Das Verlies
Neunundzwanzig Jahre sind seid Helios’ Gefangennahme vergangen. Neunundzwanzig Jahre hatte er nun schon in diesem Verlies gesessen, tief unter der Erde, wo kein Licht existierte. Dies war der Ort, der im der Vertrauteste war, obwohl er nie auch nur einen Stein aus dessen feuchten Wänden zu Gesicht bekommen hatte. Doch er kannte jeden Einzelnen von ihnen.
In den ersten paar Monaten war diese absolute Dunkelheit beklemmend und beängstigend zugleich. Nach einer gewissen Zeit jedoch, hatten sich diese Eindrücke gelegt. Denn die letzten Erinnerungen vom Licht, die sich in seinem Gedächtnis verankert hatten, schwanden und verließen ihn schließlich ganz. Nun war es in Helios’ Kopf genauso schwarz, wie in seiner Umgebung und Licht war ihm nun so fremd, wie die Dunkelheit zuvor. Doch schlimmer als diese Entfremdung war die Ungewissheit über sein klägliches Schicksal. Er hatte nie verstanden, warum er in diesem Verlies verschmachtete. Er hatte sich früher viele Gedanken darüber gemacht, tagelang nach einer Antwort gebettelt, doch eine Antwort hatte er nie erhalten. Irgendwann hatte er die Fragerei aufgegeben und verschwendete auch keiner dieser Gedanken mehr an sich selbst. Er fand sich nie mit diesem Schicksal ab, doch wollte er diesen selbstzerstörerischen Gedanken entgehen und versenkte sie schließlich auf den tiefsten Grund seiner geschundenen Seele.
„Warum“ war das letzte Wort gewesen, das Helios in seiner Gefangenschaft sagte. Und es war gefallen, als er das letzte Mal einen Wächter angesprochen hatte. Denn nun hatte er keinen Grund mehr, Worte von sich zu geben. Vielen mag die eigene Stimme ein Trost in großer Einsamkeit sein, doch für ihn war sie nur ein krächzendes Abbild seines eigenen Schmerzes.
Nach und nach verschwanden Dinge in ihm, die er sonst als eine Selbstverständlichkeit angesehen hatte. Erinnerungen erloschen wie Sterne am Morgenhimmel und seine sonst so fantasievolle Vorstellungskraft verflüchtigte sich wie Rauch im Wind.
Nicht ein Fünkchen Hoffnung glomm noch in ihm und sein Lebenswille war verschwunden. Trotz allem hatte Helios nicht den Mut seinem nutzlosen Leben ein Ende zu bereiten. Es wäre so einfach gewesen, doch er konnte es nicht. Die Angst vor dem Tod in ihm war noch stärker als der Wunsch, sich diesem Leben zu entziehen.
So lebte er also weiter in ewiger Dunkelheit, während die Jahre langsam verstrichen. Doch Helios bekam dies nicht mit, die Zeit schien zu stehen. Es war so, als hätte man eine Sanduhr versiegelt, sein Lebenssand rieselte nicht mehr.
Doch es war ihm gleich. Das Zeitgefühl war ihm schon längst abhanden gekommen. Genau wie alles andere. Wirre Gedanken schwirrten in seinem Kopf herum. Es waren immer dieselben, denn zu mehr war er nicht mehr fähig. Und zu diesen Gedanken gehörte der eine Wunsch, wieder Licht zu sehen. Er war ihm wichtiger als alles andere, sogar wichtiger als seine Freiheit, denn mit ihr konnte er nichts mehr anfangen.
Und nach neunundzwanzig Jahren schien sein Wunsch in Erfüllung zu gehen.
Seine Verliestür wurde aufgeschlossen und zwei Leute traten ein. Helios wurde an den Armen gepackt und hochgehievt. Und nach langen Jahren vernahm er wieder eine Stimme. Er schien nie glücklicher gewesen zu sein, denn er spürte, wie ihm die Tränen kamen und heiß das Gesicht hinunterliefen.
Die beiden Wächter führten Helios durch die dunklen Gänge und blieben schließlich vor einer massiven Tür stehen.
„Du bist frei.“, sagte einer der Wächter an Helios gewandt. Und mit diesen Worten stieß er die Tür auf. Helios richtete seinen Blick nach vorn. Als die Tür offen war und helles Sonnenlicht den Gang durchflutete, stieß er einen Schrei aus. Doch es war kein Freudenschrei, er klang eindeutig schmerzerfüllt. Er drückte die Hände auf seine Augen und stolperte zurück. Dabei rutschte er auf den Treppen aus und rollte sie herab. Erst als er den Treppenabsatz erreicht hatte, kam er zum Stehen. Die Hände hatte er noch immer vor das Gesicht geschlagen und aus seinen Augen sickerte Blut. Doch Helios spürte keine Schmerzen, er konzentrierte sich nur auf seine Augen. Langsam nahm er die Hände aus seinem Gesicht, öffnete die Augen und richtete seinen Blick auf die geöffnete Tür. Doch er sah kein Licht. Er sah nicht einmal die Tür. Für ihn war alles so schwarz wie zuvor in seinem Verlies. Er schwächelte. Die Schmerzen, die er zuvor ignorierte überfluteten seine Sinne und machten ihn von Sekunde zu Sekunde schwächer. Er spürte wie das Leben aus seinem Körper glitt. Seine Sinne versagten ihm langsam. Helios öffnete noch einmal verzweifelt seine Augen, doch es blieb schwarz. Mit einem Ausdruck der Enttäuschung auf dem Gesicht, verließ er das Reich der Lebenden.