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Das Tintenklecksbild
Das Tintenklecksbild
Kleinwüchsig war er nicht, aber eben auch nicht groß. Etwas untersetzt zwar, aber nicht wirklich dick. Geruchsempfindliche Menschen glaubten in seiner Nähe leicht säuerliche Ausdünstungen wahrzunehmen. Seine Haut war großporig, doch bei genauem Hinsehen, völlig frei von Mitessern. Aber wer sah schon genau hin? Die unterschiedliche Länge seiner Beine von nicht einmal zwei Zentimetern war die Ursache für einen etwas unsicheren Gang, der leicht ins Tollpatschige spielte. Aus unerfindlichem Grund blieb er vielen, trotz voller Haarpracht, halbglatzig in Erinnerung. Er gehörte zu jenen, die selbst in teuren, maßgeschneiderten Kleidern einen eher ungepflegten Eindruck machten.
Trotz all dem versuchte er sein kleines Leben zu genießen, das er täglich auffüllte mit neuen Bildern. Bilder, die ihm halfen, die Einsamkeit erträglich zu machen. Am Morgen waren da die Lichtpunkte, die bei aufgehender Sonne seine Bettdecke leckten. Er liebte den Duft des Kaffees, der an kalten Tagen einmalige, immer wieder neue Vergänglichkeiten in die Luft dampfte. Die Freude an den entstehenden Aquarellen, wenn Milch in den tiefschwarzen Kaffee gegeben wurde, war ebenso groß wie die Freude an den Wolkenfetzen, die an manchen Tagen ständig sich verändernde Szenen auf die blaue Leinwand des Himmels zauberten. Was gerade noch der geöffnete Schlund eines Raubtieres gewesen war, verwandelte sich vor seinen Augen in einen Schmetterling oder wurde zu einem Kirchturm mit einem Wetterhahn. Nach regnerischen Tagen verzückte ihn die schimmernde Regenbogenfarbenwelt von öligen Pfützen und während der Dämmerung im Wald, das Geäst knorriger Bäume, das sich mit zunehmender Dunkelheit in kunstvolle Kohlezeichnungen verwandelte. Später schoben die abendlichen Schatten neue, nie da gewesene Bilder ins Zimmer. Und nachts kamen die Träume; bunt, aufregend, süß und manchmal angst einflößend, aber jeden Morgen hing er ihnen noch eine Weile nach, bevor sie in einem extra dafür angeschafften Büchlein notierte.
Obgleich er die Menschen mied so gut es eben ging, ließ sich die eine oder andere Begegnung nicht verhindern, auch nicht jene mit der jungen Studentin der Psychologie. Eine offene, warmherzige Frau, deren Gegenwart er sogar zu genießen begann. Doch eines Tages verdrehte sie ihm mit einem Tintenklecksbild die Welt. Jene aufklappbaren Pappen, auf denen sich spiegelverkehrt abstrakte Kleckse befanden, die seit Jahrzehnten in den Praxen der Psychologen verwendet wurden, sollten ihm zum Verhängnis werden. Das heißt, eine davon.
Wortlos starrte er abwechselnd auf die junge Frau und die Pappe, die sie ihm zeigte. Wortlos deshalb, weil der Tintenklecks ohne jeden Zweifel etwas darstellte worüber man nicht sprach. Und wenn, dann meist in abfälliger Form und hinter vorgehaltener Hand. Er wurde rot vor Scham, denn bei der Abbildung handelte es sich eindeutig um eine Vagina.
Die junge Frau lächelte. Darüber hinaus sah sie ihn an, als erwarte sie eine Handlung oder Äußerung. Aber was sollte er sagen oder tun? Er fühlte sich bedrängt und dieser Frau ausgeliefert. War das nicht Nötigung? Schließlich sagte sie, wenn er in diesen Tintenklecks eine Möse hineininterpretiere, ja sie sagte wirklich Möse, dann ließe das auf ein tief verankertes sexuelles Problem schließen. Er lächelte gequält, wandte sich ab und ging grußlos mit dem Vorsatz, diese Frau nie wieder zu sehen.
Eine schwere klamme Müdigkeit überkam ihn. Er schleppte sich nach Hause und legte sich ins Bett, das er drei traumlose Tage und Nächte lang lediglich zur Verrichtung der Notdurft verließ. Als er wieder zu Kräften gekommen war, stellte er fest, dass sich der Tintenklecks vor seine Bilder geschoben hatte. Wohin er auch blickte, es gab nur noch dieses eine Bild, und es gelang ihm nicht, es wieder los zu werden.
Anfänglich nahm er die Sache nicht so ernst. Mit der Zeit würde der Klecks verblassen und seine Welt würde wieder bunt und lebenswert. Doch er hatte sich getäuscht. Etliche Wochen vergingen, der Winter kam und der Klecks blieb. Hartnäckig wie ein Krebsgeschwür. Er tauchte auf als Aquarell im Kaffee, kaum dass die Milch hinzugegeben wurde. Zerstörte er ihn mit einem Löffel, war er kurz darauf wieder da. Nicht anders verhielt es sich mit den Wolkenfetzen am Himmel. Kaum hatte der Wind das Bild bis zur Unkenntlichkeit verformt, entstand auch schon ein neues. In den Pfützen das Gleiche, in den knorrigen Bäumen ebenfalls. Selbst die abendlichen Schatten schoben nichts anderes mehr ins Zimmer, und er dunkelte und dichtete es ab, so dass kein Licht und kein Ton mehr hinein oder hinaus fand.
In seinen nächtlichen Träumen reiste er nun oft an Orte, wo Männer starrten und bezahlten und Mädchen kassierten und sich so schmutzig fühlten, dass jede Dusche machtlos war. Und dann spreizten sie die Beine und dann war da dieser Klecks und er wachte auf. Trost suchend blätterte er in seinem Büchlein, das seit Monaten keinen neuen Eintrag gesehen hatte. Doch es half nichts. Ein Tintenklecksbild hatte sein Leben zerstört. Wie lächerlich. Doch es war so. Ihm war der Lebenssinn abhanden gekommen.
Am Weihnachtsabend schließlich verbrannte er im Garten sein Notizbuch, nachdem er leidenschaftslos das Wort Möse in den Schnee gepisst hatte. Kurz darauf, irgendwann zwischen Weihnachten und Neujahr, begannen diese seltsamen Mädchenmorde.