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Das Zimmer aus Glas
Ich möchte, dass du mich berührst. Ich möchte, dass du mit mir sprichst, mich küsst. Dass du mich anschreist oder mich schlägst, nur mach, dass ich mich lebendig fühle.
Leo öffnete die Augen, nur einen Moment lang. Die breiten Sonnenstrahlen blendeten ihn, einige Sekunden verstrichen, dann trotzte er erneut dem grellen Licht, beobachtete die winzigen Staubpartikel die darin umherschwebten, gerade so, als würden sie einen festlichen Tanz aufführen. Er bemerkte eines der Daunenkissen, das neben dem Bett auf dem dunklen Parkett lag. Leo hob es auf. Er musste schlecht geträumt haben, konnte sich jedoch an nichts erinnern und im Grunde war es ihm auch egal.
Ich habe mein Leben in deine Hände gelegt, in der Hoffnung du würdest es bereichern, doch ich habe mich geirrt. Du hast viel mehr getan als das. Denn du selbst wurdest mein Leben, meine Liebste, mein Stern. Jeder deiner Blicke, warm und strahlend, jedes Lächeln von dir lässt meine Brust anschwellen vor Stolz, jede deiner Berührungen dringt durch die Haut und streichelt meine Seele anstatt, ganz zart, als könnte sie zerbrechen. Wenn mich jemand fragen würde, was Liebe ist, so würde ich mit deinem Namen antworten, dich mit fließendem, kristallklarem Wasser vergleichen und dann lächeln.
Der Geruch von frischem Brot erfüllte den Raum. Unterhalb der Wohnung lag ein kleines Café. Leo erinnerte sich, an den milden Abend im Oktober, als die Herbstsonne langsam hinter den rostroten Dächern der Häuser verschwunden war und die Laternen ihr schwaches Licht auf die kleinen runden Tische warfen. Kairi saß ihm gegenüber. Sie musterte ihn ausgiebig durch den Schein der Kerzen, der sich in ihren haselnussbraunen Augen spiegelte. Leo spürte ihre sanften Blicke, die über seinen Körper glitten und er erwiderte sie mit einem breiten Lächeln. Auf dem Tisch standen Kaffee und Wasser und ein kleiner Korb mit Baguettestücken. Ein alter Mann, dessen faltiges Gesicht ein buschiger, silberfarbener Bart zierte, ließ den Bogen vorsichtig über die Saiten seiner Violine tänzeln und schien ebenfalls von der Liebe zu träumen, genau wie Leo, der sich keine Sekunde von der zierlichen jungen Frau abwandte. Ihr langes Haar schimmerte in tiefbraunem Ton, legte sich geschmeidig um ihren Hals, wurde hin und wieder vom Wind erfasst. Als das Lied des alten Mannes langsam verstummte, Leo und Kairi nur noch wie ein Flüstern umgab, wurde Leo bewusst, dass keine Melodie dieser Erde je der Schönheit Kairis gerecht werden würde. Sein Herz bebte vor Aufregung, er kniete sich auf das Kopfsteinpflaster zu ihren Füßen, atmete tief ein. Seine Worte klangen ganz weich und dennoch entschlossen als er Kairi um ihre Hand bat.
Niemals könnte ich dieses Gefühl vergessen, als du „Ja“ sagtest. Wie auch, es hat mich zu dem Mann gemacht, der ich bin, der ich immer sein wollte. Verändert auf eine Weise, die ich mir nicht zu träumen wagte. Und alles nur durch ein einziges Wort von dir. In dieser Nacht wurden wir eins. Du hast mich geküsst, auf die Wangen, die Stirn, den Mund. Deine Hände tasteten über meinen Körper, deine Beine schmiegten sich an mich und als ich meinen Kopf auf deine Brust legte, hörte ich dein Herz, wie es raste und sich dem Rausch hingab. Durch dich fühlte ich mich lebendiger als jemals zuvor.
Leo stand auf. Sein Haar war struppig und ungeordnet und durchaus mit der Wohnung zu vergleichen, die seit einigen Tagen nicht wiederzuerkennen war. Überall lagen Kleidungsstücke, stand schmutziges Geschirr. Es schien ganz so, als würde er zu sehr in seinen Erinnerungen schwelgen, als das ihn diese Unordnung stören könnte. Er ging in die Küche, nahm sich eine Zigarette, suchte nach Streichhölzern. An der Wand war ein Regal mit Gewürzen und kleinen Kräuterpflänzchen, allesamt bleich und trocken. Darunter hingen ein Ölgemälde, Fotos von Kairi und Leo, Postkarten aus Rom, Chicago, und eine, auf der ein Sonnenuntergang zu sehen war. Leo zog an der Zigarette, ließ den Rauch tief in seine Lungen sinken und hielt ihn dort einen Moment fest.
So oft hast du mir von deiner Heimat erzählt. Es müssen wohl tausend Nächte gewesen sein, in denen wir nebeneinander gelegen haben, ganz nah, und du mir berichtet hast, von den grünen Hügeln und den Klippen am Meer. Deine Worte wurden zu Bildern die mich entführten, mich mit sich nahmen in die Ferne und plötzlich sah ich dich, an einem Strand, wie du als kleines Mädchen Muscheln gesammelt hast. Manchmal sehe ich dich noch immer dort, fröhlich und lachend durch den weißen Sand rennen, frei von allen Sorgen. Wie gern wäre ich schon damals bei dir gewesen, in deinen Armen und deinen Gedanken. Wenn ich die Augen schließe, bin ich es.
Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch, kaum zu sehen, beladen mit mehreren Bücherstapeln. Leo räumte sie zur Seite, setze sich, öffnete eine kleine Schublade und holte ein gefaltetes Stück Papier heraus. Es war ein Brief für Kairi. Einen Moment saß Leo regungslos da und starrte aus dem Fenster. Der Rauch seiner Zigarette schlängelte sich in die Höhe, formte Kreise und verschwand dann im Licht. Leo begann zu schreiben. Jeder einzelne Buchstabe, den er zu Papier brachte, schaffte wieder Platz in seinem Kopf, gab seinen Gedanken neuen, fruchtbaren Boden. Und doch vermisste er Kairi mehr als seine Worte sagen konnten. Leo erzählte ihr in dem Brief von seinen Erinnerungen an die schöne Zeit. Er schrieb Kairi, dass er gerne bei ihr wäre, den Geruch ihrer Haare vermisste, sie liebte. Hoffnungen und Träume sprudelten nur so aus ihm heraus, rasten durch die Venen in seinem Arm und verwandelten sich in schwarze Tinte, die in das dicke Papier sank. Seite um Seite füllte sich und es schien als gäbe es nicht genug davon für all die Gedichte und Liebesschwüre. Und obwohl es ihm das Herz leichter machte, liefen Leo mit einem Mal Tränen über die Wangen, tropften glitzernd auf das Papier und vermischten sich mit der noch feuchten Tinte.
Manchmal, in der Nacht, glaube ich, dich atmen zu hören, doch drehe ich mich um, bist du nicht da. Meine Arme suchen nach dir, wollen dich festhalten, dich streicheln, doch sie finden dich nicht. Die Zeit scheint stillzustehen. Es ist nur noch eine Erinnerung, die in diesen Wänden haust, allein, zurückgelassen. All das was war ist vergangen. Ich bete, dass es dir gut geht.
Die Sonne erwärmte Leos Gesicht, als er hinaus auf die Straße trat. Vor dem Café saßen ein paar Leute beim Frühstück. Sie lachten, tranken Tee und genossen ihre frischen Brioche in vollen Zügen. Für Leo war Genuss fremd geworden. Wenn er aß, dann schnell und nur sehr wenig. Das Gemüse schien ihm farblos, der Geschmack von Früchten bitter. Und obwohl sein Leben aller Freude beraubt worden war, ein Funken Hoffnung blieb, tief in seiner Brust. Er konnte Kairi nicht einfach gehen lassen. Zu lange hatten sie gemeinsam gekämpft, zu viel Leid hatte er bereits mitansehen müssen, hilflos danebenstehend, ohne sie auch nur berühren zu können.
Leo stieg in ein Taxi dessen Fahrer die Augen kaum offen halten konnte.
„Wissen Sie was das schlimmste an Paris ist, Monsieur? Der Wein schmeckt hier einfach viel zu gut!“ Darauf lachte er heiser, wandte sich zu Leo und sah den Ausdruck in dessen Gesicht: „War nur ein Scherz Monsieur, nichts für ungut. Zum Krankenhaus?“
Nach kurzer Fahrt wurde der alte Mann langsam munter.
„Ich fahre Sie nun schon seit einiger Zeit, Monsieur. Darf ich fragen wie Sie heißen?“ Er bekam ein knappes „Leo“ zur Antwort. Daraufhin richtete er sich etwas in seinem schmalzigen Sitz auf, wischte die restliche Müdigkeit aus seinen unterlaufenen Augen und fragte interessiert weiter: „Sind Sie Arzt, Monsieur, oder besuchen Sie dort jemanden?“
Leo tat, als hätte er ihn nicht gehört, doch der Alte gab sich damit nicht zufrieden.
„Sie wollen wohl nicht darüber reden wie?“
Er musterte Leo eine Weile in seinem Rückspiegel.
„Wissen Sie, meine Frau ist vor vielen Jahren gestorben. Sie war monatelang ans Bett gefesselt. Die Krankheit hat sie langsam dahingerafft. In ihren letzten Tagen hat sie mich noch nicht einmal mehr erkannt. Der Tod eines Menschen ist etwas schreckliches, aber manchmal, Monsieur, kann er auch eine Erlösung sein.“
Leo war verwirrt, sogar verärgert.
„Wieso erzählen Sie mir das? Was hat das denn mit mir zu tun?“
Der Fahrer seufzte unmerklich.
„Wissen Sie, Monsieur, Sie sahen einen Moment lang so traurig aus, entschuldigen Sie.“
Leo schwieg.
Hattest du jemals Zweifel an meiner Liebe zu dir? Ich könnte es dir nicht verdenken, noch würde ich dich dafür verurteilen. Liebe hat so viele Gesichter, oft ist sie verhüllt hinter einem Schleier aus Furcht, dann sind Tränen ihre Stimme. Und manchmal hatte ich das Gefühl, die Vermutung, unsere Liebe könnte dadurch zerbrechen, ganz leise. Meine Liebste, niemals könnte ich ohne dich sein.
Das Taxi hielt. Wortlos bezahlte Leo die Fahrt und stieg aus. Der Alte blickte ihm noch eine Weile nach, wie er die Stufen zum Haupteingang emporstieg und hinter den großen Türen des Krankenhauses verschwand. Dann holte er ein kleines Foto aus dem Handschuhfach, auf dem ein junger Mann an einer Bar saß, den Arm um seine Geliebte geschlungen, als wolle er sie nie wieder loslassen. Ein sanftes Lächeln überflog das Gesicht des alten Fahrers, verwandelte sich in Wärme, schoss durch seinen Körper und bereitete ihm eine wohlige Gänsehaut. Er erinnerte sich an die schwere Zeit, die Trauer, die Wut, und obwohl es ihn schmerzte wurde die Wärme stärker, denn am meisten erinnerte er sich an die Liebe.
Ich bin auf dem Weg zu dir, voller Sehnsucht nach deiner Berührung. Ich kann es kaum erwarten dich zu sehen und dir diesen Brief zu geben. Niemals zuvor habe ich einen Menschen gesehen, der mit so großer Hingabe lebt, der soviel Schönheit in seiner Seele trägt. Selbst in dunkelster Stunde warst du für mich da und dafür danke ich dir, dafür schenke ich dir mein Herz, auf ewig. Doch jetzt ist es an mir dich glücklich zu machen, dich aus der Dunkelheit zu befreien. Die Zeit ist gekommen, in der ich für dich stark sein kann.
Leo eilte durch die langen Gänge in Richtung Intensivstation. Alles um ihn herum schien verschwommen, blieb im Schatten zurück. Nur das Licht am Ende des Flurs wurde stärker. Es kam aus dem Zimmer mit der Nummer 12, Kairis Zimmer. Leo war voller Erwartung, stolzierte wie ein Ritter, der Held aus Kairis Träumen, mit Schwert und Schild. Es kam ihm vor wie der Tag am See, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Hinter den Eichen am Ufer des Sees lag ein Wesen, das man ohne zu zögern als wundervoll bezeichnen konnte. Ich wußte nicht wie mir geschah, war verschüchtert und verzaubert zugleich, denn Anmut zeigte sich mir in ihrer reinsten Form, zart und hell. Der Beginn eines Märchens, die Geschichte zweier Menschen deren Seelen füreinander gemacht waren, für die Ewigkeit.
Leos Herz raste, konnte es nicht mehr erwarten sie zu sehen, ihre Hand zu berühren. Doch noch bevor er das Ende des Ganges erreicht hatte, trat eine junge Frau aus dem Zimmer. Sie schien schwach, taumelte etwas, stütze sich an der Wand. Kairi stand auf dem Flur, mit nichts weiter als einem weißen Hemd an ihrem Körper, das Haar trocken wie Stroh, die Haut weiß wie Schnee und doch zeigte sich ein Lächeln auf ihren Lippen. Leo war außer sich vor Freude, seine Schritte wurden schnell und groß und er rannte zu ihr, nahm sie ihn seine Arme, während Tränen über sein Gesicht liefen.
Ich will dir zeigen, wie wertvoll du für mich bist. Denn selbst wenn du dieses Gefängnis nicht verlassen kannst, so will ich ab sofort dafür sorgen, dass du die Dinge wieder siehst, durch die Wände deines gläsernen Zimmers. Unsere kleine Wohnung, das Café mit dem alten Geiger, die Eichen am See und das Meer deiner Kindheit, das an die Klippen brandet, mit all seiner Kraft.
Eine Hand packte Leo an den Schultern und riss ihn zurück. Einer der Ärzte war gekommen um ihn von der Krankenschwester loszureißen, die sich sogleich panisch in eine Ecke drängte. Leo wurde wütend, schrie und schlug um sich, denn nur Kairi war für ihn wichtig. Doch durch die Spritze wurden seine Knie weich und schließlich sank er zu Boden.
Kairi, meine Liebste, ich brauche dich so sehr. Ich möchte, dass du mich berührst. Ich möchte, dass du mit mir sprichst, mich küsst. Dass du mich anschreist oder mich schlägst, nur mach, dass ich mich lebendig fühle.
„Können Sie mich hören?“, rief eine Stimme durch die Dunkelheit. Das Licht blendete Leo und er schloss die Augen, war für einen Moment im Schlafzimmer seiner Wohnung, blinzelte, und befand sich wieder auf dem Bett am Rande eines farblosen Krankenhausflurs. Ein Mann hatte sich über ihn gebeugt und betrachtete ihn mit ernster Mine.
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Wir gehen in mein Büro.“
Langsam kam Leo zu sich. Der Arzt geleitete ihn in einen kleinen Raum und schloss die Tür.
„Setzen Sie sich, Leo.“ Dieser war zu benommen um sich zu fragen, woher dieser Mann seinen Namen kannte.
„Sie erinnern sich doch noch an mich, oder?“, fragte der Arzt nach. Endlich fand Leo seine Stimme wieder: „Nein, das tue ich nicht. Woher auch, ich habe Sie noch nie gesehen!“
Der Doktor schien in keinster Weise verwundert und fuhr mit ernstem Ton fort: „Versuchen Sie sich zu erinnern, Leo. Ich bin Dr. Brehón, ich habe Ihre Frau behandelt, wissen Sie nicht mehr?“
Leo wurde wütend: „Wo ist Kairi? Wieso lassen Sie mich nicht zu ihr? Ich will sie sehen! Sofort!“
Der Arzt blieb regungslos, klang nun jedoch besorgt: „Aber Leo, wie oft muss ich es Ihnen noch sagen? Ihre Frau ist gestorben, vor vielen Tagen schon. Es tut mir Leid Ihnen das noch einmal klar machen zu müssen, hören sie? Leo? Hören Sie mich?“
Am nächsten Morgen stand der alte Taxifahrer wieder an der üblichen Ecke in der Nähe des kleinen Cafés und las gemütlich seine Zeitung. Doch an diesem Morgen kam Leo, so hieß der junge Mann, den er seit einiger Zeit täglich zum Krankenhaus gefahren hatte, nicht. Gerade als der alte Mann seine Zeitung zusammenlegte, bemerkte er etwas auf dem Rücksitz seines Taxis. Es war ein Brief. Er trug keine Aufschrift, der Umschlag war noch nicht einmal zugeklebt und so beschloss der Alte, einen Blick hinein zu werfen. Während seine Augen über die Zeilen huschten konnte man ein schwaches Funkeln darin erkennen. Zutiefst gerührt von Leos Liebe zu Kairi dachte er voller Sehnsucht an seine Frau, die ihm die ganze Nacht nicht aus dem Kopf gegangen war. Vielleicht würde er nach seinem Dienst endlich einmal wieder ihr Grab besuchen, dachte er, während er die letzten Zeilen des Briefes las.
Sei dir gewiss, all das was ich dir nicht sagen konnte schrieb ich in diesen Brief. Was immer auch passieren mag, ich werde dich niemals vergessen. Denn ich kann dich sehen, hinter dem Glas. Und glaube mir, ich erinnere mich an dich. Ich erinnere mich.
In Liebe, Leo
Ende