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Das weiße Kleid
„Steh’ still, Annerl!“
„Warum? Das wird sowieso nichts, Mama, das Kleid ist einfach zu eng.“
„Ach Unsinn! Wir trennen es hier und hier auf, ziehen einen Gummizug rein und fertig.“
„Aber dann wird man sehen, daß aufgetrennt is’!“
„Ach geh! Du hast noch das Jäckchen drüber.“
„Und wenn’s morgen heiß wird?“
„Na und? Es ist ja nur für die Prozession. Und die ist morgens um neun, da wird’s schon nicht so heiß sein. Danach kannst ja nach Hause gehen und dich umziehen.“
Anne hatte darauf keine Antwort. Das heißt, sie hätte schon eine gehabt, aber die konnte sie nicht sagen. Nicht ihrer Mutter und auch keinem in ihrer Familie. Sie war letztes Jahr eine der vier Trägerinnen der heiligen Jungfrau, und für alle war es selbstverständlich, daß sie das auch dieses Jahr sein würde. Eine Tochter als Trägerin und nicht bloß als Begleiterin bei der Fronleichnamprozession dabei zu haben, das war eine Ehre für jede Familie, der Pfarrer persönlich suchte sie aus. Natürlich hatten Töchter aus reichen Familien größere Chancen, ausgewählt zu werden, aber auch die anderen wurden ab und zu beachtet, wenn sie nur brav und schön waren. Und Anne war schön und brav, von klein auf wurde sie geliebt - nicht zuletzt ihres engelgleichen blonden Haars wegen -, aber erst seit dem letzten Jahr war sie groß und stark genug, bei der Prozession die Madonna mitzutragen.
Es war noch früh als sie ankamen, doch in der Kirche waren die ersten Bänke schon besetzt. In der Mitte und etwas vor diesen Bänken stand ein reichlich mit Blumen geschmücktes Tragegestell, auf dem die Figur der heiligen Jungfrau stand. Sie war aus bemaltem Holz und sehr alt, ihre S-Form wies auf Gotik als Entstehungszeit hin. Sie stellte eine sehr junge Mutter Gottes dar, trotz der etwas fremd anmutender Gesichtzüge schien sie kaum älter als die Mädchen, die sie gleich tragen und begleiten würden, und die gerade dabei waren, die letzten Blumen auf das Tragegestell zu streuen. Sie alle trugen weiße Kleider und auf dem Kopf einen Blumenkranz. Sie glichen auch darin der Mutter Gottes, doch das war weder ihre einzige noch die wichtigste Ähnlichkeit: Sie alle waren Jungfrauen.
„Geh’, Annerl!“, sagte die Mutter leise und schob ihre zögernde Tochter vorwärts. „Tu’ auch deine Margeriten dazu – die sind die schönsten und frischesten!“
Aber Anne wollte nicht, blieb immer wieder stehen. Doch ihre Mutter schob sie einfach weiter, sich ihr offen zu widersetzen schien unmöglich. Als sie beinahe die Mädchenschar erreicht hatten, tauchte wie aus dem Nichts der Kaplan auf und verstellte ihnen den Weg.
„Sie nicht!“, sagte er leise zur Mutter und deutete mit den Augen auf Anne.
Er war neu in der Pfarrei, kam erst vor wenigen Wochen, frisch aus dem Priesterseminar. Obwohl schon über dreißig, wirkte er mit seinem federnden Gang und seinem jungenhaften, immer glattrasierten Gesicht wesentlich jünger. Durch sein offenes Wesen und die Freundlichkeit, die er jedermann gegenüber an den Tag legte, war er ein totaler Gegensatz zu dem alten, griesgrämigen Pfarrer, der, obwohl schon längst über siebzig, immer noch die Geschicke der Gemeinde bestimmte wie sonst nur der Bürgermeister.
„Aber … aber warum denn, Hochwürden?“
Anne hörte und spürte am Arm, wie ihre Mutter erzitterte und mit sich rang.
„Weiß ich nicht, Frau Angerer. Herr Pfarrer will es so.“
„Der Herr Pfarrer? Aber er sagte doch noch am Sonntag, die Trägerinnen würden die gleichen sein wie letztes Jahr!“
„Ja, ich weiß. Trotzdem hat er heute Morgen das anders entschieden. Tut mir leid.“
„Und kann man da nichts machen, Hochwürden?“
„Ich fürchte nein, Frau Angerer. Tut mir leid, daß Sie das so erfahren mußten. Die Zeit war einfach zu knapp heute Morgen.“
„Ja … ja, ich verstehe ... und wer … wer ist die Glückliche?“
„Die Katharina, Frau Angerer. Katharina Scheid.“
„Katharina?! Ja, natürlich … die Wirtstochter … hätte mir denken können.“
„Es ist nicht so, wie Sie denken, Frau Angerer.“
„Ah was! Tut nicht so, Hochwürden! Ich weiß, was hier gespielt wird!“, unterbrach die Mutter ihn erbost und mit lauter werdender Stimme. „Aber egal, Annerl, dann wirst du eben nur Begleiterin! Das paßt eh besser zu unserem Stand, nicht wahr, Hochwürden!?“
„Es ist wirklich nicht so, wie Sie denken, Frau Angerer“, erwiderte der Kaplan leise, um dann, einen Schritt näher kommend, fast flüsternd hinzuzufügen: „Und das mit der Begleiterin, Frau Angerer, das geht auch nicht.“
„Nicht!?“, fragte die Mutter verwundert und plötzlich ebenso leise, „Ja, was … ja, warum denn nicht?“
„Weiß ich nicht, Frau Angerer. Herr Pfarrer hat nur gesagt, Sie sollen ihre Tochter fragen.“
„Annerl?!“, rief sie laut und doch mehr zu sich als zum Kaplan. Sie faßte ihre Tochter am Arm und drehte sie mit einem Ruck zu sich.
„Annerl?“
Anne antwortete nicht, wurde nur rot. Für einen kurzen Moment schaute sie ihrer Mutter in die Augen, dann senkte sie wieder ihren Blick zum Boden, auf den sie schon die ganze Zeit gestarrt hatte. Doch während sie bisher so tat, als ginge sie alles nichts an, zeigten jetzt ihre Gesichtsfarbe und die kleinen Schweißperlen auf ihrer Stirn, daß sie betroffen war - sie wußte, jetzt schauten alle Anwesenden auf sie.
Und wirklich, jegliches Gespräch, so leise es bisher auch geführt wurde, erstarb, nur ein Kind sprach und fragte unbekümmert weiter, doch die Antwort auf seine Frage war nur ein gezischtes Pssst. Dann herrschte absolute Stille in der Kirche, die von draußen kommenden gedämpften Stimmen störten nicht, jeder wußte: Sie gehörten nicht dazu. Doch das dauerte nur ein paar Sekunden, dann wurden die Türen aufgerissen, zuerst die an der Seite, dann die unter dem Chor, und Leute kamen herein.
Und als ob deren laut hallenden Schritte die Mutter aus ihrer Starre gerissen hätten, drehte die sich abrupt um und ging, Anne hinter sich ziehend, auf eine der noch leeren Bänke auf der linken Seite des Kirchenschiffes zu. Dort angekommen, schob sie ihre Tochter hinein und weiter bis zur Wand, wo sich beide setzten. Sie sprachen kein Wort miteinander, während der ganzen Messe nicht. Sie schienen auch die vielen Blicke nicht zu registrieren, die von allen Seiten kamen, vor allem die Neuangekommenen machten sich keine Mühe, ihre Neugierde zu verbergen, zu aufregend schien die Neuigkeit, zu groß der Skandal.
Als die Messe zu Ende war, formierte sich der Prozessionszug: Zuerst wurde das Kreuz durch den Südausgang getragen, dann gingen die Ministranten, die Fahnenträger und die Kommunionskinder mit ihren Blumenkörbchen. Ihnen folgten die Firmlinge und die weißgekleideten Jungfrauen mit der Madonna, dicht gefolgt vom Baldachin und dem Allerheiligsten in der golden funkelnden Monstranz, die vom Pfarrer getragen wurde. Einen Schritt hinter ihm ging der Kaplan, dahinter Nonnen, die schon in aller Frühe vom nahen Kloster kamen und seitlich vom Altar und fast unsichtbar für die anderen der Messe beiwohnten. Dann leerte sich die rechte, das heißt die Männerseite, mit vorderen Bänken angefangen und dann immer schön der Reihe nach, stumm beäugt von Frauen, die verharren mußten, bis der letzte Mann die Höhe des Ausgangs erreichte.
Die ersten drei Frauenbänke wurden noch langsam und würdevoll verlassen, doch als Anne mit ihrer Mutter an die Reihe kam, stand plötzlich eine kleine, ganz in schwarz gekleidete Frau vor ihnen und hinderte sie am Weitergehen. Die Frau sagte nichts, stand nur da, die Hände wie zum Gebet zusammengefaltet und den Blick zum Altar gerichtet. Nach kurzem Zögern schob Annes Mutter die Frau einfach beiseite, was ein lautes, bedrohlich klingendes Gemurmel aus den hinteren Reihen zu Folge hatte. Kaum hatte Anne die Bank verlassen, drängten andere Frauen sofort und ungeordnet nach, leise und doch vernehmbar Schande rufend.
Wie vor einer Meute wild gewordener Tiere fliehend, überholte Anne ihre Mutter auf dem kurzen Weg zum Ausgang, doch sie konnte die Vorausgehenden nicht mehr erreichen. So trat Anne nach einer Pause als erste aus der Kirche, wo sie ein neuer Angriff überraschte. Ein kleiner Junge von vielleicht zehn Jahren sprang herbei und schlug ihr den Blumenkranz vom Kopf, begleitet vom Gelächter der Herumstehenden. In der Mehrzahl waren das junge Männer, und es war offensichtlich, daß sie den Kleinen zu dieser Tat angestiftet hatten.
Anne drehte sich instinktiv um, und für einen Augenblick schien es, als ob sie den Kranz aufheben wollte. Doch die nachdrängenden Frauen waren schneller, höhnisch lachend und in erkennbarer Absicht trampelten sie auf ihm, mehr als eine stoppte sogar kurz und tat so, als ob der Kranz ein Fußabstreifer wäre.
„Komm, Annerl, achte nicht auf sie!“
Die Worte der Mutter hörte Anne wohl, doch sie blieb stehen. Stumm wehrte sie alle Versuche ihrer Mutter ab, sie zum Weitergehen zu bewegen, bis diese resignierte und nur noch ab und zu an ihrem Arm zupfte. Doch Anne beachtete sie nicht mehr, stand nur da, gebeugt und wie zum Sprung bereit, den Blick auf die zertrampelten Blumen gerichtet.
Plötzlich schloß sie die Augen und ihrer Kehle entrang sich ein gequältes Stöhnen, das kaum hörbar war und einherging mit einer Veränderung, die nicht nur Annes Körper, sondern sie selbst umfaßte. Sie richtete sich auf, hob den Kopf, den herausstürmenden Frauen direkt in die Augen schauend, lächelnd, wie aus einer anderen Welt zurückkehrend. Und als ob sie sich gerade darauf besonnen hätte, warf sie ihnen die Margeriten, die sie bisher krampfhaft in ihrer Hand hielt, vor die Füße, auf die Reste ihres Kranzes.
Und siehe da, die Frauen wichen zurück. Für einen Augenblick nur, eben nur so lange, bis sie von den Nachdrängenden gezwungen wurden, weiter zu gehen. Aber jetzt vermieden sie auf die Blumen zu treten, und es war nicht klar, ob sie das aus Pietät vor für die heilige Jungfrau bestimmten Blumen taten, oder weil Annes Blick sie davon abhielt. Jedenfalls machten sie jetzt einen Bogen um die Blumen und huschten schnell vorbei auch an Anne, die jede Einzelne mit einem Blick und einem Lächeln begrüßte. Jetzt waren sie diejenigen, die auswichen und zu Boden blickten, jetzt waren sie die Verfolgten. Kaum die Schwelle überschritten, schon sahen sie vor sich dieses lächelnde Mädchen, das sie mit dem Blick zu durchdringen schien, und dem sie nicht standhalten konnten: Eine nach der anderen senkte den Kopf und trat schweigend zur Seite.
Auch Männer, die soeben noch feixend dastanden und sich gegenseitig auf die Schulter klopften, wurden plötzlich stumm. Ein paar von ihnen verabschiedeten sich gleich, die anderen traten noch eine Zeitlang verlegen von einem Bein auf das andere, dann murmelten sie irgendwas zu dem Nächststehenden und gingen schnellen Schrittes weg, als die letzte Frau aus der Kirche trat, waren sie bereits alle verschwunden.
Anne aber stand noch lange da, erst als ihre Mutter sie wieder am Arm zupfte, kam Leben in sie. Sie drehte sich halb um, es schien, als wollte sie etwas sagen, doch dann ging sie langsam weg, ihre Mutter keines Blickes würdigend. Sie ging langsam, doch nicht zögernd, eher wie jemand, der ein bestimmtes Ziel hat und genau weiß, daß er ihn erreichen wird - bald war sie von der Kirche aus nicht mehr zu sehen.
Und man sah sie nicht mehr, weder zu Mittag noch am Abend. Erst am nächsten Morgen fand man sie, auf dem Heuboden, ihrem Lieblingsplatz aus Kindheitstagen, in ihrem weißen Kleid, erhängt. Und in ihrem ungeliebten weißen Kleid begrub man sie auch, in einem weißen Sarg, bei hellem Sonnenschein. Diesmal protestierte niemand, nur der Pfarrer ließ sich nicht blicken.