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Das W-Klagen
Jutta Ouwens
W-Klagen
Die alljährliche Jahreshauptversammlung des Alphabets fand in diesem Advent bei gedrückter Stimmung statt.
Der festlich geschmückte Satzbausaal, die köstliche Buchstabensuppe, ja selbst die eifrige Wortwahl – Combo mit ihren flotten Weisen konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass etwas Einschneidendes geschehen war.
Das C hatte in diesem Jahr den Vorsitz. Es saß am Kopfende der langen Tafel und blickte traurig auf die sonst so muntere Festgemeinde.
Wie still sie doch waren!
Nicht wie in den anderen Jahren, wenn alle durcheinander redeten, sich gegenseitig ins Wort fielen und manchmal sogar den ein oder anderen Buchstaben verschluckten! Selbst das O war ganz ruhig und hatte den Punsch noch nicht angerührt, den es sich doch literweise in den dicken Wanst geschüttet hätte….,wenn alles wie immer gewesen wäre.
Das C seufzte. Es mochte diese exponierte Stellung nicht.
Ihm war es ganz Recht, meist zwischen dem S und dem H zu stehen, da fühlte es sich geschützt. Doch der Vorsitz ging reihum. Y und X waren sehr dafür gewesen.
Na ja.
Heute war der Platz zwischen V und X leer. Das hatte es noch nie gegeben.
Das W fehlte.
Es war ernsthaft erkrankt. Die Diagnose lautete auf Erschöpfung und Überforderung.
Seit einigen Jahren war aufgefallen, dass es in vielen Schriftstücken immer blasser geworden war. Es sollte Bücher geben, in denen man es schon nicht mehr erkennen konnte.
Auf der letzten Jahreshauptversammlung hatte es sich an das V anlehnen müssen, so geschwächt war es bereits. Das C erinnerte sich an die bissige Bemerkung des V, von wegen „den Hals nicht voll kriegen“; es war immer ein wenig neidisch gewesen…
Jedenfalls hatte das W mit zittriger Stimme gesagt, es komme mit den vielfältigen Aufgaben nicht mehr zurecht. Ganz besonders schwer sei es mit dem Wetter. Niemand sei mehr damit zufrieden. Entweder schimpften die Leute, weil es zu warm sei, oder zu nass, oder zu windig, es wisse einfach nicht mehr, was es noch tun solle. Und das ginge das gesamte Jahr über so.
Die anderen Buchstaben hatten damals noch beschwichtigend auf das W eingeredet, die Vokale zogen sich bedauernd in die Länge und die Doppelkonsonanten gerieten vor Mitleid ins Stottern.
Als das W dann weitersprach, wurden alle nach und nach stumm.
Es weinte fast, als es von der Weltwirtschaft erzählte. Auch hier gehe alles drunter und drüber. Angeblich gehe es der Wirtschaft besser, doch die Leute klagten über die teuren Lebensmittel, der Euro sei so stark wie nie, doch der schwache Dollar gefährde den Aufschwung. Das W schwankte bedenklich vor Erschöpfung.
Dabei sei der Winter mit Weihnachten am Schlimmsten. Auch emotional.
Seit Jahren habe es nicht mehr geschneit und die Kinder haben vergessen, wie man sich über Weniges freuen kann. Wunderkerzen seien nicht mehr gefragt, stattdessen Wargames, und Whopper statt Weihnachtsgans.
Spätestens da hatten alle begriffen, dass das W wirklich am Ende war.
In diesem Jahr ging deshalb noch mehr drunter und drüber. Die Preise stiegen ins Unermessliche, draußen war es frühlingshaft warm bei Regen und Sturm und das Geschäft mit den Gewaltspielen boomte.
Was wäre, wenn das W nie wiederkäme?
Noch mochte niemand diesen Gedanken aussprechen, doch das C wusste, dass einige nur darauf warteten, seinen Platz einzunehmen.
Das G interessierte sich schon seit geraumer Zeit für die Weltwirtschaft, Das R war Hobbymeteorologe, und sein eigenes SCH würde sich sicher um den Weihnachtsglanz kümmern.
Es würde schon irgendwie weitergehen . Wem nützte schließlich das W-Klagen?