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Das weitere Vorgehen
„Seit ihr soweit?“ fragt Rainer.
In der einen Hand hält er seinen Ordner mit den wichtigen Dokumenten, in der anderen sein Mobiltelefon, das er grundsätzlich nicht in die Hosentasche steckt. Es liegt auf Bildschirmen, unter Papierstapeln oder neben Spaghettitellern, aber es steckt niemals in seiner Hosentasche.
Es ist auf die Minute halb drei und somit Zeit für unsere wöchentliche Konferenz, die allerdings nie pünktlich beginnt, weil immer noch irgendwer ein wichtiges Telefonat führen oder eine unverzichtbare E-Mail ausformulieren muss.
Ich frage mich, ob es da einen Zusammenhang gibt - ob die Konferenzen vielleicht erst dann rechtzeitig anfangen, wenn sich Rainer endlich angewöhnt, sein Telefon in die verdammte Hose zu stecken. Natürlich ist diese Theorie ganz großer Unsinn, aber ich hoffe, solange ich mir dessen bewusst bin, besteht kein Grund zur Sorge.
Ich lege das Prospekt mit Daten und Fotos eines extra sparsamen Mittelklassemodells beiseite und wühle planlos in meiner Schublade herum. Schon seit Monaten gebe ich mir nicht mehr sonderlich viel Mühe, beschäftigt zu wirken. Dieser Wandel meines Verhaltens basiert weniger auf einer bewussten Entscheidung, als vielmehr auf einer plötzlich aufgetretenen und seither beständigen Laune.
Tobias will noch schnell zum Kaffeeautomaten, und ich muss kurz auf die Toilette. Rainer stöhnt und sagt: „Menschenskinder!“
Ich ziehe fünf oder sechs von den grauen Papiertüchern aus dem Spender über dem Waschbecken und nehme sie mit in die Kabine, wo ich damit an meinem erregbarsten Körperteil herumreibe. Im Stehen finde ich das immer ziemlich anstrengend, aber setzen möchte ich mich nicht, obwohl alles blitzblank sauber ist und nach Zitrusfrüchten riecht. Wirklich entspannend wird es ohnehin erst im Liegen, und jetzt muss es auch so gehen. Es geht, und zwar ohne – wie ich es immer befürchte - einen strahlend weißen Fleck auf dem schwarzen Stoff der Anzughose zu hinterlassen. Das ist erfreulich.
Ich habe nämlich mittlerweile begriffen, wie wichtig ein tadelloser Zustand der Kleidung ist. Wenn man einen Fehler bei der Arbeit macht, so lässt sich dieser in der Regel wegdiskutieren, aber bei verschmutzter oder gar beschädigter Kleidung bleibt kein Spielraum mehr für Ausflüchte. Deshalb unternehme ich zum Beispiel tagtäglich eine gewaltige Anstrengung, um die Kantine mit einer sauberen Krawatte zu verlassen, was ich für die beachtlichste Leistung halte, die ich im Unternehmen erbringe.
Ich lehne mich mit dem Rücken gegen die trostlose Kunststoffwand der Kabine und spüre, wie körpereigene Glücksstoffe durch meine Adern strömen.
„Nun entspann dich erstmal. Lass es wirken“, sagt Manuela immer, wenn ich mich direkt nach dem Höhepunkt schon wieder anziehen will, und sie hat Recht. Diesmal halte ich mich an ihre Worte - die Konferenz hat mittlerweile sowieso ohne mich begonnen. Schade, dass Manuela jetzt nicht sehen kann, wie ich ihren Rat befolge.
Ich spüle die Papiertücher den Abfluss hinunter und wasche mir gründlich die Hände. Dann betrachte ich mich im Spiegel dabei, wie ich meine Hände unter dem an der Wand montierten Föhn reibe, der einen höllischen Lärm veranstaltet. Nachdem sie trocken sind, halte ich sie so in den Luftstrom, dass dieser von unten in meine Krawatte umgelenkt wird, wodurch sie sich ein wenig aufbläht. Das sieht irgendwie lustig aus, und ich überlege, ob diese Angewohnheit – ich mache das nämlich nach jedem Händewaschen – bedenklich ist.
Ein letzter Blick in den Spiegel – mein Krawattenknoten ist mir heute gut gelungen. Das baut mich auf. Oft misslingt er, wenn ich es morgens eilig habe, weil ich nach wie vor versuche, rechtzeitig im Büro zu erscheinen, wobei ich allerdings beobachte, dass Pünktlichkeit für mich fortschreitend an Bedeutung verliert.
Der Weg zum Besprechungsraum wird mir von insgesamt vier Türen versperrt, und ich stelle wieder einmal fest, wie eklig es ist, Klinken anfassen zu müssen. In meinen Augen handelt es sich dabei um die schlimmste der unzähligen Zumutungen, die unsere Umwelt bereit hält.
Als ich wortlos eintrete und mich auf einen der verbleibenden freien Stühle setze, blickt Rainer kurz auf. Dann starrt er auf seine Dokumente und schüttelt den Kopf. Manfred grinst. Tobias, Martin und Ulrich sind damit beschäftigt, sich irgendwelche Notizen zu machen. Ich habe heute nichts zu Schreiben mitgebracht. Warum kann ich gar nicht sagen - es ist einfach so, und ich akzeptiere das.
Rainer erklärt, wie er sich das weitere Vorgehen bei unserem Projekt vorstellt. Sein Krawattenknoten ist jeden Tag perfekt, das muss ich zugeben. Meine Gedanken treiben ab und stranden bei Manuela, und wie sie immer sagt: „Nun entspann dich erstmal. Lass es wirken.“
Es ist unglaublich, aber erst seitdem ich mit Manuela ins Bett gehe, und sie mir diese Worte sagt, koste ich das Gefühl nach dem Höhepunkt bewusst aus.
Trotzdem frage ich mich, ob unsere Affäre das alles wert ist. Damit meine ich solche Sachen wie zum Beispiel, dass ich einen Zahnarzttermin erfunden habe, damit wir gestern vormittag zwei Stunden gemeinsam in meinem Appartment verbringen konnten. Ich gehe dabei schon das eine oder andere Risiko ein, obwohl sie mir eigentlich nichts weiter bedeutet. Sie ist angenehm, aber nicht wirklich spannend. Manuela ist Durchschnitt. Es gibt nicht die kleinste Besonderheit an ihr, außer vielleicht, dass sie die Frau meines Chefs ist – die Frau von Rainer.
Vermutlich ist sie hinter die Geschichte von ihrem Mann und der Kleinen aus dem Vertrieb gekommen, und nun will sie sich adäquat rächen. Mir ist es gleich, und ich habe darauf verzichtet, sie nach ihrem Motiv zu fragen. Ich für meinen Teil besitze kein Motiv - weder hasse ich Rainer, noch will ich ihn fertigmachen. Im Grunde ist er ein netter Kerl. Wahrscheinlich habe ich mich aus reiner Langeweile darauf eingelassen, aber das macht auch keinen Unterschied. Jedenfalls rechne ich mit Unannehmlichkeiten, wenn die Angelegenheit ans Licht kommt, was früher oder später sicher passieren wird.
Ich muss meinen Gedankenfluss unterbrechen, weil Rainer fragt: „Thomas, der Liefertermin für dein Modul zur Bearbeitung von Korrekturbuchungen ist der fünfzehnte, richtig?“
Das kann sein, aber beschwören möchte ich es nicht. Rainer kramt in seinen Papieren, zieht einen Vertrag heraus, tippt dreimal mit dem Zeigefinger darauf und sagt: „Ja, der fünfzehnte.“
Ich nicke, und Tobias kippt seine Kaffeetasse um. Während er losrennt, um etwas zum Wegwischen zu holen, beobachte ich, wie sich die dunkelbraune Pfütze auf der beigen Tischplatte ausbreitet. Der Tisch muss leicht schräg stehen, denn die Ausbreitung erfolgt nur in eine Richtung – in meine Richtung! Ich springe auf und mache einen Schritt zurück, denn Kaffeeflecken auf Hemd und Krawatte haben mir gerade noch gefehlt. Bald wird die Flüssigkeit die Tischkante erreichen und auf den Teppich tropfen, das sehe ich schon kommen. Ich schätze, bis dahin bleiben noch drei, vier Sekunden. Mir kommt die Idee, den Tisch ein wenig anzuheben, um dem verschütteten Getränk Einhalt zu gebieten. Allerdings ist er wesentlich leichter, als ich dachte, weshalb ich ihn viel zu weit nach oben reiße.
„Sag mal spinnst du?“ brüllt Rainer.
„Ich wollte verhindern, dass der Kaffee den Teppich versaut“, rechtfertige ich mich.
„Dann lieber meine wichtigen Dokumente, nicht wahr?“
Tatsächlich haben seine Papiere ordentlich was abbekommen, als die Brühe dank meines Eingreifens in die entgegengesetzte Richtung schwappte.
Er hält sie mit ausgestrecktem Arm in die Luft, und sie tropfen wie ein nasser Hund. Sein Kopf verfärbt sich zusehens. Dann schmeißt er die Dokumente wieder in die Sauerei auf dem Tisch und erklärt, dass er mittlerweile von mir die Schnauze voll hat und einige andere unerfreuliche Sachen. Ich höre ihm geduldig zu, gebe ihm Recht, und ziehe mich an meinen Schreibtisch zurück.
Als ich drei Stunden später nach meinem Mantel greife, steht Rainer im Türrahmen. Er entschuldigt sich dafür, mich ein Arschloch genannt zu haben und sagt, wir sollten uns die Tage mal in Ruhe zusammensetzen, und ein paar wichtige Dinge besprechen.
„Wir alle haben Phasen, wo es nicht so gut läuft, aber wenn wir die Probleme gemeinsam angehen, wird es schon werden“, doziert er.
Dann entschuldigt er sich noch einmal für seinen Wutausbruch, und ich sage: „Nun entspann dich erstmal. Lass es wirken.“