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Das Sisyphuskind
„Meinst du, er würde zurückkommen, wenn ich winke?“
Maria wandte sich vom Meer ab und sah die jüngere Frau an, welche die Frage gestellt hatte. „Nein. Der ist froh, uns los zu sein." sagte sie. "Steuert den nächsten Hafen an.“ Sie blickte wieder auf das Meer. „Bringt sich in Sicherheit.“
Anna hielt ihren Blick noch eine Weile auf der hochgewachsenen Frau, neben der sie stand, und beobachtete, wie der Wind mit dem blonden, im Tageslicht sanft schimmernden Haar spielte. Dann wandte auch sie den Blick wieder zu dem schmalen Boot, das vor der kleinen Insel auf den Wellen tanzte.
Er würde nicht umkehren. Niemals. Er hatte ihr Geld genommen, sie zu ihrem Ziel gebracht und war dabei, alles wieder zu vergessen. Wenn er gut darin war, würde er das bereits geschafft haben, bevor er den Hafen erreichte. Anna glaubte es. Beinahe jeder Mensch, den sie im Laufe ihres Lebens kennen gelernt hatte, war gut in diesen Dingen gewesen.
Verschwinden. Vergessen. Verlassen.
Sie drehte sich um und warf einen Blick auf das umliegende Stück Land.
Die Insel war klein, sehr klein, flach, beinahe ebenerdig. Es gab weder Bäume noch größere Klippen oder Gesteinbrocken, nichts in der Art. An einigen Stellen wuchs wild das Gras zwischen den Felsen und Anna sah zwei Vögel, Seemöwen mit hell schimmernden Federn, die sich unweit von ihnen um einen toten Fisch zankten.
Sie schloss die Augen, nahm den salzigen Geruch der Nordsee tief in sich auf. Sie lauschte dem Rauschen des Wassers, dem Klagen des Ufergesteins, wie es dem steten Sturmlauf des Meeres trotzte. Sie vernahm die schrillen Schreie der Möwen, glaubte, die kleinen Füße über das blanke Gestein kratzen zu hören.
Und sie war sich des Windes bewusst, wie er mehr sanft als drückend um ihren Körper schlich, unter ihrer Kleidung stetig über ihre Haut strich. Es war ein zutiefst wohliges Gefühl; sie stellte sich vor, wie all der Dreck der letzten Jahre, der Schmutz all der Menschen von ihr genommen wurde. Der Wind nahm alles mit sich.
Dies war der richtige Ort.
Als Anna die Augen wieder öffnete und zu Maria sah, wunderte sie sich, da diese immer noch auf das Meer schaute. Sie hatte erwartet, dass Maria sich, sobald ihre Füße den Boden berührten, umdrehen würde, um nicht auch nur einen Blick zurück zu werfen. Aber die Frau stand dort und beschattete mit einer Hand ihre Augen; so beobachtete sie den Weg des Schiffes.
Anna deutete für sich selbst ein Schulterzucken an und machte sich auf, um das kleine Felsplateau zu erkunden.
Halb so breit wie lang, konnte das Eiland in der Länge kaum mehr als dreihundert Schritte messen. Zum größten Teil ging sie über bloßes Gestein. Der Boden war feucht von der Gischt, welche, wehte ein stärkerer Wind, die gesamte Insel durchnässen musste. Gemächlich schlendernd erreichte Anna die vom Festland abgewandte Seite, wo sie eine grasbewachsene Fläche entdeckte. Sie setzte sich und betrachtete den Horizont, der sich, noch so ruhig, über den Himmel erstreckte. Wie sie es früher als Kind öfter getan hatte, schirmte sie ihren Blickwinkel mit beiden Händen ab und versuchte, die Erdkrümmung zu erkennen. So blieb sie einige Zeit sitzen, ohne an etwas Bestimmtes zu denken. Sie genoss die natürlichen Geräusche ihrer Umgebung und verlor sich in der Ferne des Himmels.
Eine Hand Marias legte sich sanft auf ihre Schulter, während eine zweite die Haarsträhne hinter ihr Ohr strich, die vor den Tunnel geweht worden war, den Annas Hände formten.
„Ist er weg?“ fragte sie und senkte ihre Hände in ihren Schoß. Anna sah zu Maria auf.
„Endgültig.“ Maria hockte sich hinter sie und schlang ihre Arme sanft um Annas Schultern. „Was siehst Du?“ fragte sie.
„Den Horizont. Es ist noch alles so ruhig..“
„Es wird ruhig bleiben, glaube mir. So ruhig, wie wir es uns immer gewünscht haben. Hier finden wir die Ruhe.“
„Und er ist wirklich weg?“ Anna löste sich aus Marias Umarmung und erhob sich. Sie sah zurück und tatsächlich, das Boot war nicht mehr zu sehen. Anna dreht sich im Kreis und ließ ihren Blick schweifen. So weit sie sehen konnte, war überall nur Wasser; das Festland ließ sich nicht einmal erahnen. Sie ging, fortwährend kreisend, einige Schritte. „Er ist weg. Alle sind weg.“
Maria ließ sich auf ihre Knie sinken und beobachtete die jüngere Frau in ihrem seltsamen Tanz. „Alle sind weg.“ wiederholte sie und lächelte.
Über ihnen durchbrach die Sonne die Wolkendecke und erwärmte langsam ihre Körper. Das Wasser um sie herum glitzerte. Bald erhoben sich die beiden Möwen und flogen davon, in Richtung des offenen Meeres.
„Ich habe so viel verloren.“
Maria und Anna hatten sich wieder im Gras niedergelassen. Während Maria redete, spielten ihre Hände mit Annas Haar, die ihren Kopf in Marias Schoß gelegt hatte.
"Erzähl mir mehr."
Maria fuhr fort: „Ich habe viel für Menschen über. Ich mache mir viel aus ihnen und kümmere mich gerne um sie. Das hat mir meine Entscheidung leicht gemacht.“ Anna deutete ein Nicken an.
„Als ich zwanzig war, die Schule hinter mir hatte und nicht so genau wusste, was ich nun tun sollte, ging ich nach Afrika. Ich hatte mich bei einer dieser Organisationen gemeldet. Wir bauten Schulen, Kirchen, befestigten Straßen und hoben Brunnen aus. Es war eine schöne Zeit.“
Anna nickte wieder. „Das kann ich mir vorstellen.“
„Ja. Nicht nur das Gefühl, diesen Menschen zu helfen, sondern bei ihnen zu leben. Ihre Welt zu teilen. Ihre Gefühle zu leben, es wenigstens zu versuchen. Ihre Ziele und Wünsche zu erfahren. Es war einzigartig.“ Sie schwieg kurz. Ihre Finger drehten sich um das schwarze Haar. Sie richtete ihren Blick zum Himmel empor.
„Ich glaubte an Gott. Das habe ich die ganze Zeit getan. Es war einer meiner Gründe, nach Afrika zu gehen. Ich habe harte Arbeit geleistet. Jeder Spatenstich in die verbrannte Erde war harte Arbeit. Jeder Stein, jede Wand, die ich mit errichtet habe, alles harte Arbeit. Aber es fiel mir nicht schwer meinen Glauben zu teilen. An den Menschen, die mit mir gekommen waren, den Leuten, die schon vor uns dorthin gegangen sind, habe ich gesehen, dass mein Glaube richtig ist. Richtig sein musste. Und meine eigentliche Arbeit bestand darin, Glauben zu bauen. Schulen und Straßen haben keine weisende Kraft. Auch eine Kirche nicht. Kein Mensch geht in die Kirche, wenn sie von fremden Menschen auf seinem Land gebaut wurde, ohne sich der Sache, des Sinns dahinter bewusst zu sein. Und so sollte es auch nicht sein.“
Marias Blick war noch immer auf den Himmel gerichtet. Ihre Entscheidung war gefallen, von oben würde das Schwert kommen, um sie zu richten. In Ordnung. Sie hoffte nur um Annas Willen, dass ihre Entscheidung richtig war. Sie fuhr fort.
„Ich habe mit den Leuten geredet. Mit vielen von ihnen und immer wieder. Und ab und zu sah ich die Früchte meiner Arbeit. Ich sah, wie Menschen mit großen, weiten, hoffnungsvollen Augen die Kirchen betraten, die wir gebaut hatten. Es waren immer nur einige. Aber über die Jahre wurden es mehr, die in die Richtung sahen, in die ich zeigte.“ Maria schwieg und ließ den Erinnerungen ihren Lauf. Das Gras bewegte sich im Wind. Der Geruch der Luft war hier so viel anders, aber sie nahm für den Augenblick nur den trockenen, heißen Geschmack einer so fernen Welt wahr. Unbewusst strich sie sich über die Arme, so, als wolle sie den Staub von der Haut wischen. Anna ließ ihr den Moment. Ihr war klar, dass Maria andere Sachen hinter sich hatte. Ihre Gründe, hier zu sein, waren von einer ganz anderen Natur, als die Annas.
Die Sonne war ein gutes Stück weiter dem Horizont entgegen gesunken.
Noch hatte der Himmel jene tiefblaue Farbe, welche er kurz nach ihrer Ankunft angenommen hatte. Die Wolken waren noch weiß. Es war noch Zeit bis zum Abend.
Die beiden Frauen hatten die Position gewechselt. Marias Kopf lag nun auf Annas Beinen und Anna malte mit einem trockenen Grashalm unsichtbare Zeichen auf Marias Arm.
„Wieso warst du heute Morgen am Hafen, Anna?“
Annas Hand ließ den Halm kurz ruhen. Maria sagte nichts weiter; die junge Frau sollte ihre Gedanken sammeln.
„Ich glaube, ich habe nie das gefunden, was ich gesucht habe.“ sagte Anna nach einer Weile. „Was ich glaubte, zu suchen. Nicht nur für mich. Wenn es nur das wäre, dann wäre ich wahrscheinlich weder hier, noch würde ich ein besonderes Problem haben.“ Sie fuhr fort, Marias Arm mit dem Grashalm zu liebkosen. Ihr Blick richtete sich wieder auf den Horizont. In den letzten Monaten war ihr Blick oft dort hängen geblieben. Sie hatte nach dem gesucht, was sie hätte vorzeigen können; etwas, das einen Grund hätte geben können.
Aber der Horizont war leer geblieben.
Deswegen war sie hier. Dies war eine Gewissheit, an der sie festhalten konnte, zumindest so lange, bis etwas geschehen würde. Etwas Engültiges.
„Ich bekomme ein Kind.“
Maria versteifte sich auf ihrem Schoß. Anna fühlte es und war sich doch sicher, dass sie das Richtige getan hatte. Dennoch war sie sehr glücklich, als Maria sich nach kurzer Zeit wieder entspannte und ihren Kopf - nur einige Zentimeter von dem Ungeborenen – wieder an Annas Körper schmiegte.
„Du bist schwanger.“ Eine Feststellung.
„Und doch bist du hier. Wie weit bist du?“
„In der siebten Woche. Mein Kind ist so gut wie noch nicht auf der Welt. Es braucht nicht auf dieser Welt zu leben. Sie hat mir wenig...hat mir nichts gegeben. Es ist besser so.“ Anna suchte Marias Blick, doch der war weit weg, maß jetzt seinerseits den Horizont ab.
„Was ist mit dem Vater?“
„Nichts. Ich kann nicht mal sagen, es war was Einmaliges; es war einfach nichts. Ich weiß nicht, wo er ist, nicht, wer er ist. Will es nicht wissen. Das Einzige, was mir von ihm geblieben ist, ist die Gewissheit, das Richtige zu tun.“
Maria sagte darauf nichts. Anna beobachtete die Wellen, die sich unweit von ihnen an dem kleinen Stück Land brachen. Sie waren so klein. Gefühle und Ziele waren klein. Noch.
„Als ich von dem Meteoriten hörte, kam ein Gefühl in mir hoch. Ein verdammt kleines Gefühl. Es wuchs in dem Ausmaß, in dem die Menschen um mich herum flüchteten. Die Ahnung einer Lösung. Umso leerer es um mich herum wurde, desto stärker wurde der Drang, an die Küste zu fahren. Ich wusste um die Leere, nicht nur die um mich herum; vor allem die, die in mir war. Keine Chance, ihr zu entkommen. So lange Zeit.“ Anna ließ den Grashalm fallen. Maria bemerkte es kaum. In ihr wuchs ein Gedanke. Eine letzte Hoffnung, dass alles anders war, anders, als sie und Anna es glaubten. Wolken wanderten über den Himmel, Zeitmesser, dem Ende entgegen.
„Gestern bin ich losgefahren;“ fuhr Anna fort. „es hat niemand etwas bemerkt. Bei meinen Eltern lebe ich schon lange nicht mehr, habe kaum noch Kontakt zu ihnen. Geschwister habe ich keine und ...nun...Freunde habe ich, glaube ich, nie richtig kennen gelernt. Während der Fahrt habe ich die ganze Zeit nachgedacht, wurde mir immer sicherer und deswegen war ich heute Morgen am Hafen. Weder für mich noch für mein Kind ist diese Welt gut genug.“
Das Wasser der Nordsee verfärbte sich langsam. Klares, helles Blau wich dunklerem Grün. Marias Gedanken wollten sich an die Hoffnung klammern, die sie für sich zwischen Annas Sätzen entdeckt zu haben glaubte. Sätze, die sich eigentlich so sehr aufgaben, Wörter, die dem Tod entgegen eilten; dazwischen lag etwas, das ihr Auftrieb gab, ein letztes Mal Luft holen, der Versuch, zu dem zurückzufinden, was ihr Leben ausgemacht hatte - zu dem Glauben, den sie verlassen hatte; der sie verlassen hatte. Sie spürte Annas Hand, die mit ihren Haaren spielte.
„Was ist mit dir passiert? Warum bist du am Hafen gewesen?“
Das war eine Frage, die Maria sich selbst nie richtig beantwortet hatte. Was war eigentlich genau passiert?
„Ich bin einige Jahre meinen Idealen dort unten gefolgt und habe geglaubt, dass hinter mir eine große Institution steht, die für das steht, was ich tue – den Menschen helfen. Womit ich nicht meine, ihnen nur einen Glauben zu zeigen, der ihnen ideelle Werte vermitteln kann. Ich wollte auch bei den alltäglichen, weltlichen Problemen helfen. Beides zusammen hätte uns weiter nach vorne gebracht.“
Anna überlegte kurz. „Aber hast du das nicht gemacht? Du hast doch Schulen und so gebaut.“
Maria schüttelte den Kopf. Blonde Locken wehten in dem leichten Wind.
„Das meine ich nicht. Es geht um andere Dinge. Um Essen, um Gewalt, um zu viele Menschen für die von nichts genug da ist. Das ist in meinen Augen auch das Grundproblem und deswegen habe ich - und auch einige andere - geglaubt, es genau an der Wurzel packen zu müssen. Wir haben Gespräche geführt, Treffen organisiert. Zuerst allgemein über die Lebensweise der Menschen dort gesprochen, über den Wert des Lebens, über Gesundheit, Verhütung. Wie gesagt, wir wollten an den Grundmauern rütteln. Und die Probleme habe ich jeden Tag mit eigenen Augen gesehen. Hunger, Verrohung, importierte Kriminalität. Krankheiten und Aids. Die Menschen starben an den einfachsten Dingen. Dabei wurden neue Kirchen für mich immer weniger wichtig.“
Anna nickte. „Und dann?“
„Dann haben wir angefangen, Verhütungsmittel zu beschaffen. Kondome wurden bei den Treffen verteilt, Broschüren über das Thema, all die ganzen Sachen, die hier so selbstverständlich sind.“ Maria schwieg kurz.
„Dann hat der Vatikan davon Wind bekommen. Es kam ein Gesandter aus Rom. Er hat sich gar nicht erst die Mühe gemacht, zu verstehen, was wir taten – und warum wir es taten. Einen Tag später reiste er wieder ab. Kurz darauf wurden wir von unserer Aufgabe entbunden, von der kirchlichen Arbeit ausgeschlossen. In deren Augen hatten wir das uns zur Verfügung stehende Geld dazu genutzt, um die christlichen Ideale zu verraten. Und somit standen wir vor unserem Werk, hatten kein Geld, keine Unterstützung und so viele Menschen, die auf uns zählten. Wir haben dann versucht, das Ganze anders aufzuziehen, haben versucht, Mittel aufzutreiben, haben bei den großen Pharmaunternehmen vorgesprochen. Ohne Erfolg. So eine Aktion scheint sich für niemanden zu lohnen. Es ging langsam immer weiter nach unten. Irgendwann ist dann alles zerbrochen. Es gab Streit unter uns. Manche - auch ich - haben alles, was sie hatten, verloren. Das Elend, das ich nicht lindern konnte, hat mich irgendwann kaputt gemacht. Ich bin dann endgültig nach Deutschland zurückgekehrt. In eine Gesellschaft, die immer älter wird, während woanders Kinder sterben, weil es ihnen an allem fehlt. Und das nennt sich dann christlich.“
Maria schüttelte den Kopf. Sie war von ihrer eigenen Verbitterung angewidert. Und in ihrem Hinterkopf spielte der Gedanke, jetzt, am Ende, noch einmal dem verlorenen Glauben gerecht zu werden.
Durch Anna. Doch das Gefühl war schwach. Die Entscheidung war doch bereits gefallen.
„Ich habe hier nie wieder Fuß gefasst. Habe grau vor mich hin gelebt. Habe versucht, zu verstehen, wo der Unterschied liegt. Zwischen dem, an das ich geglaubt habe und dem was ich getan habe. Dabei bin ich oft in die Kirche gegangen, um das zu finden, was mich früher verzaubert hat und mir die Energie gab, die ich in Afrika gespürt habe. Aber das ganze System ist verrottet. Keine Predigt, keine Bibelstelle lebt. Es ist alles nur gespielt. Ein altes Spiel, das auf keiner neuen Bühne mehr wirkt“
Beide schwiegen und beobachteten, wie der Tag sich langsam seinem Ende näherte. Anna hatte wieder begonnen, Marias Arm zu streicheln. Trotz allem war dies ein schöner Tag. Einer der schönsten, seit langer Zeit.
Anna war in ihren eigenen Gedanken versunken, während ihre Hand gleichmäßig den Grashalm führte. Der Abend war ein gutes Stück näher gekommen. Die Sonne wurde größer, je näher sie dem Horizont kam. Der Meteorit war seinem Ziel sicherlich auch schon nahe.
Sie schaute hinunter auf Maria, deren Kopf nach wie vor auf ihrem Schoß ruhte. Die blonde Frau schaute auf das Meer hinaus. Suchte sie in sich immer noch nach einer Möglichkeit, ihren Glauben wiederzufinden? Anna glaubte, dass es irgendwie so sein musste. Sie wusste nicht, wieso, aber es war so. Maria hatte noch etwas anderes in sich. Die Energie war noch in ihr, eine Kraft, welche Anna in ihrem ganzen Leben noch nicht gespürt hatte. War es richtig, das Maria hier war? Konnte sie nicht noch so viel bewegen, wenn sie das fand, was sie suchte? Aber es war doch zu spät.
Anna sah wieder zum Horizont, ließ den Halm fallen und formte wieder einen Tunnel vor ihren Augen. Die Linie, an der sich Himmel und Wasser berührten, war weiterhin ruhig.
So still.
Die junge Frau befand sich weiterhin in Einklang mit der Welt, die sie hier umgab. Der flache Fleck Erde, auf dem sie saßen. Der weite Himmel, dessen Wolken sich langsam rot färbten und die wunderbare geteilte Einsamkeit. Für sie war es der richtige Ort. Für sie.
„Anna?“
„Ja?“
„Dein Kind ... welchen Namen hättest du für es?“
„Ich habe keinen Namen. Ein Name ist nicht nötig.“
„Du hast nicht mal darüber nachgedacht?“
„Nein.“
„Nie daran gedacht, was dein Kind in der Welt bewegen könnte?“
„Es gibt genug Menschen, die in dieser Welt was bewegt haben. Leider nie zum Guten.“
Anna spürte, dass diese Antwort Maria erschütterte. Es war noch etwas in ihr, etwas, das bei Annas Worten verletzt worden war. Die junge Frau schwieg kurz und dachte nach.
„Bis auf wenige Ausnahmen. Ganz wenige. Menschen wie du. Ihr tut was. Und sollt es auch weiterhin, trotz der Leute, der Institutionen, die euch Steine in den Weg legen, wo immer sie können.“ Sie strich über Marias Kopf, liebkoste sanft die Linien ihres Gesichts und spürte, wie, ganz leicht, Tränen aus Marias Augen rannen. „Du hast Gutes getan. Sei dir da sicher. Es ist nicht fair, dass es dir nicht gegönnt war, die Ergebnisse deiner Arbeit zu sehen.“
In Maria kämpften Gefühle. Da war Hass, Hass auf die Menschen, die ihr das Leben so schwer gemacht hatten. Trauer, weil sie wusste, sie würde Anna nicht helfen können; Wut, weil sie erkannte, dass die Zeit zu knapp war, um Annas Seele zu retten, sie aus dem Dunkel ihrer Welt zu ziehen, damit sie hoffnungsvoll auf das hätte blicken können, was sie nach ihrem Tod erwartete. Und Angst. Angst, davor, was sie selbst erwarten sollte, nachdem sie ihr Leben hier vergab. Was wartete auf sie?
(Der Frieden in Gott?
Die Wut Gottes, ohne Gnade gegenüber einem verschenkten Leben?
Oder etwas anderes? Etwas ganz anderes ?)
Maria spürte eine Kraft, die sich durch ihr Innerstes zog, Schranken öffnete, vergessene Ecken fand und ein Feuer entfachte. Ein Stück reine Energie, ein Aufbäumen der Kraft, die sie nach Afrika gebracht hatte und durch die Erkenntnis, nicht genug bewegen zu können, erloschen war. Das Feuer wurde größer, immenser, brannte und leuchtete ihr einen Weg, den sie doch nicht sehen konnte. Dem sie nicht folgen konnte - verirrt in sich selbst.
Und dann fing der Himmel Feuer.
Das Donnern erschütterte ihre Welt. Die Luft bebte.
Anna hörte nicht auf, Marias Kopf zu streicheln, als sie nach oben blickte und einen scheinbar unendlich langen Feuerstreifen den Himmel spalten sah, der einem leuchtendem Inferno hinterher jagte. Das Blau des Himmels verflog, löste sich von einer Sekunde zur nächsten auf. Wie Maria. Anna spürte, dass die ältere Frau diesem Ende nicht gewachsen war. Ein zitternder Kopf drückte sich in ihren Schoß und Anna hielt ihn ganz fest. Mein Kind, dachte sie einen unbestimmten Augenblick lang, und es könnte noch soviel Gutes für diese Welt tun.
Und in dem Augenblick wusste sie, was Maria hätte retten können.
Dann erbebte die Erde, als der Meteorit irgendwo die Fluten der Nordsee zerteilte, aufsprengte.
Das Schwert.
Der Stein.
Und nur, weil Maria wegen des Aufschlags so schrecklich zusammenzuckte, dass Anna auf den Rücken geworfen wurde, sah sie den Helikopter, der sich der dem Festland zugewandten Seite näherte.
Das Feuer in ihr brannte lichterloh. Nahm Gedanken und Willen ein. Maria hörte nicht, was Anna ihr ins Ohr schrie, nahm nicht wahr, wie die junge Frau sie mit allen Kräften hochzog und zu dem Helikopter führte. Die Energie war wieder befreit worden, verschaffte sich Präsenz, ohne eine Richtung vorzugeben.
Während sie auf ihr Ziel zustolperten, zog sich das Wasser um die Insel, über die Insel zurück, so, dass der Meeresboden rundherum zu sehen war. Keine von beiden nahm es wahr.
Die Maschine konnte nicht landen, verharrte, so gut es ging, knapp über dem Boden in der Luft. Anna zog Maria weiter, den Blick auf den Hubschrauber gerichtet. Dann stolperten beide und schlugen auf dem harten Stein auf.
„Maria!“ Ein Schrei in ihr Ohr. „Steh auf, verdammt!“ Das Feuer brannte weiter, ließ ihr jetzt aber die Zeit, ihr Leben zu retten. Annas Leben retten zu können.
Sie blickte sich um. Der Helikopter vor ihr, den sie nicht als das Gerät wahrnahm, das er war. Nur der Schritt zurück ins Leben. Sie sah sich um, verharrte; erstarrte.
Am Horizont eine Wand, übermächtig und voller Bewegung. Wachsend. Verschlang Hoffnung.
Anna wollte sie hochziehen, doch Marias Körper versagte. Die Welt ein einziges, ausfüllendes Rauschen. Zu spät.
„Zu spät“, weinte sie. Dann wurde ihr Kopf hochgerissen und sie sah Annas Gesicht, wilde Augen, die sie anfunkelten. Ihre Köpfe berührten sich.
„Es ist nicht an dem Gott der Christen, über dich zu richten!" schrie die junge Frau. "Es ist dein eigener Gott. Die Energie, das Feuer, an das du glaubst. Es ist in dir, in dir drin!.“
Von diesem Moment an war Annas wildes Gesicht das Schönste, an das Maria sich für den Rest ihres Lebens erinnern würde.
„Es ist dein Gott. Du glaubst an ihn, handle nach seinem Willen! Und das,“ – Anna wies mit einer ausgestreckten Hand hinter sich – „das kommt nicht von ihm!“
Maria verstand. In Sekunden wurde ihr klar, in welche Richtung das Feuer sie führen wollte.
Die Frau sprang auf und beide rannten zu dem wartenden Hubschrauber. In Maria wuchs der verzweifelte Wunsch nach Rettung. Im Laufen reckte sie ihren Arm und ergriff die Hand, die sich ihr entgegenstreckte. Maria prallte mit der Hüfte schmerzhaft gegen die Kufen, wurde hochgezogen und fand sich auf dem Boden der Kabine wieder.
Anna blieb einige Meter entfernt stehen und beobachtete Maria, die sich aufrappelte und umdrehte. Sah ihr in die Augen. Und wusste, dass sie ihr Kind gerettet hatte.
Anna! Schrie Marias Innerstes, über das Feuer hinweg, ohne es zu löschen. Der verzweifelte Schrei dämmte es nicht einmal ein. Stattdessen gab er den Flammen Nahrung.
Nein.
Aber er hat dich nicht vergessen! Er ist zurück gekommen!
Ist er nicht. Nicht für mich.
Sie wollte hinausspringen, Anna zu sich reißen, aber starke Hände hielten sie zurück. Der Helikopter erhob sich, der Pilot schrie; keine Zeit mehr. Sie sank in sich zusammen. Hinter Anna erhob sich eine rauschende Welt aus Wasser. Der Helikopter gewann an Höhe.
Die Blicke der beiden Frauen hielten sich fest. Beide konnten in den Augen der anderen lesen.
Ich habe keine Angst. Ich habe Hoffnung. Werde das Richtige finden. Gleich.
Ich weiß. Lebe wohl.
Lebe wohl, mein Kind.
Anna drehte sich um. Maria sah weg, wollte das letzte Bild der Frau bewahren. Sekunden später war unter ihnen nichts mehr.
Der Himmel war grau.
Dort, wo Land gewesen war, nichts mehr.
Maria sah aus dem Fenster hinaus, berauscht von den Gefühlen, die in ihr waren. Ein Feuer, das nicht mehr ausgehen würde, das diese Welt nähren würde, bis ihr Gott sich entschied, eine andere Welt zu wärmen.
Ein Mann legte ihr eine Decke um. Dabei war sie nicht einmal nass geworden.
„Sie haben verdammtes Glück gehabt. Keiner hätte was bemerkt, wenn nicht einige Leute am Hafen gesehen hätten, dass dieser ... Mensch ohne sie zurückgekommen ist.“
Ihr Blick folgte dem anklagenden Finger, der auf den Fischer wies, welcher ihr mit glasigen Augen gegenüber saß. Leichenblass. Maria war es egal.
Sie hatte ihren Weg gefunden.
Und ein Bild vor Augen. Wehende Haare, wilder Blick.
Das Bild einer Mutter in ihrem Herzen.
ENDE