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Das Wunder
Es war der erste wirklich heiße Sommertag, als ein Fink im verschlafenen Neu-Berich seine Kreise drehte und sich schließlich im Garten der Familie Royter niederließ. Auf dem Terrassengeländer sitzend stimmte er eine Melodie an, die in ihrer Schönheit unantastbar schien. Die Menschen freuten sich natürlich über das traumhafte Wetter und verbrachten den Tag im Freien. Auch Paul Royter wollte zum See gehen und fragte seinen achtjährigen Sohn, ob dieser nicht mitkommen wolle. „Es wird bald regnen.“, entgegnete ihm dieser. Herr Royter wendete seinen Blick in Richtung Fenster und sah hinaus. „Weißt du, der Regen kommt aus den Wolken, mein Schatz. Es ist aber keine einzige Wolke am Himmel, siehst du. Er ist so strahlend blau wie deine kleinen Knopfaugen. Mach dir keine Sorgen, ich bin bald zurück.“ Der Cafébesitzer gab Philipp, der auf dem Chefsessel seines Vaters saß und ungerührt ein Buch las, noch einen Kuss auf die Stirn und verließ daraufhin das Haus. Unterdessen zwitscherte der Fink weiter fröhlich vor sich hin. „Sie fallen alle darauf herein, mein Freund.“, sagte Philipp zu dem Vogel, welcher daraufhin kurz innehielt und seinen Kopf beinahe so zu verdrehen schien, wie ein Hund, der dem ihm Gesagten folgen können möchte.
Just in dem Moment, als Philipp das aktuelle Kapitel seines Buches fertig gelesen hatte, sang der Vogel weiter. „Zehn, neun, acht, sieben…“ Philipp drehte sich zu dem Vogel um, der auf der anderen Seite des Fensters saß. „Sechs, fünf, vier…“ Tatsächlich verdunkelte sich plötzlich der Himmel. „Drei, zwei, eins.“ Eine weitere Sekunde später fiel der erste Regentropfen. Er perlte von einer Bartnelke ab, die auf der Terrasse stand und zersprang auf dem Boden. Philipp hielt diesen Moment fotografisch fest. Kurz darauf folgte der zweite Tropfen, sogleich auch der dritte und innerhalb von fünf Minuten goss es in Strömen. „Wozu gibt Gott den Menschen Augen, wenn sie damit ohnehin nur die falschen Dinge sehen?“, fragte Philipp seinen piepsenden Freund. Dieser schüttelte sich einmal kräftig und zwitscherte ihm etwas zu. Daraufhin machte der Junge ein Foto von dem gefiederten Gefährten, den auch der strömende Regen nicht zu stören schien. „Jetzt werden alle wieder auf dem Heimweg sein, weil sie nicht nur blind sind, sondern auch unfähig, zu verstehen, diese Narren!“ Wieder zwitscherte der Vogel Philipp etwas zu und senkte dabei seinen Kopf, als wolle er Philipp zustimmen. „Diese törichten Einfaltspinsel meinen, sie wären die Herrscher des Universums, denken, sie brächten alles zustande. Dabei verstehen sie die simpelsten Dinge nicht, sind nicht in der Lage, mit ihren Riesenhirnen das offensichtliche Wunder zu erkennen. Realisieren nicht einmal das Paradoxon ihres Verhaltens – fahren zum See um zu baden, fliehen aber vor dem Regen, der sie ja nass machen könnte…“ Der Fink schlug wie wild mit den Flügeln, als wolle er dem Jungen zu seiner Rede gratulieren.
In einiger Entfernung sah Philipp seinen pudelnassen Vater. Er wendete sich vom Fenster ab, setzte sich wieder in den Sessel und las weiter.
Paul betrat das Haus und sah seinen Sohn verdutzt an. „Wie konntest du das wissen? Es gab keinerlei Anzeichen für diesen Regen.“ „Man kann nur das sehen, was man willig ist zu erkennen.“, sagte Philipp und ging in sein Zimmer. Fassungslos strich sich Herr Royter durch die Haare und sank zu Boden. „Es tut mir alles so leid. Ich wünschte, i c h wäre in dieser Nacht gefahren.“ Eine Träne bahnte sich ihren Weg über das in Falten gelegte Gesicht des verzweifelten Vaters. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich schaffe das einfach nicht ohne dich.“ Der Fink trällerte vor sich hin. „Dass Philipp anders ist als alle anderen, wussten wir in dem Moment, als wir ihn zum ersten Mal sahen. Aber ich hatte ja keine Ahnung.“ Der Vogel fing nun zusätzlich an, mit den Flügeln zu schlagen. „Oh Gott, bitte, hilf mir… Ich…“ Jetzt begann der Fink gegen das Glas zu hämmern. Paul bewegte seine tränengetränkten Augen zum Fenster. Verwirrt stand er auf und ging zu dem Vogel. Er kniete nieder und starrte ihn entgeistert an. Der Fink hob seinen linken Flügel und strich an der Stelle über das Glas, an der Pauls Kopf reflektiert wurde, vom Scheitel bis zum Kinn. Ein seltsames Gefühl durchdrang seinen Körper. Es war ein Gefühl der Vertrautheit und Nähe. Verwirrt von dieser Empfindung wisperte er „Kann das wirklich sein?“ Er konnte seinen Blick nicht mehr von dem Vogel abwenden, welcher seinen Kopf nun auf und ab bewegte als wolle er nicken.