Das Spiegelbild
In einer kleinen Wohnung am Rande der Stadt lebte ein kleiner Junge namens Kurt. Er war oft allein, vor allem jetzt, da Weihnachten gerade vorbei war. Seine Mutter war am heiligen Abend in den Fluss gefallen, doch er konnte sich seltsamerweise kaum daran erinnern, was geschehen war.
Er stand am Herd und schaute mit feuchten Augen zu, wie das Wasser im Topf zu kochen begann. Er liebte es, Flüssigkeiten zu beobachten, die durch Hitze oder andere äußere Einflüsse in Bewegung gerieten. Es erinnerte ihn daran, dass auch er von äußeren Einflüssen in Bewegung geriet und häufig Dinge tat, die er eigentlich gar nicht tun wollte.
Als das kochende Wasser sein Spiegelbild immer mehr verzerrte, fühlte er sich irgendwie wohler.
Es war bereits spät am Abend und er setzte sich, während das Wasser weiter kochte, an den Küchentisch und streichelte den ausgestopften Papageien, den er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.
„Hab dich lieb, Papagei!“ flüsterte er und drückte den toten Vogel ganz fest an sich. Dann begann Kurt leise zu weinen. Niemand hörte ihn.
Irgendwann stand er auf und warf wütend den Topf mit kochendem Wasser vom Herd. Scheppernd landete er auf dem Boden. Der ausgestopfte Papagei warf Kurt einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Guck mich nicht so an!“ schrie der kleine Kurt den Vogel zornig an. Der Vogel reagierte nicht. Wie sollte er auch? Er war schließlich tot und ausgestopft.
Kurt rannte ins Wohnzimmer und warf sich auf den großen Teppich vor dem alten Schrank. „Das darfst du aber nicht, Kurt!“ hörte der Kleine seine Mutter in Gedanken sagen.
Kurz ertrug die Stimme in seinem Kopf nicht. Sofort rollte er vom Teppich herunter und legte sich weinend vor den Kamin. Die Glut war noch heiß, aber die letzten Flammen längst erloschen.
Jemand klopfte ans Fenster, Kurt schrie laut auf. Ein lang gezogenes Gesicht blickte aus der Dunkelheit in den Raum und schien irgendetwas zu suchen. Das Gesicht gehörte einem Mann in einem langen weißen Umhang, sein Schädel war kahl geschoren und seine Haut war blass.
Kurt versteckte sich im Badezimmer. Nur wenig später begann die weiß gekleidete Glatzengestalt an die Haustür zu hämmern.
Ein schriller, scheinbar nicht enden wollender Schrei erklang aus der Küche und Kurt wusste, dass der Mann nun in der Wohnung war. Der Junge begann vor Angst zu zittern und schloss leise die Badezimmertür ab.
Schwer atmend schlurfte der weiße Glatzenträger durch die Wohnung, schließlich war das Brechen von Holz zu hören, es klang als hätte der Mann die Tür zum Schlafzimmer aufgebrochen. Dann war es still.
Nach einigen Minuten traute Kurz sich endlich aus dem Bad und schlich leise zum Schlafzimmer herüber. Dort lag, zusammengekrümmt und splitternackt der blasse Glatzenmann auf dem Bett und zitterte. Plötzlich begann er laut zu jammern und zu weinen, mit schriller Stimme sah er Kurt an und schrie: „Sie haben mir meine Seele gestohlen!“
Laut heulend hob er seine Hand, die so abgemagert war, dass es kaum mehr als eine knochige Klaue war.
„Sie haben mir meine Seele gestohlen!“ schrie er wieder und seine blutunterlaufenen Augen schauten nervös im Zimmer herum.
Kurt wusste nicht, was er tun oder sagen sollte, also frage er: „Möchten Sie meinen Papageien sehen?“
Entsetzen zeigte sich auf dem Gesicht des Mannes, aber er sagte nichts mehr und blieb zitternd auf dem Bett sitzen. Kurt holte den ausgestopften Papageien aus der Küche und setzte ihn auf das Nachtschränkchen neben dem Bett, auf dem der Irre noch immer mit offenem Mund und purem Wahnsinn und Entsetzen um Blick saß.
Der Irre sah den Papageien an und eine Träne rollte ihm über die blassen Wangen. „So ein hübscher Vogel…“ flüsterte der Mann und streichelte ihm vorsichtig über den Kopf.
Wieder wusste der kleine Kurt nicht, was er sagen sollte und sah zu, wie der Mann den Vogel liebevoll streichelte. Nuschelnd, kaum verständlich flüsterte der Mann immer wieder „Sie haben mir meine Seele gestohlen.“
Vorsichtig berührte der Mann den Schnabel des ausgestopften Vogels mit seiner Zunge, dann sagte er zu Kurt ohne in anzusehen: „Auch ich habe dir deine Seele genommen.“
Ein weiteres Mal berührte der Mann den Vogel mit seiner Zunge, zuckte dann jedoch zurück und seine Lippen begannen zu zittern. Er versuchte etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus und sah den kleinen Kurt hilflos an. Weitere Tränen rollten über seine Wangen und tropften auf das saubere Bettlaken.
Flüsternd, mit zitternder Stimme sagte der Irre: „Du bist mein Spiegelbild. Du bist der Schatten dessen, was ich verloren hatte.“
Kurt bekam Angst, der Mann jedoch sprach weiter: „Du bist das Tor zur Vergangenheit, gib sie mir wieder!“ Seine Stimme klang weniger drohend, eher flehend, bettelnd.
Kurt nahm den ausgestopften Papageien vom Nachttisch und brachte ihn zurück in die Küche. Kaum hatte er das Schlafzimmer verlassen, begann der Irre wieder zu heulen, dass es bis auf die Straße zu hören sein musste. „Gib sie mir wieder!“ schrie er wütend, verzweifelt.
Kurt überlegte, was er tun sollte. Er sah auf den Boden wo noch immer das übergekochte Wasser aus dem Topf die weißen Fliesen bedeckte.
Erneut füllte er den Topf mit Wasser und lauschte dem Geräusch des Wassers, das nach ein paar Minuten wieder zu kochen begonnen hatte. Aus dem Schlafzimmer war stets das Weinen des glatzköpfigen nackten Mannes zu hören, wurde nach einer Weile jedoch leiser bis es nur noch ein Wimmern war.
Glitzernde Bläschen stiegen vom Boden des Topfes auf und zerplatzten an der Oberfläche des kochenden Wassers. Dieser Anblick erfüllte den kleinen Kurt mit einer gewissen Ruhe und er versuchte seine Gedanken zu ordnen.
Plötzlich erschien das verzerrte Gesicht des Glatzkopfes als Spiegelbild im kochenden Wasser. Erschrocken drehte Kurt sich um und sah, dass der Mann ein Küchenmesser in seiner Hand hielt.
„Gib sie mir wieder!“ schrie er und deutete mit dem Messer auf seinen Kopf. „Gib mir meine Seele wieder!“
„Gehen Sie bitte!“ sagte Kurt ängstlich, aber ruhig zu dem Mann, der offenbar nachdachte, was er darauf antworten sollte. Kurt drehte sich wieder zum Herd um und nahm den Topf mit dem kochenden Wasser in die Hand. Er hielt dem Irren den Topf hin. Der Irre legte das Messer auf den Küchentisch und bewegte seine dürren Finger zitternd auf den Topf mit dem kochenden Wasser zu. Schließlich tauchte er die ganze Hand in das Wasser ein und sagte flüsternd: „Ich kann nicht gehen.“
Als er seine Hand wieder aus dem kochenden Wasser herausgenommen hatte, war sie vollständig bedeckt mit Brandblasen. „Warum können Sie nicht gehen?“ fragte der kleine Kurt ängstlich.
„Du hast etwas, das mir gehört. Gib es mir wieder und ich werde gehen.“ Kurt war ratlos, er verstand nicht, was der Mann von ihm wollte. Er verstand eigentlich gar nichts von dem, was der Glatzkopf bisher gesagt hatte.
Er stellte den Topf zurück auf die Herdplatte und ging ins Badezimmer. Der Glatzköpfige Mann folgte ihm, inzwischen trug er wieder seinen weißen Umgang. „Sieh in den Spiegel“ verlangte er von Kurt. Der Junge weigerte sich. Er fürchtete sich vor dem, was er darin sehen konnte, ohne jedoch genau zu wissen, warum er das tat.
Der Glatzkopf warf sich schreiend auf den Boden und begann zu jammern: „Du willst der Wahrheit nicht ins Auge sehen!“ Wieder begann der Mann laut zu weinen.
„Wenn ich in den Spiegel sehe, gehen Sie dann?“ fragte Kurt den Mann. Der Glatzkopf hörte auf zu weinen und Hoffnung erschien in seinen Augen. „Ja, dann werde ich gehen!“ sagte er „Ich verspreche es!“
Vorsichtig ging Kurt zum Spiegel herüber und schaute hinein. Das Gesicht des Glatzkopfes erschien, sein eigenes Gesicht jedoch nicht. Kurt drehte sich um, der Irre war fort.