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Das unerwünschte Geschenk
Roman füllt seine Lunge mit Luft und bläst die acht Flammen aus. Die Familie freut sich und singt, Roman freut sich und verschlingt ein Stück Kuchen. Danach zurück zum Wesentlichen: den Geschenken. Abwechselnd bestaunt er die Star Wars-Figuren, das Feuerwehrauto, das Skateboard, während die Kinderbibel von seiner Oma unter dem Berg aus Geschenkpapier unsichtbar bleibt.
Tage später entdeckt Roman das Buch in seinem Zimmer. In seiner Höhle aus Matratzen und Decken schlägt er es das erste Mal auf. Farbiger Jesus, farbige Maria, liebevoll gemalte Bilder von Schafen und Hirten. Dann hört er auf zu blättern: eine Doppelseite mit einem düsteren Himmel. Darunter Berge und ein Baum, tot wie ein Gerippe. Und in der Mitte zwei Männer. Einer liegt auf einem Felsen, nackt und dürr und in Fesseln. Über ihm der erhobene Arm des anderen, einem alten, bärtigen. In der Hand hält er einen Dolch. Romans Herz hämmert gegen seinen Brustkorb. Jeden Moment wird der Alte das Messer in den Körper des gefesselten Mannes rammen. Roman starrt auf das Bild. Starrt auf die Spitze der Klinge, die Haut des Nackten; auf das Muster der Rippen, das sich darunter abzeichnet. Jeden Moment wird es passieren. Jetzt. Gleich. Der eine Mann wird den anderen töten, mit seinen Händen, mit voller Wucht.
Langsam trennt er seinen Blick vom Bild und kriecht aus der Höhle, um auf dem Bett den Krieg der Sterne nachzuspielen. Doch Luke und sein Vater sehen sich nur an, statt zu kämpfen. Ihre Lichtschwerter sind Spielzeug im Gegensatz zu dem spitzen Dolch des alten Mannes. Was wird passieren, wenn der Dolch auf den Körper des Nackten trifft? Roman sieht zum Höhleneingang. Geht hinüber und klettert vorsichtig hinein. Er starrt auf die Klinge des Dolches, die sich in die Haut des gefesselten Mannes schneiden wird. In den Brustkorb, ins schlagende Herz. Blut wird überall sein, der Mann wird sich krümmen vor Schmerzen, wird sterben.
„Roman! Mittagessen!“, hört er die Stimme seines Bruders von unten.
„Hast du gar keinen Hunger, Roman?“, fragt seine Mutter.
„Ähm, nee.“
„Möchtest du nicht mal probieren? Mit Marmelade?“ Sie lächelt über den Tisch zu Romans Vater. „Dein Papa macht die besten Pfannekuchen der Welt.“
„Nein, danke. Später vielleicht.“
Nach dem Essen folgt er seinem Vater nach oben, der sich an seinen Schreibtisch setzt.
„Du, Papa?“
„Ja?“
„Warum bringt der eine Mann den andern um, in der Bibel?“
„Bitte, was?“
Zusammen kriechen die beiden in die Höhle, wo Roman seinem Vater das Bild zeigt. Dieser erinnert sich dunkel an die Geschichte von Abraham und Isaak. In große Augen blickend, erklärt er sie seinem Sohn so gut er kann.
„Und warum darf ich das sehen, aber nicht das Star Wars-Spiel auf dem Handy spielen?“
Romans Vater stutzt. „Vielleicht solltest du deine Oma fragen.“
„Was?“
„Ach, schon gut, Roman. Weißt du, diese Geschichten, die in der Bibel stehen … Na ja, also … das sind alles nur Geschichten. Das ist nicht wirklich so passiert. Jedenfalls nicht alles. Jesus am Kreuz und so, du weißt schon. Vieles hat sich jemand ausgedacht. Und warum das hier in so einem Buch für Kinder dargestellt wird – ich kann dir nicht sagen, warum, aber gut find ich das nicht.“ Als Romans Blick zurück auf die Doppelseite schweift, lächelt sein Vater. „Sag mal, sollen wir draußen ein bisschen Fußball zu spielen? Oder Tennis?“
„Auja!“
Bevor er hinter Roman aus der Höhle krabbelt, schlägt er das dicke Buch zu und nimmt es mit. „Geh dir doch schonmal Schuhe anziehen, ich komm in einer Minute nach!“
„Okay, Papa!“
Als Roman außer Sichtweite ist, öffnet sein Vater die Luke zum Dachboden. Er klettert die knarzende Leiter hoch und legt die Kinderbibel zu einem Stapel anderer Bücher weit hinten in der Ecke, bevor er wieder hinabsteigt, die Luke schließt und Roman in den Garten folgt.
Dreiunddreißig Jahre später klopft Roman an die Tür von Melinas Zimmer und tritt ein.
„Na ihr beiden, habt ihr Hunger? Ich mach Abendbrot.“
„Ja“, antworten seine Tochter und ihre Freundin, ohne aufzuschauen.
„Was guckt ihr euch denn da an?“ Roman geht zwei Schritte ins Zimmer und sieht, was vor den Mädchen auf dem Teppich liegt. Sofort rauscht Adrenalin durch seine Adern. „Wo habt ihr das her?“, fragt er und bückt sich, um die Kinderbibel aufzuheben, die auf eine der ersten Seiten aufgeschlagen ist.
„Das lag in einem der Kartons mit Büchern“, erklärt Melina.
Ungläubig starrt Roman auf das Buch. Er ist zurück in seiner Höhle, sieht sich die Doppelseite an. Als wäre er wieder acht, spürt er den Herzschlag in seiner Brust.
Das Buch war damals verschwunden. Nach dem Tod seiner Eltern fand er es auf dem Dachboden. Er hätte es wegschmeißen sollen.
„Das ist nichts für euch, Mädels, sorry.“
Nachdem Roman die Tür hinter sich geschlossen hat, sehen sich Melina und ihre Freundin stirnrunzelnd an. Dann steht Melinas Vater plötzlich wieder in der Tür.
„Kommt ihr zum Essen?“