich schnell der andere Turnschuhträger zu mir. Ich köderte ihn mit ein paar Sätzen in italienischer Sprache, was bei ihm sofort sämtliche Schleusen öffnete, und er begann zu erzählen: Er war ein Italiener, der nach England ging, um jetzt hier, in Frankreich, gelandet – oder sagte er „gestrandet“? – zu sein. Wäre er in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewandert, hätte er dort bestimmt seine Karriere als Tellerwäscher begonnen. In England war es anders. Dort startete er als Hilfskellner. Er kämmte sein gewelltes Haar straff nach hinten, stutzte seinen Schnurrbart, warf die weiße Serviette lässig über den Unterarm und wurde sofort zum Vorzeige-Italiener im Lokal. Die nächsten Stufen nach oben übersprang er locker. Seine großen Freunde aus dem kleinen Sizilien, deren Finger an der linken Hand gelb sind vom Nikotingenuss, und deren Finger an der rechten Hand gelb sind vom Umgang mit einem bestimmten Pulver, halfen ihm dabei großzügig. Unser Turnschuhträger war wichtig für sie. Er verstand es, aus munter sprudelnder englischer Konversation seiner Gäste geldwerte Informationen zu gewinnen, die er in fließendes Italienisch übersetzte. So war die nächste Station seiner Laufbahn gleich die des Zahlkellners um dann, nach wenigen Wochen, ein eigenes Lokal in der Londoner City zu übernehmen; natürlich von seinen sizilianischen Freunden gesponsert.
Dies schien mir der richtige Zeitpunkt zu sein, meinen neuen Freund zum Wein einzuladen. Es vergingen keine zwei Minuten, bis die erste Flasche entkorkt war. Und da schritt auch schon huldvoll meine Gattin die Treppe herab. Sie hatte es geschafft, sich eine gute halbe Stunde in dem Raum aufzuhalten, den die Franzosen so liebevoll „Salle de Bain“ nennen, und der in Wirklichkeit ein Minibad – Dusche, WC und Waschbecken – war, in dem man sich kaum umdrehen konnte. Aber klar, hatten denn Könige damals schon ein Bad in jedem Zimmer? Jedenfalls nicht in Frankreich. Alles musste nachträglich eingebaut werden, um das Leben für Touristen angenehm zu machen. Jedenfalls: als sie die Treppe runterkam leuchteten ihre Augen. Sie sah einfach umwerfend aus.
Dann nahm der französische Italiener mit englischer Vergangenheit wieder seine Erzählung auf und wir hörten ihm gemeinsam zu.
Sein Glück vermehrte sich, in Form eines Kontos auf einer der englischen Großbanken, fast täglich. Er wusste selbst nicht warum, aber er wurde ein wohlhabender Mann. Und diese Position machte ihn anfällig für eine französische Dame, die nicht nur wesentlich jünger war als er, sondern die auch von der Gastronomie ungefähr so viel verstand, wie ein Pinguin vom Tennisspiel. Nicht nur die Tatsache, dass sie in diesem Bereich fast auf dem gleichen Niveau waren, sondern auch die Liebe, die sich zwischen den beiden entspann, lenkte ihr Schicksal für die nächsten Monate.
„Darling, ich bin Französin und möchte so gerne zurück in meine geliebte Heimat und dort ein Schloss besitzen, aus dem ich ein herrliches Hotel machen kann“. Generös, wie eigentlich nur Italiener sein können, kam die Antwort ohne Zögern: „Aber natürlich, mia Cara, ich kaufe dir sein Schloss am Eingang zu der Corniche des Cevennes“.
Und davor saßen wir jetzt zu dritt. Der Engländer hatte seine Tasse Tee, vor der er zwei Stunden saß, ausgetrunken und war zu Bett gegangen.
Ohne lange zu fragen, wurde die zweite Flasche Wein auf unsere Kosten geöffnet.
„Meine Frau ist für alle Fragen der Gastronomie hier im Schloss zuständig“, verkündete er stolz. Ich habe mich aus dem aktiven Leben zurückgezogen und genieße das, was man hierzulande mit „Troisième Age“ bezeichnet.“ Da mich mein Magen an unsere Halbpension erinnerte, stellte ich sofort die Frage, wer denn hier für die Antworten in der Gastronomie zuständig wäre. Ich brachte es leider nie in Erfahrung. Der Wein beruhigte unsere Magennerven.
„Manchmal arbeite ich als Berater für sie“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Ich überzeugte sie von der Notwendigkeit, unbedingt eine Brandversicherung für das alte Gemäuer und eine Betriebsausfallversicherung abzuschließen. Immerhin war das Schloss jetzt ihre Lebensgrundlage. Meine nicht. Ich habe immer noch mein Konto in London, von dessen Existenz sie auch in Zukunft nichts erfahren wird. Außerdem meine sizilianischen Freunde.“ Sein Schnurrbart wurde bei diesen Worten noch etwas breiter, als er vorher schon war. „Nachdem die Policen unter Dach und Fach waren, war die Kalkulation einfach: Mit Saisonbeginn war in dieser Gegend nicht vor Mitte Juni zu rechnen. Für schnelle Renovierungsarbeiten waren circa drei Monate erforderlich. Folglich musste der Kurzschluss Anfang März passieren, um auf Sicher zu gehen“.
Die Rechnung ging wunderbar auf. Allerdings hatte sich unser Freund in einem Punkt leicht verrechnet: Renovierungen an Gebäuden, die unter Denkmalschutz stehen, dürfen in Frankreich nur von speziell dafür lizenzierten Handwerkern vorgenommen werden. Und diese mussten in unserem Fall zum Teil bis aus Marseille geholt werden, was die Sache etwas verzögerte. Die Farbe war bei unserer Ankunft im Schloss jedenfalls noch nicht ganz trocken.
Bevor wir uns für die Nacht verabschiedeten, erkundigten wir uns bei ihm leicht besorgt, ob denn die Versicherungsgesellschaften auch zahlen würden, wenn es im Hotel seiner Gattin innerhalb weniger Monate zwei Mal brennen würde. Er versprach, umgehend in den Verträgen nachzulesen.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, konnte er uns beruhigen: „Sie zahlen bei jedem Schadensfall durch Feuer – unabhängig davon, wann dieser eintrete“.
Wir freuten uns auf die nächste Übernachtung in einem traditionellen Hotel, als wir unsere Reise fortsetzten. Ein Schönes Abendessen lockte dort und wahrscheinlich eine Klimaanlage.
Das Thermometer zeigte draußen gut 36 Grad an.