Dazugehören
Dazugehören
Verflucht. Er rannte wie ein Wahnsinniger. Das stete Klopfen seines Herzens im Sekundenschlag und die brennenden Lungen kündeten das nahe Ende dieses Laufes an. Das Ende...
Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Michi war auf eine Party eingeladen worden. Natürlich würden dort alle älter sein als er und alle dort wären schon ‚richtige’ Männer, aber er wollte trotzdem oder gerade deswegen dahin. Er war in der Schule nicht sehr beliebt. Unsportlich und Asthmatiker. Unsportlich, weil Asthmatiker. Sein Asthma war an fast allen Fehlschlägen seines Lebens schuld. Er wusste, es würde ihn eines Tages umbringen, auch wenn kaum einer je direkt daran gestorben war.
Doch dieses eine Mal hatte sein Asthma ihm geholfen. So hatte er Tobias kennen gelernt, der ebenfalls Asthma hatte. Und Tobias war definitiv kein Versager wie er. Er war cool. Er hatte diesen Nimbus der Unnahbarkeit. Als ginge ihn gar nichts etwas an. Und er war älter als Michi. Er rauchte. Er war irre mutig, beliebt bei den Mädchen und trotz seines Asthmas sportlich.
Kurzum: Alles was Michi sich je erträumt hätte. Und er war auf Michi aufmerksam geworden, als dieser wie üblich von zwei Vollassis gedisst wurde.
Sürban und Olek waren Arschlöcher. In jeder Hinsicht. Sie waren genauso alt wie Michi und hatten schon längst alles, was einen zum richtigen Mann machte. Sie hatten Barthaare und auch am Sack hatten sie Haare, wo man auch hinsah. Sürban rasierte sie sogar schon weg. Michi betrachtete die Beiden beim Sport oft mit einer Mischung aus Neid und Verachtung. Warum konnte er nicht so viele Haare haben. Dann wären sie bestimmt nicht so arschig zu ihm. Würden ihm Geld abzocken und noch schlimmere Dinge tun.
Einmal hatte er den Fehler gemacht, beim Umziehen zu lange zu brauchen. Noch jetzt wachte er manchmal auf und sah jede rasierte Stelle so nah vor seinen Augen, dass er die Poren der Haut erkennen konnte. Roch diese Mischung aus Schweiß und etwas Fischigem. Manchmal passierte es auch tagsüber. So wie jetzt, als die Beiden ihn anrempelten und anfingen, ihn zu beschimpfen. Sürban strömte den Geruch seiner Männlichkeit aus. Michi wusste, sie würden hier nicht tun, was sie in der Umkleide getan hatten, aber verdroschen zu werden war wenig tröstlicher.
Und da schritt er ein. Tobias kam rüber, packte die Beiden von hinten an den Haaren und schlug ihre Köpfe gegeneinander. Dann krallte er sich Michi und zog ihn weg von den Beiden zu Boden sinkenden Gestalten. Sie unterhielten sich, Michi hörte fast nicht auf sich zu bedanken und Tobias lud ihn überraschend zu einer Party ein. Eine richtige Party. Seine erste Party. Michi konnte sein Glück kaum fassen.
Nachdem er und Tobias sich getrennt hatten, weil Michi heim musste, verlor er sich in Tagträumen. Er würde nach der Party respektiert werden. Vielleicht müsste er sich dann auch rasieren und wäre keine Jungfrau mehr. Daheim aß er schnellstmöglich und verschwand auf sein Zimmer. Er würde noch ein bisschen üben, bis er keine Jungfrau mehr war. Er dachte daran, wie beliebt und mächtig er sein würde, während er sich streichelte. Er malte sich aus, wie er sich an Olek und Sürban rächen würde. Er kam immer nur bis zu dieser Stelle. Dann explodierte er förmlich und lehnte sich erschöpft und heftig atmend zurück. Er würde einmal cool sein und keiner könnte ihn dann mehr dissen. Alle würden ihn mögen und angekrochen kommen.
Er duschte. Betrachtete sich vor dem Spiegel. Sah auf seinen kaum behaarten Schritt. Seinen viel zu kleinen Pimmel. Er drehte den Spiegel um. Bald. Er zog sich um. Ganze sechs mal. Packte noch ein paar Sachen ein, die er seiner Meinung nach brauchte und schlich sich schnell raus. Sein Alter war eh mal wieder zu besoffen, um irgend was zu rallen. Und seine Mutter würde erst in einer halben Stunde von ihrem zweiten Job heim kommen.
Jetzt würde es losgehen. Der letzte Tag in seinem Leben als Fünfzehnjähriger, in dem man ihn noch Kind nennen durfte. Ab morgen wäre er ein Mann. So cool wie Zorro der Batman. Dann könnte er tun und lassen, was er wollte und bräuchte sich nichts mehr sagen zu lassen.
Er war zu früh dran, denn die Party sollte erst in zwei Stunden losgehen. Tobias hatte ihn aber ausdrücklich eingeladen, früher bei ihm vorbei zu kommen. Er würde ihn dann mit zu der Party nehmen. Und so stand Michi vor seinem Idol, das in Shorts und T-Shirt die Tür öffnete und sich im Schritt kratzte. Er wirkte verschlafen und raunte Michi zu: „Im Kühlschrank ist Bier. Mach mal zwei auf.“ Dann schlurfte er wohl ins Badezimmer.
Michi suchte und fand die Küche, denn die Wohnung war nicht so groß. Er holte zwei Bier raus und machte sie auf. Sein Alter trank Bier und er hatte es auch schon mal probiert. Es schmeckte ihm nicht, aber es war nun mal cool, Bier zu trinken. Außer man war Michis Alter. Dann war es nur peinlich. Als Tobias in die Küche kam, immer noch in Shorts und T-Shirt, schaute er Michi verwirrt an. „Wer hatn Dich reingelassen?“, fragte er und Michi meinte nur: „Du.“. Er war etwas irritiert. Tobias nahm sich eine Schüssel, füllte Müsli ein und dann das Bier. Er bewegte sich komisch und sein Blick war seltsam glasig. Aber nicht, wie bei seinem Alten. Einen kurzen Augeblick bröckelte das Bild seines Helden.
Tobias schaute ihn an, lächelte und sagte: „Freust Du Dich schon auf die Party? Wir werden bestimmt nen riesen Spaß haben. Meine Kumpel mögen so Kerle wie Dich.“ Dabei stieß er Michi gegen die Schulter, ohne eine Antwort zu erwarten. Er bot Michi eine Kippe an und nahm sich selbst eine, als dieser ablehnte. Dann baute er sich eine Tüte, was er sehr geschickt machte und bot Michi auch hiervon etwas an. Diesmal probierte Michi, was in einem Hustenanfall und leichtem Schwindelgefühl endete. Tobias brachte ihm bei, wie man es richtig machte und Michi musste schon bald nicht mehr husten. Die Zeit verging wie im Flug, während sie vor der Glotze saßen.
Zwischenzeitlich hatte sich Tobias auch etwas angezogen. Komplett schwarz.
Kurz darauf kamen sie zur Party. Tobias war gefahren. Es war irgendwie komisch. Er hatte sich eine Party anders vorgestellt. Hier waren keine Mädels. Und die Typen hatten alle kaum etwas an, was wahrscheinlich an der Hitze und Stickigkeit lag. Es wurde ein großer Kelch rumgereicht, mit einer blubbernden Flüssigkeit darin. Auch Michi nahm einen Schluck von der fast schwarzen Flüssigkeit, schließlich war er kein Kind mehr und schon gar kein Weichei. Die Musik war irgendwie seltsam. Fremdklingende Melodien, erinnerte ihn irgendwie an Kirche, aber war auch irgendwie anders. Er war ja auch erst einmal mit der Schule da, also konnte er es nicht ganz so gut unterscheiden. Seine Gedanken flogen dahin.
Die Kerle um ihn herum hatten nur noch Unterhosen an und auch Michi war entkleidet. Er wusste gar nicht mehr, wann er sich ausgezogen hatte, aber es war ihm auch nicht wichtig. Er war dabei. Gehörte zu ihnen. Wieso hatten sie so komische Schnitte an den Armen? Wieder kreiste der Kelch. Es schmeckte süß und leicht metallisch. Michi musste lachen, er wusste nicht warum.
Er erwachte unter Schmerzen. Alles tat ihm weh. Es dauerte einen Moment, bis das Gefühl von Taubheit und Benommenheit von ihm abfiel. Er versuchte sich zu orientieren, als ihn eine Welle des Schmerzens überrollte. Eine Panikattacke drohte ihn zu überkommen. Er atmete heftig und tastete auf dem Boden, fühlte Fleisch, das nicht seines war und schließlich den Stoff seiner Hose. Asthmaspray wurde inhaliert. Er beruhigte sich. Er war nackt und lag neben einem wildfremden Mann. Wieso zur Hölle war er nackt? Er hatte sich nicht selbst ausgezogen, oder?
Er versuchte sich aufzurichten. Seine rasenden Kopfschmerzen ließen ihn daran zweifeln, dass das eine gute Idee war. Er stöhnte auf. Sein Mund war völlig ausgedörrt. Seine Hanf und Fußgelenke schmerzten. Seine Lippe war geschwollen. Er hatte Schnitte auf den Armen und er hatte Schmerzen in seinem Arsch, die ihm Höllenqualen bereiteten. Tobias lag auch da. Nackt. So wie alle Anderen. Was war nur geschehen. Ihm war elend zumute und er hätte am liebsten geschrieen, doch irgendwas hielt ihn zurück. Er schaffte es, sich unter großer Anstrengung aufzurichten. Es war dunkel. Er stolperte dahin, wo er das Bad vermutete und klaubte seine Sachen auf. Oder irgendwelche Sachen.
Dort im Bad angekommen, trank er erst mal gierig. Auch das Schlucken tat weh und schmeckte säuerlich. Als er kacken musste, brannte es höllisch. Alle Muskeln taten ihm weh. Selbst sein Pimmel. Die Schnittwunden auf seinen Armen waren mit Grind verkrustet. Als er das Blut in der Badewanne sah, wurde ihm vollends übel. Irgendetwas war hier überhaupt nicht mehr cool. Er wollte weg. Fliehen. Sein Gesicht brannte, als das salzige Wasser auf die Lippe rann.
Er zog sich an und verließ die Wohnung. Dunkelheit und Kälte versprachen Linderung. Plötzlich hörte er seinen Namen. Dann ein Ruf: „Lasst ihn nicht entwischen.“ Und er rannte los. Er rannte voller Panik, so schnell wie er noch nie gerannt war. Alles war so unwirklich. Und doch holte ihn die Realität ein. Und seine Verfolger. Verflucht.
Das Ende kam unerwartet. Ein Stechen in seinem Herzen, das Brennen in seiner Lunge. Er sackte einfach zusammen. Als er wieder zu sich kam, wähnte er sich in der Hölle. Sein verschwommener Blick nahm dunkelrote Leiber wahr, die um ihn tanzten. Unerträglich Hitze und das harte Klatschen von Körper gegen Körper. Der Blutverlust ließ in wieder in die Bewusstlosigkeit sinken. Das letzte, was er wahrnahm war Tobias, der neben seinem Ohr hauchte: „ Du gehörst jetzt dazu, das doch dein größter Wunsch.“
Man fand seine Leiche nicht. Aber alle wussten, dass er tot war. Einer von Tobias’ Gefolge hatte gestanden. Doch was er erzählte war so grausam, so ungeheuerlich, dass man beschloss, eine Decke des Schweigens darüber zu breiten. Man ließ verlauten, Michi sei an einem Asthmaanfall gestorben.