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Das Schweigen der Cassandra (Eine Geschichte über Kinder und Puppen)
Das Schweigen der Cassandra
Eine Geschichte über Kinder und Puppen.
Sie war eigentlich ein ganz normales Mädchen. Sie war genau so klug, genau so mutig, genau so hübsch und genau so verspielt wie alle anderen Mädchen in ihrer Klasse. Doch etwas Besonderes hatte sie. Ihren Namen; sie hieß nämlich Cassandra. Wie ihr euch vielleicht denken könnt, ist so ein Name nicht gerade ein Geschenk für ein neunjähriges, Mädchen, das weder Griechin, noch Italienerin, noch ein Zirkuskind war und darüber hinaus nur mit blöden Kindern in eine Klasse ging, die alle so normale Namen wie Steffi, Klaus, Thorsten oder Sabine hatten. Cassandra, die von ihren Mitschülern wegen ihres Namens oft gehänselt wurde, hätte sich am liebsten zu Weihnachten einen neuen Namen gewünscht.
Doch das Christkind hatte kein Erbarmen mit ihr. Es brachte ihr am Weihnachtsabend neben vielen Malbüchern und Spielkochtöpfen aus Holz statt dessen eine komische Puppe mit roten Haaren, einem riesigen Mund und einem grün-roten Kleid mit Schottenmuster.
Toll, dachte sich Cassandra, eine hässliche Stoffpuppe für das Kind mit dem blödesten Namen der Welt. Natürlich sagte sie am Weihnachtsabend kein Wort, denn sie wollte ihren Eltern, die es wirklich immer nur gut mit ihr meinten, nicht weh tun. "Nein, wirklich eine schöne Puppe, vielen Dank". Cassandras Eltern strahlten um die Wette und gaben sich einen dicken Kuss.
Als sie später ins Bett gingen, die Familie bestand nur aus Vater, Mutter und Tochter, nahm Cassandra alle ihre Geschenke mit in ihr Zimmer. Das machte sie Weihnachten immer so. Nur ihre neue Puppe ließ sie im Wohnzimmer liegen. Ihren überraschten Eltern sagte sie, dass doch irgendwer den Weihnachtsbaum bewachen müsse und dass sich die Puppe dafür bestens eigne, da sie so große, aufmerksame Augen hätte. Sie sah nicht, dass die Puppe traurig in sich zusammensackte, als sie alleine im Gabenzimmer zurückgelassen wurde.
***
Cassandra schlief ruhig und fest. In ihren Träumen lief sie über verschneite Bergwiesen und baute mit ihren Eltern große Schneemänner mit Möhrennasen. Plötzlich wurde sie jedoch wach. Etwas hatte sie im Schlaf berührt. Sie öffnete die Augen und erschrak. Direkt vor ihr war das Gesicht der neuen Puppe. "Nicht erschrecken, ich bin`s nur" sagte diese mit einer freundlichen Stimme. Obwohl Cassandra sich ein wenig wunderte, dass die Puppe sprechen konnte, hatte sie keine Angst. Schließlich war sie schon ein für ihr Alter sehr großes und reifes 9-jähriges Mädchen.
"Nanuuu, du kannst ja sprechen. Was gibt`s denn?"
"Ich sollte doch auf den Weihnachtsbaum aufpassen und da es im Wohnzimmer so langweilig war, dachte ich so bei mir, dass du mir vielleicht Gesellschaft leisten möchtest" die Puppe zwinkerte lustig.
"Hatte ich eigentlich nicht vor", sagte Cassandra "ich denke, dass ein Wächter völlig ausreicht".
"Hm, denke ich nicht. Was ist, wenn nun ein böser Mann kommt und den Baum klauen will. Ich kann den doch überhaupt nicht aufhalten".
"Ach Gott. Es kommt doch niemand, der den Baum klauen will. Das alles hab ich meinen Eltern doch nur gesagt, weil...."
Cassandra verstummte und die neue Puppe sah sie erstaunt an:
"Ja? Weil...?"
"Na, weil ich dich...hässlich finde. Dein großer Mund, deine Haare und überhaupt dein ganzes Aussehen". Nun war es raus.
Die Puppe sah sie erschrocken und entsetzt an.
"Du findest mich .... hässlich?" Eine dicke Träne kullerte aus dem Auge der Puppe und Cassandra schämte sich für ihre Worte.
"Nein, so habe ich das nicht gemeint."
"Hast du aber so gesagt. Ich weiß gar nicht, warum eine Königin so etwas Böses sagen kann, du.."
Cassandra horchte auf. "Eine Königin? Wieso eine Königin? Ich bin doch nur ein kleines Mädchen."
"Nee, bist du eben nicht. Ich könnte dir viel erzählen, doch das würdest du sowieso nicht verstehen, weil du blöd bist."
Nun war Cassandra richtig wütend. "Ich bin blöd, ich geb` dir gleich blöd, du alte Schrumpelnudel." Diesen Ausdruck hatte sie noch am Nachmittag von dem dicken Paul aus der Nachbarschaft gehört, als er von seiner großen Schwester sprach. "Du bist doch die hässlichere von uns beiden. Schau dich doch mal an.."
" Das mußt du gerade sagen, du doofe.."
Das ging einige Minuten so. Schließlich prügelten sich die Puppe und Cassandra sogar auf dem Bett. Es war erstaunlich, wie stark so eine Stoffpuppe sein konnte.
Irgendwann hatten die beiden Streithennen jedoch genug vom Kloppen. Sie lagen einfach nur erschöpft auf Cassandras Bett und schnappten nach Luft.
"Geht`s dir jetzt besser? fragte die Puppe zynisch.
"Nein. Aber der Kampf ist unfair. Ich bin viel, viel stärker als du."
"Ha, das ich nicht lache. Du und stärker. Wenn ich wollte, könnte ich dich mit einem einzigen Zaubertrick besiegen. Aber das wäre unfair...und deshalb tu` ich es nicht".
"Zaubern?" wie alle kleinen Mädchen liebte Cassandra Märchen von Feen, Ungeheuern und Zauberern und plötzlich war sie ganz Ohr.
"Wieso kannst du zaubern ?"
"Tcha", sagte die Puppe "ist dir nicht aufgefallen, dass selbst die Tatsache, dass ich sprechen kann, schon irgendwie Zauberei ist."
"Hm, irgendwie hast du recht. Aber kannst du auch Zaubersprüche?"
"Da wo ich herkomme, können alle Leute zaubern. Aber wir brauchen dafür keine Zaubersprüche. Wir zaubern mit unseren Gedanken."
"Mit euren Gedanken? Wie soll das denn gehen?"
"Pass mal auf, ich zeig`s dir. Leg dich mal zurück und entspanne dich...so, genau...und jetzt mach die Augen zu, nein nicht gucken, richtig zumachen, sonst klappt das nicht."
Cassandra tat wie ihr geheißen. Sie legte sich bequem in ihre Kissen und schloss die Augen. Die ganze Sache war auf einmal unheimlich spannend.
"So, und jetzt erinnere dich an deinen Traum von vorhin. Siehst du die Winterlandschaft?"
"Woher...?"
"Pssst. Stell` dir jetzt die verschneiten Hügel und Berge vor. Du baust einen Schneemann. Der Wind pfeift dir um die Ohren und dir ist trotz deines Schneeanzuges kalt. Deine Finger sind schon richtig taub vor Kälte. Doch du baust weiter an deinem Schneemann. Spürst du die Kälte?"
Obwohl die Heizung auf Hochtouren lief und Cassandra ihren warmen Baumwollschlafanzug mit den kleinen Enten an hatte, fror sie plötzlich. Sie fühlte die Kälte in sich aufsteigen, ihre Finger konnte sie jetzt kaum noch bewegen.
"Hilfe, mir ist so kalt. Mach, dass es wieder warm wird."
"Nein," sagte die Puppe, "das musst du selber tun. Stelle dir einfach etwas Warmes vor, z.B. ein Sommertag im Freibad. Du musst dich anstrengen, dann schaffst du es auch."
Puh, der letzte Freibad-Nachmittag lag schon fast fünf Monate zurück, das war zu schwer. Nee, Cassandra fand es viel leichter, sich an ihr letztes Vollbad in der Badewanne zu erinnern, dass sie am Nachmittag, kurz vor der Bescherung genießen durfte. Sie konzentrierte sich ganz doll und wenige Sekunden später konnte sie den würzigen Duft des Tannennadelbadeschaums riechen. Die Wärme kehrte zurück in ihren Körper, sie fühlte sich wohl und mollig warm.
"Siehst du, es klappt." Die Stimme der Puppe klang nun viel freundlicher und vertrauter als zuvor.
Cassandra öffnete die Augen und lag wieder in ihrem Bett.
"Das war toll," sagte sie erstaunt "ich kann ja auch zaubern."
"Richtig, und du kannst noch viel mehr. Bleibe liegen. Ich habe mir überlegt, dass ich dir das, von dem ich dir eben berichtet habe, nun doch erzählen möchte. Versuche, dich in die Geschichte hineinzufühlen, sie mitzuerleben. Du wirst eins mit der Geschichte. Das ist ein weiterer großer Zauber."
Cassandra entspannte sich erneut. Ihr war warm und sie freute sich auf die Geschichte.
***
Vor langer, langer Zeit lebte ich in einem Land, das fast genau so schön aussah, wie das in dem du lebst. Wir waren ein glückliches Volk. Wir lebten mitten in der Natur, in kleinen bunten Häusern, die alle aus Holz gebaut und mit Stroh bedeckt waren. Wir hatten keine Supermärkte oder Geschäfte. Wenn wir etwas brauchten, z.B. Holz für den Ofen, gingen wir in den Wald. Wenn wir Hunger auf Fisch hatten, gingen wir zum Fischen, wenn wir Obstsalat machen wollten, sammelten wir Früchte. Jeder lebte von dem, was er fing, suchte, baute oder was ihm geschenkt wurde. Es gab kein Geld oder so was. Jeder hatte ja genau das, was er brauchte, und das reichte. Und wenn einem mal plötzlich die Milch ausging und die Kuh keine Lust mehr hatte, welche zu geben, ging man einfach zu seinem Nachbarn. Der hatte bestimmt noch ein wenig Milch über.
Wie gesagt, es war eine schöne Zeit. Es gab keinen Neid, keine Kriege und keine Gewalt. Das Volk wurde von einem alten König regiert, der im ganzen Land sehr beliebt war. Er verlangte keine Steuern und keine sonstigen Abgaben. Er hatte auch nicht so ein großes Schloss, wie es Könige gern zu besitzen pflegen. Er lebte, wie alle anderen auch, mit seiner Frau und seiner Tochter in einem kleinen Holzhäuschen.
Eines Tages geschah jedoch etwas sehr Schreckliches in dem kleinen Land. Es wurde von einer Horde wilder Barbaren überfallen und fast vollständig zerstört und niedergebrannt. Da wir ja nie gelernt hatten, uns zu wehren oder gar zu kämpfen, hatten wir nicht die geringste Chance gegen unsere Feinde, die außerordentlich brutal und gemein vorgingen. Sie töteten und fingen alle übrig gebliebenen Bewohner des Landes ein und sperrten sie in kleine Käfige, ohne darauf zu achten, dass z.B. Familien oder Ehepaare zusammenbleiben konnten. Sie stellten die Käfige auf große Wagen und brachten uns in ein weit entferntes Land ...
***
...es war kalt. Es stank nach Urin und Kot. Die kleinen Wesen, die zusammengeschlagen und zitternd in ihren Käfigen ausharren mussten, wurden von jedem Schlagloch, jeder Unebenheit des Weges durchgerüttelt. Viele weinten, einige versuchten zu schlafen, alle hatten Angst. Was würde als nächstes geschehen, wo würden sie hingebracht werden?
Der König war auf den ersten Wagen gebracht worden. Er hockte zusammen mit einem alten Bauern in einem Käfig, der selbst für einen Mann zu klein gewesen wäre. Er blutete aus mehreren Wunden. Als die Barbaren über sein Land hergefallen waren, hatte er sich ihnen todesmutig in den Weg gestellt, doch er war sehr schnell von mehreren Gegnern gleichzeitig angegriffen worden, die ihn mit ihren Keulen und Schwertern auch am Kopf trafen und ihn ohnmächtig werden ließen. Nun fror er und in seinem Schädel brummten tausend Bienen. Doch viel schlimmer als der körperliche Schmerz war die Sorge um seine Familie und um sein Volk. Er hatte seine Frau und seine Tochter schon lange nicht mehr gesehen. Er erinnerte sich noch daran, dass er sie in den Keller geschickt hatte als die Barbaren gekommen waren, doch ob sie seinen Rat befolgt hatten oder ebenfalls von den Feinden gefangen genommen worden waren, wusste er nicht. Er wusste nur, dass die Zukunft nicht gut für ihn und seine Lieben aussah.
***
Die Luft in dem niedrigen Kellerraum war stickig und verbraucht. Cassandra und ihre Mutter lagen zusammen auf einer alten Wolldecke, die noch ein wenig nach Kaminrauch vom letzten Winter roch. Es war still. Totenstill. Cassandra, die neunjährige Tochter des Königs, hatte Angst. Sie hatte sich schon vor mehreren Stunden an ihre Mutter geklammert und sie seitdem nicht mehr losgelassen. Von den Ereignissen in ihrem Dorf waren nur wenige Geräusche zu ihnen in den Keller gedrungen. Einmal hatten sie einen Mann schreien hören, dann war irgendwo ein Haus eingestürzt, was den Boden hatte erzittern lassen. Dann war es lange Zeit sehr ruhig gewesen. Cassandra und ihre Mutter ahnten, nein, sie wussten, dass da oben etwas Fürchterliches geschah und dass man sie auf keinen Fall finden durfte.
Irgendwann, die Ruhe hatte schon viel zu lange über dem Land gelegen, nahm Cassandra allen Mut zusammen und löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter, die eingeschlafen war. Vorsichtig kroch sie durch den dunklen Keller und erreichte schließlich die Treppe, die nach oben führte. Langsam und auf allen Vieren erklomm sie Stufe um Stufe. Zaghaft berührten ihre Finger die Kellertür. Sie ließ sich öffnen. Dann stand Cassandra in der Küche des kleinen Hauses. Alles sah aus wie sonst auch. Nichts war gestohlen, nichts zerstört worden.
"Vater?" sagte sie leise, "wo bist du, Vater? Komm doch zu uns. Vater, bitte komm zurück." In diesem Augenblick spürte sie den beißenden Rauchgeruch in ihrer Nase. Sie ging durch die Küche und stand wenige Sekunden später auf der Veranda. Was sie sah, ließ sie anfangen zu weinen. Der Anblick war grausam und unvorstellbar, vor allem für ein kleines Mädchen, dass ihr Leben lang nur die guten, schönen und warmen Dinge der Welt gekannt hatte.
***
Sie wurden von den Wagen geholt und in eine große Halle gebracht. Dort mussten sie sich in Reihen aufstellen. Die Halle sah aus wie eine alte Fabrikhalle, nur waren keine Maschinen mehr vorhanden. Der Geruch von Öl, Metall und Schweiß lag in der Luft. Irgendwo übergab sich ein Gefangener, nachdem er von einem Aufseher zusammengeschlagen und in seinem Blut liegengelassen worden war. Der König stand in der ersten von 50 Reihen, die jeweils aus ca. 100 Puppen bestanden. Die Aufseher gingen mit Gewehren und Schlagstöcken vor den Gefangenen auf und ab. Musterten, beäugten, kontrollierten. "Gerade stehen! Nach vorne gucken! Nicht sterben!" hallte es von überall her.
Dann wurden sie in verschiedene Gruppen eingeteilt: Frauen links, Kinder rechts, Männer stehenbleiben, Kranke mitkommen "Los lauf, tragen werden wir dich nicht, du dreckiges Schwein".
Der König wurde zusammen mit ca. 150 anderen Männern in eine Baracke gebracht, wo ihnen eine Pritsche zugewiesen wurde. Dann verriegelten sie die Eisentüren und die 19 Glühbirnen erloschen. Dunkelheit. Viele keuchten, heulten, schrien. Der König saß auf der Holzkante seiner Pritsche, das Gesicht in den Händen vergraben. An seinen Fingern klebte getrocknetes Blut.
***
Überall qualmte es. Cassandra stand auf der Veranda und sah ins Dorf hinab. Doch dieses war verschwunden. Wo vor einigen Stunden noch bunte, fröhliche Holzhäuschen gestanden hatten, lagen nun nur noch verbrannte, verkohlte Balken. Zwischen den Trümmern aus Glut, Rauch und Verderben lagen Tote. Seltsam verdrehte, seltsam entstellte, zum Teil verbrannte, zerschossene, zerschlagene, aufgeplatzte Leichen. Das kleine Mädchen stand wie festgewachsen. Die Faust der Erkenntnis traf sie wie der Urknall die Mutter Erde. Unvorbereitet, überraschend, brutal. Sie riss sie mit einem Mal aus ihrem Leben, ihrer unschuldigen Kindheit heraus und ließ sie binnen Sekunden zur Frau reifen.
Wie im Trance wischte sie sich die Tränen von der Wange, drehte sich um und ging zurück ins Haus. Dabei stellte sie fest, dass ihr grün-rotes Kleid mit dem Schottenmuster völlig verdreckt war. Hastig säuberte sie es mit den Händen.
Sie steigt in den Keller hinab, findet ihre Mutter, schlafend, träumend, unwissend. Sanft rüttelt sie an ihrer Schulter, weckt, umarmt, redet, weint, geht, zeigt, drückt, hält den zusammenbrechenden Körper und schließt ihr um Jahre gealtert, ihrer Unschuld beraubt, die Augen.
***
Morgenappell. Kälte, Eis an den Scheiben, ohne Schuhe, Rauch vor dem Mund, geschwächt, hungernd, in Reih` und Glied. Abzählen. 141 Seelen aus Baracke 7. Neun fehlen: "NACHSCHAUEN UND HERBRINGEN !" Warten, Stehen, Hunger, Angst, Schuld.
"DREI TOT, SECHS KRANK !"
"NEUN TOT !"
"Neun tot".
"DUSCHEN !! UND ABMARSCH !!"
Die Schlange der Totgeweihten setzt sich unwillig in Bewegung. Einer warmen Dusche, einem neuen Leben entgegen.
***
Sie war viele Tage lang gelaufen. Der Rucksack mit den Proviantvorräten drückte auf den Schultern. Nur nicht schlappmachen. "NUR NICHT SCHLAPPMACHEN !!"
Nachts schlief sie in Berghöhlen oder unter dichten Sträuchern. Der Winter war ganz plötzlich über das Land hereingebrochen und tötete alles Grün, ließ warme, lebendige Flüsse, Seen und Quellen des Lebens erstarren und gefrieren.
Als sie am zehnten Tag den Rauch der Schornsteine in der Ferne sah, wusste sie, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Sie versteckte sich hinter einer dicken Eiche und wartete auf den Einbruch der Nacht.
***
Die Dunkelheit lag wie eine hohle Hand, die eine Fliege gefangen hat, über dem Lager. Überall hörte man Wimmern und Wehklagen und Anton G., der junge Wachhabende mit den blonden Haaren und den lustigen Sommersprossen, saß mit einem heißen Kaffee in der Linken, einer französischen Zigarette in der Rechten und einem Buch vor sich auf Turm 3, den westlichsten Begrenzungspunkt und zudem unwichtigsten Beobachtungsstandort des Lagers. Die Baracken waren von hier aus kaum zu sehen, nur der Lichtpegel des Scheinwerfers von Turm 1 im Süden verriet alle 45 Sekunden ihre Lage. Anton war ruhig und gelassen. Vor Gefahren von Außen brauchte er sich nicht zu fürchten und von Innen schon gar nicht. Deshalb hatte er auch keine Probleme damit, sich vollkommen in seine Lektüre zu vertiefen. Er war seit drei Wochen im Einsatz und hatte seit drei Wochen nichts anderes getan als Nachtwachen zu schieben. Er hatte von den Dingen im Lager kaum etwas mitbekommen, wusste nur, dass es sich um eine riesige Spielzeugfabrik handelte, in der bunte Stoffpuppen gesäubert, aussortiert und für den Abtransport hergerichtet wurden. Er hatte einmal eine gesehen. Sein Vater hatte seiner Nichte letztes Jahr Weihnachten eine geschenkt. Sahen eigentlich ganz hübsch aus mit ihren kleinen, bunten Kleidchen, ihren echten Haaren und ihren Augen.
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen. War da nicht etwas gewesen. Da schon wieder. Er drückte seine Zigarette aus und stellte die Tasse neben das Buch von Gordon Glyce.
Langsam erhob er sich, griff nach der Taschenlampe und trat an die Scheibe. dann leuchtete er die Innenseite des Zaunes ab. Nichts. Er wollte sich gerade wieder hinsetzen, als er das Geräusch erneut hörte. Diesmal leuchtete er die Außenseite des Zaunes ab. Da liegt doch etwas, dachte er bei sich. Was ist das denn, kann es nicht genau erkennen. Er nahm sein Fernrohr und hielt es an die Augen. "Eine Puppe. Wie kommt die denn dahin?"
Er stellte das Fernrohr auf den Schreibtisch, steckte sich eine weitere Zigarette an, griff nach dem Sturmgewehr und verließ seinen Posten. Er stieg die Treppe herab und öffnete die schwere Eisentür, die das Lager von der Außenwelt trennte. Da lag sie. Eine kleine Puppe mit einem Rucksack auf dem Rücken, gut vierzig Zentimeter groß. Mit einem grün-roten Kleid mit Karomuster.
"Wer hat dich denn hier verloren? Bist wohl vom LKW gefallen, was?" Er griff nach der Stoffpuppe und trug sie vorsichtig in seinen Turm.
***
Zwanzig Minuten später war er eingeschlafen. Cassandra stand langsam auf und sprang vom Schreibtisch. Natürlich nicht ohne sich vorher einen Schluck Kaffee aus Antons Tasse zu gönnen.
Langsam durchquerte sie das kleine Zimmer, sprang an der Tür hoch, erwischte die Klinke und verließ den Turmposten über die Treppe. Dann lief sie durch die Dunkelheit, direkt auf die Baracken zu. Zwischendurch mußte sie sich immer wieder verstecken, da entweder betrunkene Barbaren oder ein unheimlich heller Lichtstrahl ihren Weg kreuzten. Dann hatte sie die erste Unterkunft erreicht. Sie war verschlossen. Doch an der linken Seite entdeckte sie ein Fenster, dass sich öffnen ließ. Wie ein Schatten glitt sie in die Dunkelheit des flachen, langen Gebäudes. Im Inneren roch es wirklich nicht gut. Cassandra dachte bei sich, dass sogar eher das Gegenteil der Fall war. Überall schliefen und schnarchten Puppen.
"Hallo, Hallo. Ist hier jemand wach?" Nichts.
Sie tippte einem Schlafenden an die Nase.
"Hallo du, aufstehen. Wachwerden, ich muss dich was fragen."
Der Angesprochene bewegte sich ein wenig. Cassandra versuchte es weiter. Schließlich öffnete der Mann die Augen und sah sie verschlafen und erstaunt an.
"Wer bist du denn? Was machst du hier?" flüsterte er mit gebrochener Stimme. Er hörte sich an, als hätte er seit Wochen nicht mehr gesprochen.
"Ich bin Cassandra, die Tochter deines Königs. Kannst du mir sagen, wo ich meinen Vater finde?"
Der Geradegeweckte sah das kleine Mädchen nur ungläubig an. "Cassandra? Wir dachten du wärest...das ist ja ein Ding, Puppe, toll, dein Vater ist in Nummer 7. Aber dem gehts gar nicht gut. Hat sich ziemliche Sorgen um dich gemacht. Wie bist du hier herein gekommen?"
"Später" sagte Cassandra aufgeregt, "nun muss ich erst einmal den König finden".
Flink wie ein Wiesel schwang sie sich wieder aus dem Fenster heraus und hatte wenig später Baracke Nr. 7 gefunden. Hier fand sie kein Fenster. Sie stellte jedoch fest, dass irgendein trotteliger Wachmann den Schlüssel von außen steckengelassen hatte. Sie öffnete die Tür und befand sich erneut im Dunkeln.
"Papa, Papa. Wo bist du? Papa."
In der hintersten Ecke des Gebäudes hörte sie nun ein leises Geräusch.
"Wer ist denn da?"
"Ich bin Cassandra, die Tochter deines Königs. Weißt du, wo mein Vater ist?"
"Cassandra? Bist du es wirklich? Mein Kind, mein Kind, komm zu mir, komm, ich bin`s dein Vater."
***
Nachdem sie sich weinend und lachend zugleich um den Hals gefallen waren, berichtete der König. Man hatte ihn und sein Volk gefangen, um aus ihnen Spielzeugpuppen zu machen. Man gab ihnen neue Kleidung, verbrannte ihre Ausweise und Papiere, gab ihnen neue Namen und verbot ihnen das Sprechen so lange, bis sie überhaupt nicht mehr sprechen konnten, denn die Barbaren waren Menschen und der Auffassung, dass die Welt noch nicht weit genug sei für sprechende Puppen. Ihnen wurde auch beigebracht, wie sie stundenlang ruhig sitzenbleiben konnten, ohne sich auch nur einmal zu bewegen. Es wurde auch getestet, ob man sie kneten, kitzeln und boxen konnte, ohne das sie eine Regung zeigten.
Wenn einer dann fertig ausgebildet war, wurde er nochmals gewaschen, verpackt und mit tausend anderen auf einen Lastwagen gebracht. Anschließend wurden sie in die großen Warenhäuser und Einkaufsläden gefahren, um dann an Kinder oder ihre Eltern verkauft bzw. verschenkt zu werden.
***
Cassandra lag schon lange nicht mehr ruhig auf ihrem Bett. Sie hatte die ganze Zeit gespannt zugehört. Nun, als die Puppe geendet hatte, blickte sie diese fragend an.
"Du meinst, alle Puppen können in Wirklichkeit sprechen?"
Die Puppe lächelte freundlich.
"Genau das meine ich."
"Und dann können sich auch alle Puppen bewegen?"
"Na logisch. Sie sind einfach nur sehr lange trainiert und manipuliert worden, um so zu sein, wie sie jetzt sind."
Cassandra konnte das alles noch nicht richtig glauben. Doch ein Blick durch ihr Zimmer ließ sie die Wahrheit schnell erkennen. Überall auf den Regalen, Schränken und Puppenstühlen saßen, lagen, lächelten, weinten, lachten, atmeten, tanzten, zwinkerten, lebten ihre Puppen und Stofftiere.
"Aber wie seid ihr denn aus der Fabrik gekommen?" fragte Cassandra.
"Ist doch klar. Der König und seine Tochter schmiedeten in der Nacht einen Plan. Alle Gefangenen sollten einfach so tun, als wenn sie schon alles könnten. Du weißt schon, Atem anhalten, nicht sprechen, nicht bewegen und so. Du musst dir vorstellen, dass das viele nicht wollten. Doch der König versprach ihnen, dass es ihnen dann allen besser gehen und dass sie alle ein besseres Leben haben würden."
"Aber wie ist es denn dann mit den Familien, Freunden und Geschwistern. Können die sich denn auch mal treffen, wenn sie Sehnsucht haben?"
"Selbstverständlich. Erstens haben alle Stofftiere jede Nacht, wenn die Menschen schlafen, und Menschen schlafen viel, frei. Dann können sich diejenigen, die im selben Haus leben, unterhalten. Sie können auch Gymnastikübungen machen und sich heimlich etwas zu Essen aus dem Kühlschrank holen."
"Und wie können sich Puppen sehen, die nicht in einem Haus leben?"
"Ach, da gibt es viele Möglichkeiten. Erinnere dich mal, wie oft du woanders schläfst und deine Stofftiere mitnimmst. Na ja, und wenn man nicht mitgenommen wird oder nicht auf Bekannte oder Verwandte trifft, zaubern wir uns einfach zueinander. Wir schließen dann einfach unsere Augen und zaubern uns dahin wo wir wollen. Und wenn die Kinder am nächsten Morgen aufwachen, sind wir wieder genau da, wo sie uns vor dem Schlafengehen zurückgelassen haben."
Cassandra schaute die Puppe verwundert an.
"Und niemand merkt etwas?"
"Glaube mir, von den Menschen merkt NIEMAND etwas. NIEMAND."
"Mann, das ist ja ein Ding." Cassandra überlegte lange. Draußen hatte es langsam angefangen zu schneien. Weiße Weihnacht. Morgen würde sie zusammen mit ihren Eltern einen Schneemann bauen.
"Und warum hast du dich heute dann verraten? Vielleicht, weil du sauer auf mich warst, dass ich dich alleine im Wohnzimmer gelassen habe?"
Die Puppe mit den roten Haaren und dem großen Mund sah Cassandra lange an. In ihren Augen lag eine seltsame Freude und Ruhe.
"Hm, schwierige Frage. Vielleicht konnte ich es nur nicht ertragen, dass ein so hübsches und aufgewecktes Mädchen wie du, so wenig mit seinem eigenen Namen anfangen kann, sich sogar über ihn ärgert und keine Geschichte mit ihm verbindet. Wenn du in Zukunft also über deinen Namen nachdenkst oder in der Schule von Mitschülern geärgert wirst, denke einfach an das, was das Mädchen in der Geschichte alles geschafft hat, und dass sie nicht nur den selben schönen Namen hat wie du, sondern auch noch bei dir im Kinderzimmer wohnt und deine beste Freundin ist."
ENDE
ARTSNEUROSIA (Swen Artmann, 22.12.99)