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Das schwarze Moleskine
Das erste Mal sah ich ihn im Biologieunterricht. Seine überdimensionierte Brille und sein abweisender Blick stießen mich ab – ich konnte ihn nicht leiden. Wenn er redete, dann nur mit den Lehrern. Seine Antworten auf ihre Fragen waren kurz, auf den Punkt gebracht und intelligent. Insgeheim beneidete ich ihn, obwohl er nie mit mir sprach. Damals dachte ich, er hielte sich für etwas Besseres, genau wie mein Vater. Ich lag falsch.
Eines Morgens im Herbst veränderte unsere Lehrerin die Sitzordnung. Damit saß ich neben ihm, allerdings sprach er noch immer kein Wort mit mir. In den Pausen, wenn alle anderen lebhaft mit einander lachten, holte er ein Buch aus seinem Rucksack. Ein schwarzer Jack Wolfskin, der mich an einen alten, langweiligen Spießer erinnerte. Ich kannte keinen einzigen Autor, den er las, und Bücher waren sowieso nur für Streber. Aber manchmal bewunderte ich ihn für seine Konsequenz. Er las, egal was um ihn herum passierte. Einmal machten sich ein paar Jungen einen Spaß daraus, sich hinter ihn zu stellen und Papierkügelchen an seinen Kopf zu werfen. Weder zuckte er mit der Wimper noch drehte er sich wütend um. Während den Pausen versank er regelrecht in seinen Büchern. Es kam mir dann so vor, als würde er gar nicht existieren.
Wenn er nicht las, dann schrieb er Notizen in sein schwarzes Notizbuch der Marke Moleskine. Ab und zu schaute ich verstohlen zu ihm rüber, um zu sehen, was er aufschrieb. Aber seine Schrift war so krakelig, dass ich sie nie entziffern konnte. Wichtig konnte das sowieso nicht sein, sagte ich mir zur damaligen Zeit. Ich wusste nicht, wie sehr ich mich irrte. Hätte ich es gewusst, so hätte ich ihn umarmt und ihm einen Kuss auf die Wangen gegeben. Denn er war es, der mich später vor mir selbst rettete – mit seinen Worten, die in seinem schwarzen Moleskine standen.
Das Schuljahr ging zu Ende und mein Leben ging bergab. Meine Eltern trennten sich, lieferten sich einen grausamen Rosenkrieg. Mit mir zwischen den Fronten. Nachts weinte ich lange, hatte niemandem zum Reden. Meine Freundinnen waren nicht für mich da. Denn meine Selbstzweifel machten sich auch in der Schule bemerkbar, ich zog mich weiter in mich zurück, wurde häufig krank. Doch ich hatte keinen sicheren Rückzugsort zu Hause.
Als es immer schlimmer wurde, merkte meine Mutter, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich lebte bei ihr, nachdem mein Vater mit seiner Geliebten in eine andere Stadt gezogen war. Sie schickte mich zu einem Psychologen, aber das brachte nichts. Ich fühlte mich von ihm nicht verstanden, fühlte mich wie eine Kranke, die gebrochen werden musste, um wieder gesund zu werden. Wenn niemand hinschaute, ritzte ich mich mit einer kleinen Rasierklinge in den linken Unterarm. Der Schmerz riss mich aus der Dunkelheit, wie ein Feuerwerk, das den Nachthimmel für einen Moment erhellt. Auch, wenn es nur für einen kurzen Moment war.
Ich glitt immer weiter in ein tiefes Loch hinab, erfüllt von Selbstmitleid verkroch ich mich in meine Bettdecke.
Plötzlich klingelte es an der Tür. Meine Mutter war nicht zu Hause, wer konnte das sein? Ich erwartete niemanden. Sollte ich aufmachen? Ich entschloss mich dazu, in dem Glauben, es sei ein Paket für meine Mutter. Sie schrie mich oft an, wenn ich eines ihrer Pakete nicht annahm. Sie kompensierte wohl ihre negativen Gefühle, in dem sie online einkaufte. Mir kam das seltsam vor.
Also öffnete ich die Tür, doch vor mir stand kein Postbote – es war der seltsame Junge mit der überdimensionierten Brille. Wir starrten uns für einige unangenehme Augenblicke an, keiner von uns brach die Stille.
Er kramte in seinem Jack Wolfskin Rucksack, holte eines seiner schwarzen Notizbücher hervor und streckte es mir entgegen.
„Für dich.“, sagte er schüchtern. Seine Stimme klang sympathisch, auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte. Ruckartig drehte er sich um und ging davon. Perplex stand ich im Türeingang und fragte mich, was mit ihm falsch war und warum er mir sein Moleskine in die Hand gedrückt hatte.
Verstört ging ich in mein Zimmer und fing an in dem Notizbuch zu lesen. Er musste sich die Mühe gemacht haben, seine kraklige Handschrift neu abzuschreiben. Denn ich konnte jedes Wort lesen. Während ich las, traten mir Tränen in die Augen. Seite für Seite verschlang ich und konnte nicht genug bekommen. Nachdem ich es gelesen hatte, fühlte ich mich, als wäre ich endlich, nach einer langen Reise, wieder nach Hause gekommen. Mit beiden Händen nahm ich das Moleskine, drückte es an meine Brust und schloss die Augen. Dankeschön, dachte ich voller Ehrfurcht vor diesem seltsamen Jungen.
Am nächsten Tag ging es mir wieder besser und ich sagte die Stunden mit dem Psychologen ab. Das fühlte sich wie ein erster Schritt Richtung Freiheit an. Eine Woche später und nach unzähligem Lesen des schwarzen Notizbuchs, konnte ich wieder in die Schule gehen. Zwar schmerzte die Trennung meiner Eltern noch immer, doch ich hatte meine innere Balance wiedergefunden.
In der Schule saß ich wieder neben dem seltsamen Jungen. Noch immer sprach er nicht mit mir, doch das machte mir nichts mehr aus. Endlich hatte ich ihn verstanden.
Vorsichtig riss ich ein Blatt meines Blocks ab und schrieb einen Satz darauf, den ich dann zu dem Jungen hinüberschob. „Wollen wir uns nach der Schule treffen? Ich möchte mich bei dir bedanken.“
Langsamer als sonst schrieb er eine Antwort, in einer schönen Schrift – der gleichen, die er auch in dem Moleskine für mich verwendet hatte. „Wenn du darauf bestehst, dann komme ich gerne.“
Nach dem Unterricht trafen wir uns an den Fahrradständern und gingen zusammen Richtung Wasserturm. Am Wasserturm konnte man in Ruhe reden, weil er etwas abseits der Schule lag. Ich gab ihm eine teure Schachtel Pralinen als Dankeschön. Dann konnte ich meine Fragen nicht länger zurückhalten:
„Warum hast du mir das Buch gebracht? Wieso wusstest du, was mich beschäftigt hat? Woher wusstest du, wo ich wohne? Wer bist du?“
Er schaute mich an, er machte einen viel entspannteren Eindruck, als in der Schule, und dann erzählte er mir seine Geschichte:
Er war schon als kleiner Junge ein seltsames Wesen. In der Gegenwart vieler Menschen fühlte er sich unwohl und überfordert. Seine Lieblingsbeschäftigung waren Bücher; anspruchsvolle, fantastische, nicht aufhören wollende.
Darin fand er den Zugang zu anderen Welten. Die Protagonisten waren seine besten Freunde, sie fühlten sich für ihn wie echte Menschen an. Manchmal sprach er laut mit ihnen und sie antworteten ihm, spielten mit ihm und offenbarten sich ihm in ihrem Wesen.
Er verstand sie.
Ab diesem Moment erwachte seine Empathie für seine Mitmenschen. Auch, wenn er es ihnen nicht direkt mitteilen konnte, fand er doch einen Weg. Seine Gefühle und Empathie fanden einen Ausdruck in seinen Texten. Als er seiner Mutter einen dieser Texte gab, fing diese an zu weinen. Daraufhin kaufte sie ihm alles was er wollte – vor allem wünschte er sich seine schwarzen Notizbücher, in denen er alles aufschrieb, was er sah. Und er sah Details, die sonst niemand wahrzunehmen schien – kleine Mikroexpressionen, flüchtige Regungen auf ihren Gesichtern. Er verstand seine Mitmenschen, so wie er Protagonisten in Büchern verstand.
Zu Weihnachten schenkte er seinen Eltern jeweils ein schwarzes Notizbuch, fein säuberlich in Reinschrift, das sie tief ergriff. Denn seine Texte waren voller Schönheit, Wahrheit, lasen sich, wie eine Würdigung des tiefsten Selbst, schenkten Hoffnung, beseelten die Lesenden.
In der Schule ging es ihm schlecht, die Eindrücke überforderten ihn. Er konzentrierte sich auf den Unterricht, seine Bücher, die er in den Pausen ununterbrochen las und er schrieb seine Beobachtungen in sein Notizbuch. Oft schrieb er über seine Sitznachbarn, weil er sehen konnte, wie sie sich verhielten.
So kam es, dass er auch über das Mädchen mit dem traurigen Blick schrieb, das neben ihm saß. Früher als sie selbst, erkannte er ihre Trauer, ihre Stärken und ihre Schönheit. Er krakelte in der Schule, um es am nächsten Tag in Reinschrift zu verfassen. Denn er träumte davon, diesem Mädchen nah zu kommen, ohne zu wissen, wie er das anstellen sollte. Er traute sich nicht einmal ihr das Buch zu übergeben, als es fertig geschrieben war.
Doch fasste er sich ein Herz, als sie nicht mehr in die Schule kam. Er hatte schon lange das Gefühl gehabt, dass sie litt und einsam war. Viele schlaflose Nächte musste er mit sich selbst kämpfen, denn er wusste nicht, ob er es wirklich tun könne.
Eines Tages schaute er dann die Adresse des Mädchens nach, sie stand im Klassenbuch. Lange wartete er vor dem Haus, sah die Mutter davonfahren und zögerte. Kurz bevor es dunkel wurde, nahm er seinen Mut zusammen und klingelte.
Er übergab das schwarze Moleskine, geschrieben voller Liebe, Wehmut und Einsamkeit.