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Das was in Zimmer 106 passiert ist
Ich habe bis jetzt nie einen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Routine gehabt. Sie ist gleichbedeutend mit Stillstand. Und Stillstand ist gut, wenn man ein Feigling ist.
Es ist tief in der Nacht, aber ich werde erst in sechs Stunden schlafen können. Dann wird es ungefähr sieben Uhr sein. Die Entfernung zu diesem Zeitpunkt kommt mir im Moment wie die Fußstrecke zum Mond vor. Wenn die Toleranzentwicklung im Körper erst mal angefangen hat, bewirkt Kaffee genau das Gegenteil von dem, was er soll. Den Koffeinkick spüre ich jedenfalls schon seit Jahren nicht mehr. Nur der bittere Geschmack, der ist geblieben.
Ich und meine Kollegin Juliane Sundstrom arbeiten an einem Mann, dessen Körper aussieht wie der eines Kastanienmännchens. Sein Name ist Georg Kress. Seit einer missglückten Reanimation ist er nur noch ein Stück Haut und Knochen, das Pech hat, an diesem Leben noch teilnehmen zu müssen. Wenn unser Gehirn zu lange ohne Sauerstoff bleibt, dann kommt es zu irreparablen Schäden im Nervensystem.
Ich gebe ihnen einen Tipp: Wenn Sie rauchen sollten, dann hören Sie besser auf damit.
Unter dem trüben Licht, das sich Herr Kress mit uns teilt, sieht er erbärmlich aus. Durch jahrelanges Liegen haben seine Muskeln mächtig an Substanz verloren. Schulter und Ellenbogenknochen stehen weit hervor, seine Haut ist an vielen Stellen trocken, oder aufgerissen. Dunkle Adern über dünner Papierhaut. Jede einzelne Rippe ist zählbar. Sein Kopf ist eine Melone auf dem dürren Hals, die ständig in Schweiß gebadet ist.
Und ausgerechnet dieser Mensch hat gesehen, wer Mareike umgebracht hat. Passiert ist es vor zwei Wochen in seinem alten Zimmer, der 106. In der gleichen Nacht wurde er hierher in die 121 verlegt. Das Zimmer ist eine exakte Kopie der alten Behausung. Seine Frau hat es so verfügt, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie ihm damit einen Gefallen getan hat.
Der Anblick dieses Menschen ist für mich nur schwer zu ertragen. Alles, was ich von seiner Gesellschaft habe, ist eine Rückkehr zum Stillstand. Der Körper von Herrn Kress ist ständig in Bewegung, wenn er unter Stress gerät. Eine der wenigen Regungen zu der sein Hirn noch in der Lage ist. Ich muss mit den Händen und meinem ganzen Körpergewicht arbeiten, um Juliane die Arbeit mit der Windel so einfach wie möglich zu machen, aber die Säuberung des Hinterteils ist in diesem Fall kein leichtes Unterfangen. Nahrung, die durch eine PEG-Sonde zugeführt wird, hat die Konsistenz von Lehm.
Zwischen zwei Oberschenkeln sehe ich Juliane arbeiten. In ihr liegt eine stoische Ruhe, die als Arroganz gedeutet werden kann, aber ich finde so eine Eigenschaft bewundernswert. Sie gehört zu der Sorte Mensch, die es schaffen, alle Dinge, denen sie keinen Zugang zu sich gewähren wollen, immer auf Distanz zu halten. Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass die meisten Kollegen damit nicht zurecht kommen, aber das finde ich sogar beruhigend, denn ich fühle mich davon angezogen. Aber Juliane und ich reden selten mehr als vier Sätze miteinander, Begrüßung und Verabschiedung eingerechnet.
Wenn ich kündigen könnte, würde ich es sofort tun.
In der Nacht gibt es auf den Korridoren Echos. Diese werden am Tage von allen möglichen Geräuschen verschluckt, aber in der Nacht kann man jemanden hinter sich atmen hören, wenn er Nahe genug dran ist. Man bewegt sich durch sich selbst, filtert, versucht zu reflektieren. Das Licht zeigt einem nur Dinge, die ihren Platz bereits haben. Außer, dass man seine Arbeit macht, ist es auf den Gängen still. Hier herrscht absoluter Frieden, der von Stillleben und grünleuchtenden Notausgangsschildern bewacht wird. Der moderige Geruch, der am ehesten von fremden Menschen registriert wird, kommt aber nicht von den Bewohnern hier, sondern aus dem Mauerwerk selbst. Es entsteht der Gedanke, dass nicht nur das Kastanienmännchen mit dem Schlauch im Leib aus der 121 den Tod von Mareike gesehen hat.
Gleichzeitig denke ich, dass mich etwas unsichtbares beobachtet.
Wir kommen an Zimmer 106 vorbei und machen eine Pause. Jeder macht hier mindestens eine Pause in seiner Schicht. Unsere Körper werfen lange Schatten auf die Tür, so wie derjenige, der vor zwei Wochen Mareike in das Zimmer gefolgt sein muss. Das Polizeisiegel ist immer noch da. Es strahlt hell in den Gang hinaus, und scheint über alles Bescheid zu wissen. Hinter der Tür ist nichts außer gähnende Schwärze und kalte Luft. Ich wüsste zu gern, ob die Figur aus weißen Linien noch auf dem Fußboden zu sehen ist.
Juliane lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie starrt den Gang entlang, als würde sie in der Ferne eine Spinne fixieren, die nur sie sehen kann. Schräg über ihr ragt das mausgraue Anwesenheitslicht aus der Wand heraus und starrt mich an. Ich sehe es im Augenwinkel. Mein Blick aber bleibt bei ihr, und ihrem milchblassen Gesicht. Blonde Haarsträhnen fallen über blauen Augen. Sie sind noch heller als das Siegel und zwingender als die Dunkelheit hinter der Tür.
Unbewusst konzentriere ich mich auf die Schnittstelle zwischen Ohrläppchen und Kieferknochen. Ich ertappe mich dabei, wie mich der Wunsch überfällt, sie genau dort zu berühren.
Wieso oft ist Julianes Ausdruck nahe an der Undeutbarkeit; eine Mischung aus Ablehnung und Erwartung, die jederzeit in absolute Gleichgültigkeit umschwenken kann. Sekunden verstreichen, in denen ich versuche, mir passende Worte abzuringen, aber mir fällt absolut nichts ein. Vielleicht soll an diesem Ort nicht mehr gesprochen werden.
Der Klingelton von ihrem Stationstelefon bringt schließlich die Rettung. Es ist nur ein monotones Piepen, das in dieser Situation wie ein Spott auf mich wirkt. Juliane wirft einen Blick auf das Display. „Frau Müller. Ich gehe eben runter. Geh du schon mal zu Herrn Gruber.“
Juliane wird kleiner, als sie sich auf die Ecke zum Treppenhaus zu bewegt. Das wäre ein guter Zeitpunkt, um ihr nicht länger hinterher zu schauen, aber ich genehmige mir immer wieder Aufschub, bis sie dann doch abbiegt. Ich höre ihre ersten Schritte, die sie auf der Treppe macht, aber dann ist da nichts mehr, noch nicht einmal ein kleines Echo. Ich weiß genau, wo sie hingeht, und es beunruhigt mich, dass dieser Weg von mir weg führt.
Ein Sprichwort im Pflegeberuf sagt, dass, wenn einer stirbt, ihm zwei folgen werden. Dieser Oktober erfüllt die Quote lückenlos, aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit das Sprichwort uns, die Pflegekräfte, mit einbezieht.
Das Notausgangsschild über mir zeigt, wo ich lang muss, um aus dieser Geschichte sofort raus zu sein. Routine hilft, gewisse Ängste zu verdrängen.
Als ich leise die Tür zu Herrn Grubers Zimmer öffne, kommt mir stickige Luft entgegen, die von Schweißgeruch geschwängert ist. Ihn kann ich auch ohne Licht auf seinem Bett sitzen sehen. Er atmet wie ein Nashorn, dass im Sterben liegt.
Natürlich wurde über Mareikes Tod wie wild spekuliert, und jeder hat seine eigene Theorie zu dem, was in Zimmer 106 passiert ist.
Um meine Theorie besser sehen zu können, schalte ich das Licht ein. Herr Gruber ist ein Mann von über hundertzehn Kilo. Er ist so groß, dass die Hälfte seines Bettes unter ihm verschwindet. Seine Hände haben den Radius von flachen Tellern, sein Kopf ist birnenförmig und ruht auf einer Masse von sehnigem Fleisch, das seinen Nacken bildet. Von seiner ehemaligen Frisur ist nur ein wirre Ansammlung struppiger Haare übrig geblieben, die kranzförmig aus seinem Schädel wuchern. Die Schädeldecke dagegen ist beinahe haarlos, aber man kann einen großen, braunen Placken erkennen, den man leicht für einen großen Bluterguss halten könnte. Es ist aber eine Verletzung, die er sich im Krieg zugezogen hat. Es heißt, die Gehirnoperation hat er nicht wirklich gut verkraftet.
In all den Jahren hat Herr Gruber nie Besuch bekommen. Nur sein Sohn wurde am Tage seiner Aufnahme gesichtet, danach gab es nur noch telefonischen Kontakt, wenn es irgendetwas zu klären gab. Er ist bei uns im Ort auch kein Unbekannter. Immerhin erzählt man sich, er habe früher den Hund eines Nachbarsjungen mit bloßen Händen erwürgt, als ihn dieser ohne besonderen Grund angebellt hatte. Ich habe das immer für Legendenbildung gehalten, aber seit zwei Wochen lebe ich in dem Glauben, dass wir hier auf einer tickenden Bombe hocken.
Wirklich auffällig war Herr Gruber nie, wenn man von seinen sehr unregelmäßigen, cholerischen Anfällen absieht, die alte Leute hin und wieder nun mal haben. Man hat diesen Beruf gelernt, man lebt damit. Aber wer kann schon ganz genau sagen, was sich wie wann zu welchen Proportionen verändert. Solchen Menschen nähert man sich mit all der Vorsicht, zu der einen die Routine rät.
Wenn man mich danach fragen würde, dann würde ich einer Fixierung am Bett sofort zustimmen, aber ich bin hier ein Niemand, und mich wird auch niemand fragen. Zudem gibt es eine Menge sinn und sinnloser Kriterien, die erfüllt sein müssen, um so eine Maßnahme durchsetzen zu können. Solange das nicht der Fall ist, bekommt man die nötigen Papiere und Unterschriften nicht. Das Psychisch-Kranken-Gesezt ist in dieser Hinsicht hieb und stichfest.
Ich reibe den Fleischberg mit Pferdesalbe ein. Ich spüre harte Muskeln unter wabbeliger Haut, deren beißender Geruch an saures Fleisch erinnert. Wenn es so was wie Kommunikation zwischen uns gibt, so beschränkt sich diese auf das non verbale interpretieren von Gesten – Herr Gruber redet nie. Der gesamte Körper vibriert unter seinen schweren Atemzügen. Bei diesem direkten Kontakt komme ich mir klein und zerbrechlich vor. Eine Tonne Stahl gegen eine Packung Mehl. So was in der Art.
Mit einer Hand streicht er sich über den Schädel. Der braune Placken verschwindet unter der immensen Hand. Ich habe Bratwurstfinger vor Augen, in denen genug Kraft steckt, um einen Menschen von Mareikes Statur ohne viel Mühe das Genick zu brechen. Und ich bin sogar noch schmächtiger geraten als sie.
Als ich fertig bin, lege ich die Pferdesalbe zurück in den Nachtschrank. In der Schublade liegt nur ein Kamm, und ein kleiner, versiffter Spiegel. Neben mir brummt der Fleischberg. Irgendetwas will er noch, aber ich habe keine Ahnung, was das sein könnte. Mein Körper spannt sich an, weil ich jetzt jeden Moment einen seiner Ausraster befürchte. Er wird unruhig, sein gesamtes Gewicht gerät in Bewegung. Er macht Anstallten aufzustehen, und ich weiche schnell ein paar Schritte in Richtung Tür zurück. Zwei große Augen starren trübe zu mir herüber. Eine Hand habe ich bereits an der Türklinke, und bin bereit hundert Meter in zwei Sekunden zu schaffen.
Und dann ist mit einem Mal Ruhe im Raum. Herr Gruber legt sich hin und dreht sich auf die Seite. Das Bettgestell ächzt unter der Last. Ein Wunder, dass es all die Jahre gehalten hat, ohne größeren Schaden zu nehmen. Mit einer Hand zieht er sich seine Decke über. Es sieht aus, als würde ein Felsen von einem Taschentuch bedeckt werden.
Draußen auf dem Gang fühle ich, wie die kribbelige Kälte von mir abfällt, die sich in meiner Wirbelsäule eingenistet hat. Bis sie ganz verschwunden ist, dauert es schon einige Momente. Eigentlich will ich weggehen, aber ich bleibe vor der Tür stehen und lausche. Es ist und bleibt still. Ich kann nur das schwere Atmen hören. Er kommt nicht heraus, um mich zu verfolgen. Vielleicht stimmt es wirklich, dass man den schlimmen Gedanken immer mehr Raum gibt, als den Schönen.
Vielleicht bin ich aber auch einfach nur gnadenlos überspannt, so, wie wohl alle hier.
Ich machen mich auf den Weg nach unten, um Juliane zu helfen. Durch die Fenster auf dem Gang sehe ich, dass es draußen immer noch kräftig schneit. Der Schneefall ist sehr stark, ich kann noch nicht einmal mehr die Lichter des Nachbargebäudes sehen. Ich bekomme Lust auf einen Kaffee. Schwarz und so stark wie nur möglich.
Auf halber Strecke kommt mir Juliane entgegen. Ob alles mit mir in Ordnung ist, will sie von mir wissen. Ihre Fürsorge überfällt mich geradezu, aber ich stelle mir gleichzeitig die Frage, wie ich wohl aussehen muss. Ich gebe ihr die Antwort, die ich geben kann.
„Karina, du kannst es dir nicht vorstellen. Frau Müller war vollgeschissen bis ins Kreuz.“
Für den Rest des Weges reden wir kein Wort mehr miteinander.
Im Dienstzimmer trinken wir Kaffee und gehen einige Akten durch. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich zu ihr rübersehe, aber von ihrem Gesicht ist nichts zu sehen. Sie sitzt so weit über den Tisch gebeugt, dass ich direkt auf ihren Scheitel sehe. Ihr Pony fällt einfach auf die Tischplatte. Sie hält den Kugelschreiber in einer für meine Begriffe grotesken Haltung in ihrer linken Hand, und schreibt hastig ihre Dokumentation.
Auf der Uhr wird es langsam Morgen, aber draußen ist es noch stockfinster. Ich spiele mit dem Gedanken, Juliane von meiner Gruber Theorie zu erzählen, aber ich entscheide mich dann doch dagegen. Wir haben in den letzten zwei Wochen zu viele Theorien gehört. Wir haben die Fragen der Polizei und die des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung beantwortet. Und noch immer weiß hier niemand genaueres. Vielleicht ist es auch besser so. Jedenfalls beruhigt mich der Gedanke an den nahenden Morgen.
„Ich gehe noch eine rauchen. Kommst du mit?“
Ich lehne ab. Nicht, weil ich ohnehin Nichtraucher bin, sondern, weil es mir draußen einfach zu kalt ist. Dass Juliane selbst höchste Minusgrade nicht scheut, wundert mich nicht. Sie ist in der Kälte zu Hause.
Als sie wieder zurückkommt, ist sie von Kopf bis Fuß eingeschneit. Ihre Knie zittern. Sie stampft in der Manier eines kleinen Kindes auf die Erde, um den Schnee von den Beinen zu schütteln. Gleichzeitig wuschelt sie ihre Haare durcheinander und sorgt so für einen kleinen Schneefall hier drin. Die ganze Szene erheitert mich, weil sie meinen Gedanken von eben in einen neue Richtung lenkt.
„Alter Schwede! Ich höre auf, im Winter zu rauchen!“
Ihr Stationstelefon piept los. Sie verdreht die Augen.
„Lass mal, ich gehe schon. Wärm du dich mal auf.“
Bevor ich ganz aus dem Sichtfeld des Dienstzimmers verschwinde, drehe ich mich noch mal um. Juliane sitzt am Schreibtisch im Schein der Leselampe, der ihre Haare leuchten lässt. Sie rührt in ihrem Kaffee rum. Ich verziehe mich, bevor sie auf die Idee kommt, sich umzudrehen.
Alles kann leichter werden. Das Licht zeigt uns nur Dinge, die bereits ihren festen Platz haben.