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Das siebte Rennen
Hastig kehrten die Unentwegten, die das sportliche Geschehen aus unmittelbarer Nähe verfolgt hatten, vom Geläuf zurück und waren froh, als sie vorübergehend wieder ein Dach über dem Kopf hatten.
Das sechste Rennen war vor wenigen Augenblicken zu Ende gegangen. Und mit ihm jede Hoffnung auf ein Erbarmen des Wettergottes.
Am Morgen hatte die zwischen den Wolkendecken sporadisch hervorlugende Sonne noch Anlass zur Hoffnung gegeben. Pünktlich zu Beginn des Rennens hatte sie sich verabschiedet. Der Nieselregen hatte sich mittlerweile in eine lästige Sprinkleranlage verwandelt, die sich trotzig von nichts und niemandem abstellen ließ. Die Böen des Herbstwinds taten ein Übriges, um die knapp dreitausend Besuchern der Pferderennbahn Grafenberg bereuen zu lassen, an diesem Sonntagmittag die eigenen vier Wände verlassen und gegen einen nasskalten, von den verschachtelten Tribünenbauten nur notdürftig gegen Wind und Wetter abgeschirmten Rennplatz eingetauscht zu haben.
Eine Dame mittleren Alters, die sich mit zu viel Make-up, dickem Lidstrich und grell rotem Lippenstift eine Kopie ihrer einstigen Schönheit zu erhalten suchte, schälte sich aus dem Strom der Rückkehrer heraus.
Wie viele andere Besucher hatte sie – gestärkt von einem Glas heißen Tee mit Rum - Durchhaltewillen bewiesen, da der erklärte Höhepunkt der Veranstaltung noch bevorstand.
Tatsächlich war die Besetzung des Großen Preises von Nordrhein-Westfalen erstklassig. In diesem Jahr wurde die Prüfung als Hindernisrennen über eine Distanz von 3.200 Meter ausgetragen, die Pferden und Jockeys alles abverlangte. Schon die normale Flachbahn auf dem Grafenberg war bekannt für gravierende Höhenunterschiede von bis zu fünfzehn Meter, bei denen Jockeys, die zu früh Gas gaben, am Ende meist das Nachsehen hatten, weil auf der langen Geraden zum Zielpfosten erneut ein Anstieg zu bewältigen war.
Die Frau trug einen ausladenden Pelzmantel, über dessen Kragen sie einen Fuchsschwanz gelegt hatte und diesen zur Schau trug wie ein Trapper seine Beute. Gekrönt wurde ihr äußeres Erscheinungsbild von einer federbuschartigen Kopfbedeckung, die man anderswo als gewagt empfunden haben mochte; im bunten Spektrum des hiesigen Publikums fand sie ihren Platz. Die Frau steuerte auf das Vordach eines nicht besetzten Tickethäuschens zu und suchte dort Zuflucht. Sie entnahm ihrer aus Schlangenleder gefertigten Handtasche das Programmheft des Reitervereins, schlug die Seite um und begann die Vorhersagen und Informationen zum kommenden Rennen zu studieren. Nach einer Weile stopfte sie das Heft wieder zurück an seinen Platz, öffnete einen monströsen Regenschirm und stolzierte unter seinem Schutz mit bemühter Eleganz auf den Führring zu.
Hier hatten sich bereits alle am siebten Rennen Beteiligte versammelt. In Anwesenheit von Vertretern der Rennleitung erhielten Jockeys letzte Anweisungen, erteilten Trainer wohlfeile Ratschläge, fachsimpelten Besitzer unter ihresgleichen. Vor allem aber erhielt das Publikum hier die Möglichkeit, sich eine eigene Meinung über die tatsächliche Verfassung der Pferde zu bilden, die, im Augenblick noch reiterlos, von jungen Mädchen auf dem ellipsenförmigen Platz herumgeführt wurden.
Die Dame im Pelz stellte sich an das Geländer der Absperrung und öffnete erneut ihre Handtasche. Dieses Mal zog sie eine beigefarbene Zigarettenspitze hervor, bestückte diese mit einer Filterzigarette und zündete sie sich mit einem Feuerzeug an, was ihr erst beim dritten Versuch gelang.
Heute stand ihr Fortuna nicht zur Seite. Das Gros ihres für diesen Renntag vorgesehenen Budgets hatte sie zwar noch nicht angerührt. Doch was immer sie seit ihrer Ankunft kurz vor dem zweiten Rennen versucht hatte, war grandios gescheitert. Nur einmal, im vierten Rennen, hatte sie den Zieleinlauf des Felds aufgeregt durch ihr Opernglas verfolgt, in der zittrigen Hand einen Wettschein der Dreierwette, bei der es galt, die drei Erstplazierten in der richtigen Reihenfolge zu tippen. Doch der energische Endspurt eines Wallachs auf der Außenbahn, den sie nicht auf ihrer Liste hatte, riss sie aus ihrem kurzlebigen Gewinnertraum.
Sie musterte jedes einzelne der dicht vor ihr vorbeischreitenden Pferde, schaute jedem ins Gesicht, in die Augen, auf die Nüstern, aus denen die Tiere nach jedem Atemzug kleine weiße Wölkchen hervorstießen, verfolgte ihre Bewegungen im Ring, ließ ihren Blick zuletzt auch über die Hinterbacken gleiten. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, zog sie erneut das Programmheft hinzu. Schon bald schüttelte sie energisch den Kopf und ließ es wieder verschwinden. Im Führring nahmen mittlerweile die Jockeys nach dem entsprechenden Kommando auf ihren Pferden Platz und absolvierten vor den Augen des Publikums einen Probesprung über eines der aus Reisigzweigen bestehenden Hindernisse.
Ihre Wahl fiel auf Hassan und Boccaccio, zwei Pferde, in deren Vorgeschichte nur kümmerlich kleine Erfolgslichter schimmerten. Über einen dritten Platz hatte es keiner der beiden hinausgebracht. Selbst bei optimistischer Betrachtungsweise konnte man sie nur als krasse Außenseiter einstufen.
Ihr war das gleich. An einem anderen Tag hätte sie vielleicht einem der beiden bedauernswerten Gäule einen Favoriten an die Seite gestellt und daraus eine Zweierwette gebildet, bei der gewann, wer Sieger und Zweitplazierten richtig vorhersagte. Heute, an diesem jämmerlich verregneten und selten erfolglosen Renntag, würde ihr Herz – und ihr Einsatz – denen gehören, die ihr Dasein im Windschatten von Erfolg und Ruhm fristeten.
Entschlossen wandte sie dem Führring den Rücken zu und steuerte auf die große Totalisatorhalle zu, um einen Wettschein abzugeben. Die hohen Wände der zugigen und unbestuhlten, zumindest aber beheizten Halle wurden von einer Reihe von Monitoren gesäumt, auf denen jedes Rennen übertragen wurde, wobei sein Finish anschließend in Zeitlupe noch einmal wiederholt wurde. Zwischen den einzelnen Rennen fütterten sie das mehr oder minder interessierte Publikum mit Daten, Fakten und Bildern aus der Welt des Pferdesports.
Als die Dame im Pelz die Halle betrat, gab eine plärrende Stimme gerade über Lautsprecher die Gewinnquoten bekannt. Da die drei Erstplatzierten allesamt schon im Vorfeld hoch eingeschätzt worden waren, erbrachten sie auch nur Gewinne, mit denen sich kaum mehr als ein weiterer Tee mit Rum finanzieren ließ.
„Hassan und Boccaccio in der Zweierwette“, verkündete die Dame in einem Tonfall, der keinen Zweifel aufkommen ließ, dem jungen Mann im schwarzen Rollkragenpullover, an dessen Schalter sie getreten war. Der Mann, im Hauptberuf wahrscheinlich noch Student der Geisteswissenschaften, schaute sein Gegenüber irritiert an. Im Zeitalter der computerisierten Datenverarbeitung war es längst üblich, seinen Wettschein bereits vollständig ausgefüllt über den Schaltertresen zu schieben, wo er gescannt und erfasst wurde, worauf der zu zahlende Einsatz auf dem Kassendisplay erschien. Doch kam es durchaus noch vor, dass ein Wettschein auf Wunsch vom Personal ausgefüllt wurde, sei es, weil ein Neuling noch nicht mit den Regeln der Pferdewetten vertraut war, sei es, weil man es mit angestammten Traditionalisten zu tun hatte. Und eine mit grellrotem Lippenstift zurechtgemachte Vertreterin dieser Gattung stand nun vor Schalter 24 und nestelte an ihrer Brieftasche.
„Dann wollen wir mal sehen“, erwiderte der junge Mann entgegenkommend und warf einen prüfenden Blick auf das neben ihm liegende Programmheft. „Siebtes Rennen, Hassan. Aha, Nummer Vier. Und Boccaccio ... trägt die Nummer Sieben.“ Er nahm die entsprechenden Eintragungen auf dem Schein vor. „Zweierwette, sagten Sie. Hin und zurück?“ Damit fragte er, ob sie die Absicht hatte, die genannten Pferde in beliebiger Reihenfolge als Erster und Zweiter zu tippen.
Die Dame nickte und schob ihm einen Hunderteuroschein entgegen.
„Und der Einsatz wäre ...?“, lotete er vorsichtig aus.
„Hundert Euro, junger Mann, das sehen Sie doch.“
„Äh, ja natürlich“, stammelte der so Angesprochene, schob den Wettschein in den Scanner, reichte ihn der Frau im Pelzmantel und nahm das Geld entgegen.
Draußen war es noch ungemütlicher geworden; der Regen klopfte nun fest gegen die Scheiben des Gebäudes. Als Folge davon flüchteten sich mehr und mehr Besucher der Rennbahn in die Halle, entschlossen, den Verlauf des nächsten Rennens im Trockenen zu verfolgen. Da es sich um eine Hindernisprüfung handelte, fand der größte Teil des Laufs ohnehin im Inneren der Streckenführung statt, weitab von der Tribüne und damit mit bloßem Auge meist nicht zu erkennen.
Seufzend suchte auch sie sich einen Platz mit Blick auf die Monitore, deren Bilder nun zu erkennen gaben, dass der Beginn des Hindernislaufs unmittelbar bevorstand. Im Gegensatz zu einem normalen Galopprennen erfolgte der Start nicht über die Startmaschine; statt dessen wurden die Teilnehmer in einer Reihe nebeneinander ausgerichtet, worauf der Starter mittels Absenken der Startflagge das Signal zum Beginn gab.
„Das Feld ist gestartet“, kommentierte die Stimme eines Rennleiters aus den Lautsprechern. „An der Außenbahn Venus, dahinter Silberpfeil, Professor und Wilder Engel, innen sind Komet und Evergreen, dahinter Hassan, Boccaccio und My Fair Lady.“
Sie zwang sich dazu, nicht hinzuhören. Noch nicht. Zu oft hatte sie erlebt, dass ein scheinbar eindeutiger Rennverlauf beim Einbiegen auf die Zielgerade auf den Kopf gestellt wurde, nur um kurz vor der Ziellinie erneut eine überraschende Wendung zu nehmen. Statt dessen ließ sie den Blick über die Menschen in der Halle schweifen, die gebannt auf einen der Bildschirme an den Wänden starrten. Neben dem klassischen Typus jenes pseudoprofessionellen Spielers, der von Rennbahn zu Rennbahn reiste und stolz darauf war, hier einen Trainer, dort einen Besitzer und die meisten der Jockeys zu kennen, waren hier Familienausflügler vertreten, die ihre Stippvisite auf dem Grafenberg mit einem Besuch des unmittelbar angrenzenden Freigeheges verbanden, dazu Gruppen meist jüngerer Leute, die einfach aus Spaß und Neugier, oft zum ersten Mal, zum Pferderennen kamen, sowie „Laufkundschaft“, die ihren Spaziergang wetterbedingt abgebrochen und unter den Dächern der Pferderennbahn Zuflucht gefunden hatte.
Schließlich blieben ihre Augen an dem – von ihr selbst abgesehen - einzigen Menschen hängen, der sich in diesem Moment nicht auf die Übertragung des Geschehens auf dem Geläuf konzentrierte. Es war ein heruntergekommen wirkender Mann, dessen Alter sich schwer einschätzen ließ, da er sich seit ewiger Zeit nicht mehr rasiert hatte und sein wirres, ungepflegtes Haar bis an die Schulter reichte. Der Mann trug einen ramponierten dunkelgrünen Lodenmantel sowie eine Anzughose, die ihm mindestens zwei Nummern zu groß war. Er hatte braune Schuhe an, deren Schnürsenkel hundert Mal gerissen und dann wieder zusammengeknotet worden waren. Was der Bart vom Gesicht zu erkennen gab, waren tiefe Furchen und Rillen, seine stark gerötete Nase war vernarbt und die Ränder unter seinen Augen schienen sich in die Haut eingefressen zu haben. Zugleich hatten seine Augen etwas, das Leben ausstrahlte, sie blitzten, verströmten etwas Jungenhaftes. Und sie schauten in diesem Moment geradewegs zu ihr herüber.
Es lag etwas in seinem Blick, das sie bei aller Distanz, die zwischen ihrer beider Welten lag, berührte. Es mochte an diesem Ort liegen, konnte mit der Situation zu tun haben. Unter anderen Umständen hätte sie ihn ignoriert, oder, schlimmer noch, wie einen Aussätzigen behandelt, hier aber erwiderte sie seinen Blick und formte gar mit ihren Lippen ein Lächeln, das ihm galt, ihm allein.
„Nach zweitausend Meter liegen an der Innenbahn Venus und Wilder Engel in Führung, zwei Längen dahinter folgen Professor, Evergreen, Komet und My Fair Lady, weitere zwei Längen dahinter Silberpfeil, am Schluss des Feldes Boccaccio und Hassan.“
Sie ließ ihren Blick und ihr Lächeln noch einen Moment auf dem Mann verweilen und wandte sich dann der Übertragung zu. Deren Dramaturgie nahm ihren Lauf, die Stimme des Kommentators wurde lauter, emotionaler, überschlug sich am Ende fast, die Reihenfolge der in Führung liegenden Pferde änderte sich, verschob sich wieder, und der Ablauf des gesamten Rennens schien nur eine einzige Konstante aufzuweisen. Und die hörte sich im Wortlaut des vorläufigen Richterspruchs wie folgt an: „Am Schluss des Feldes Boccaccio und Hassan.“
Resigniert zerknüllte sie ihren Wettschein und warf ihn zu Boden, wo er von Dutzenden und Aberdutzenden seiner Vorgänger erwartet und in Empfang genommen wurde. Eine schlechte Verliererin war sie sonst nicht. Aber auf diese Art mit beiden „ihrer“ Pferde unter die Räder zu geraten... Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und beschloss, danach die Heimfahrt anzutreten. Man konnte sein Glück eben nicht erzwingen, so viel hatte sie in all den Jahren gelernt.
In der Halle setzte nun ein reges Treiben ein. Wettscheine wurden überprüft, weggeworfen, ausgefüllt, an den Schaltern abgegeben. Mittlerweile war der Boden regelrecht übersät mit Papier und sonstigem Unrat.
Langsam schlenderte sie durch die Menge. Ob sie dem Penner zum Abschied ein paar Euro in die Hand drücken sollte? Oder würde er das als Beleidigung auffassen? Mit einem Mal ertönte eine markerschütternde Sirene. „Die Rennleitung legt Einspruch gegen den Rennverlauf ein. Bitte keine Wettscheine wegwerfen.“, plärrte es aus den Lautsprechern. Da dieser Hinweis für die meisten zu spät kam, machte sich in der Halle Unruhe breit. Sie selbst fühlte sich unberührt, hatte sie doch auf die Schlusslichter im Feld gesetzt. Ihre Zigarette war mittlerweile zur Hälfte heruntergebrannt. Von dem Penner war keine Spur mehr zu sehen. Aus reiner Neugier beschloss sie, ein paar Minuten dranzuhängen und in der Nähe des Ausgangs den endgültigen Richterspruch abzuwarten.
Da meldete sich erneut die Lautsprecherstimme.
„Meine Damen und Herren, nach wiederholter Ansicht der Videobänder hat die Rennleitung festgestellt, dass das Feld im siebten Rennen nicht der vorgeschriebenen Streckenführung gefolgt ist ...“ – hier entstand eine kleine, explosive Pause, deren Sprengkraft wenige Sekunden später in der Halle detonieren sollte – „... mit Ausnahme der Nummer Vier, Hassan, und der Nummer Sieben, Boccaccio.“
Ein Tumult entstand. Menschen schrien oder fluchten unverständlich und unzusammenhängend, andere verliehen ihrer Verwirrung und ihrem Ärger stumm, mit ratloser Miene Ausdruck.
„Sieger im siebten Rennen ist damit die Nummer Vier, Hassan, Zweiter die Nummer Sieben, Boccaccio.“ Ihr Herz setzte einen Moment aus. Nur von fern registrierte sie das wilde Gedränge und Geschrei um sie herum. Wie betäubt versuchte sie sich einen Weg zu dem Schalter zu bahnen, an dem sie ihren Wettschein abgegeben hatte.
Der junge Mann im schwarzen Rollkragenpullover war aufgestanden und bemühte sich, die aufgebrachte Menge zu beruhigen, die sich vor seinem Schalter und denen seiner Kollegen versammelt hatte. „Unerhört!“ und „Betrüger!“ zählten noch zu den freundlicheren Worten, die er sich anhören musste. Es dauerte eine ganze Weile, bis auch die letzten vermeintlichen Gewinner einsehen mussten, dass sie leer ausgehen würden.
„Meine Damen und Herren, hier die Quoten aus dem siebten Rennen.“ Erwartungsvolle Stille begleitete die Worte des Sprechers. „Der Sieger Hassan zahlt achthundertfünfzig für zehn, die Platzwette bezahlt sechshundert für zehn. Die Zweierwette zahlt viertausendvierhundertfünfzig für zehn, eine Dreierwette kommt nicht zustande.“
Ein Raunen ging durch das Gebäude. Verzweifelt wandte sich die Dame im Pelz an den jungen Mann hinter dem Schalter. „Aber das bin doch ich“, stammelte sie. „Ich habe auf Hassan und Boccaccio getippt, und da hieß es, sie sind Letzte, da habe ich meinen Wettschein eben weggeworfen.“ Der junge Mann erkannte sie sofort, doch ihre Worte ließen ihn betroffen zu Boden schauen.
„Sie sind mein Zeuge!“, rief sie nun laut, so dass sich die ersten nach ihr umdrehten. „Hassan und Boccaccio! Das habe ich doch bei Ihnen getippt!“
„Sind Sie ganz sicher, dass Sie den Wettschein nicht mehr haben?“, erwiderte der Mann leise, bemüht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Vergeblich, denn mittlerweile hatten sich bereits Neugierige um die Frau geschart.
„Natürlich bin ich sicher“, schrie sie jetzt. „Es hieß immer <Hassan und Boccaccio am Schluss des Feldes>, bis zum Zieleinlauf. Natürlich habe ich meinen Wettschein dann weggeworfen, da konnte ich doch nicht ahnen, was kommen würde!“
Die um die Frau Versammelten tauschten vielsagende Blicke aus. Die ersten von ihnen, Männer wie Frauen, fingen an den Boden zu ihren Füßen zu sondieren, erst betont unauffällig, schon bald jedoch ohne Rücksicht. Weitere Besucher taten es ihnen nach, als seien sie von einem sich wild ausbreitendem Virus befallen worden.
Wäre die Situation für sie nicht so verzweifelt gewesen, hätte die Dame über das groteske Bild lachen müssen, das entstand, als auf ihre Worte hin immer mehr Menschen auf allen Vieren durch die Halle krochen und in den Papierbergen wühlten.
Ein Vertreter der Rennleitung trat auf die Dame zu und versuchte beruhigend auf sie einzuwirken. In der Sache selbst hatte er ihr nichts Tröstliches zu vermelden: Ohne Wettschein keine Gewinnauszahlung.
Plötzlich spürte sie jemand in ihrer Nähe. Sie wandte sich um und sah in die gleichen blitzenden Augen, die sie zu Beginn des Rennens angeschaut hatten. Der gleiche jungenhafte, verschmitzte Blick, nur dass dieses Mal noch etwas anderes von ihm auszugehen schien. Ihr Blick wanderte von seinen Augen hinab, glitt über seinen zerschlissenen Lodenmantel und blieb an seinen schmutzigen Händen hängen. Ihr stockte der Atem. Zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand hielt der Mann ein Papierknäuel umklammert.
Jede Bewegung um die beiden herum schien zu gefrieren.
Endlich durchbrach der Mann die gespannte Stille. „Sie haben da etwas verloren“, sagte er mit brüchiger Stimme und streckte die Hand zu ihr aus.
Sie schaute ihn an. In seinen Augen schien eine bizarre Mischung aus Schalk, tiefem Ernst und Wehmut zu liegen.
Sie nahm das Knäuel entgegen und entfaltete es. Da war er wieder, ihr Wettschein und damit zweiundzwanzigtausendzweihundertundfünfzig Euro, die ihr als rechtmäßige Besitzerin zustanden.
Mit dem Wettschein schien das Leben in die Menge zurückgekehrt zu sein, die sich nun wieder in die Mitte der Halle zurückzog.
Erleichtert wandte sich der Rennleiter ihr zu. „Wie schön“, sagte er. „Selbstverständlich bezahlen wir Ihnen die Summe auch per Scheck aus.“
Die Dame im Pelz schaute erst ihn und dann den Mann im Lodenmantel an. Ein Lächeln trat auf ihre Lippen. „Oh nein“, erwiderte sie. „Ich möchte meinen Gewinn in bar, und zwar ...“ – sie strahlte ihr zerlumptes Gegenüber an – „... und zwar in zwei gleichen Teilen.“