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„Mensch, Alter. Was ist das für’n Zeug?“ Ich betrachtete das grünlich schimmernde Pulver, das Sven mit seiner Bankkarte zurechtschob.
„Das Neueste und Beste, was du zurzeit am Markt kriegst.“
Ich beugte mich vor. „Man snieft es?“
„Du kannst es dir auch unter die Vorhaut schieben.“
Ich grinste, obwohl mir irgendwie heute nicht nach scherzen zumute war; ich wusste auch nicht, warum ich mich mit Sven getroffen hatte, auch danach war mir nicht zumute.
Wir befanden uns in meiner Wohnung im obersten Stockwerk, mein träger Blick wanderte zu dem großen Fenster mit dem Balkon dahinter, und ich erkannte in der langsam hervorkriechenden Abenddämmerung die Dächer einiger umstehender Hochhäuser. Scheiß Plattenbauten. Irgendwann werde ich von hier verschwinden; irgendwann, wenn ich Sven nicht ständig Kohle für sein scheiß Zeug in den Rachen werfen musste. Aber eigentlich tat ich es ja freiwillig.
Und dafür hasste ich mich; zumindest im Augenblick.
Sven hatte unterdessen seine Arbeit beendet und teilte die Line in zwei Hälften. In zwei äußerst kleine Hälften, wie ich fand.
„Sag nicht, das ist für uns beide.“
Sven grinste mich an, schob das silberfarbene Röhrchen rüber. „Es ist für uns beide.“
Vor meinen Augen pendelten die dünnen Stäbe des Bambusvorhangs, der mir als Tür zum Flur diente; die filigranen Halme schwangen sanft, als würden sie durch einen stetigen Wind bewegt. Wann war ich aufgestanden?
Ich blickte zurück, sah Sven mit ausgestreckten Armen und zurückgelegtem Kopf im Wohnzimmersessel liegen. Sein linkes Bein wankte hin und her. Auf dem niedrigen Tisch lag das silberfarbene Röhrchen. Die Kerze war abgebrannt, und lediglich auf dem Boden neben dem Fernseher stand ein großes Glas mit einer weiteren Kerze darin, deren Licht den Raum mit einem dichten Teppich aus Schatten überzog.
Wie lange ich wohl weg gewesen war? Draußen war es mittlerweile stockdunkel, so dass ich nicht einmal die umstehenden Hochhausdächer sehen konnte. Ein gähnender Abgrund, der vor dem Balkon lauerte und mich schaudern ließ. Ich musste pinkeln, schob die Bambusstäbe des Vorhangs auseinander und ging über den langen Flur zum Bad.
Das Gehen tat in den Oberschenkeln weh, und als ich mich auf der Schüssel niederlassen wollte, bemerkte ich erst, dass ich nur noch mit meiner Unterhose bekleidet war. Sven wird doch wohl nicht …
Zwei Teelichter standen auf dem Rand der Badewanne. Ich konnte mich nicht erinnern, sie dorthin gestellt zu haben. Ich konnte mich noch nicht einmal erinnern, jemals Teelichter besessen zu haben.
Mich fröstelte.
Während der Strahl mit einem Gefühl der Erleichterung meinen Körper verließ, stieß ich laut auf. Ein bestialischer Gestank schlug mir entgegen und ich wich mit dem Oberkörper zurück. Ich führte die Hand zum Mund und hauchte dagegen.
„Pah!“ Es war widerlich. „Alter!“, brüllte ich. „Was war das für’n scheiß Zeug?“
Erneut nahm mir der Gestank meiner Worte beinahe den Atem. Neben den Teelichtern lag eine Schachtel Marlboro und ein Feuerzeug. Hastig steckte ich mir eine an, inhalierte tief. „Sven!“
Ich meinte, ein Krächzen aus dem Wohnzimmer zu hören, doch es war so kurz, wie der Zug an meiner Zigarette. Für einen Moment wurde mir schwindelig. Als ich nach dem Toilettenpapier griff, stieß ich gegen den Halter – ganz leicht nur - und riss mir die Haut des Zeigefingers auf. Blut tropfte auf die weißen Fliesen. „Fuck Scheiß!“
Aus dem Wohnzimmer drang wieder dieses Krächzen herüber. Es klang wie ein Gurgeln ohne Wasser. Dann war es wieder still.
„Sven! Scheiße, was ist da los?“
Ich zog meine Unterhose hoch, wickelte etwas Papier um den blutenden Finger und fluchte noch mal, als mir glühende Asche auf den Unterarm fiel.
Ich riss die Badtür auf und verharrte. Alles war dunkel, und das Flackern der Kerze aus dem Wohnzimmer wirkte wie ein schleichendes, fast unsichtbares Reptil, das die Dunkelheit des Flurs nicht durchdringen konnte.
Schwach glimmte die Zigarette in meinem Mundwinkel. Stand da etwas?
Ganz hinten am anderen Ende meinte ich einen etwa halben Meter großen Gegenstand auszumachen. Gewöhnlich befand sich nichts in meinem Flur; es war halt lediglich ein Durchgang. Wahrscheinlich spielte mir diese scheiß Droge einen Streich, und doch breitete sich ein heißes Kribbeln in meinem Nacken aus. Das Ding wirkte irgendwie bedrohlich, vielleicht weil es eigentlich gar nicht bedrohlich war. Es war nur so verdammt dunkel.
Ich starrte auf dieses gedrungene Etwas. „Sven?“ Es war mehr nur ein Flüstern. Wieder stieg mir dieser penetrante Gestank entgegen. Ich konnte noch nicht einmal sagen, wonach es roch. Es war nur das Ekeligste, was je meine Nase passiert hatte.
Jemand gurgelte wieder. Es klang weit weg, hohl. Ich fror, wich ein Stück zurück und stieß mit dem Rücken gegen das Waschbecken. Etwas kitzelte meine Arschritze hinunter, und als ich danach griff, spürte ich eine fettige Flüssigkeit zwischen meinen Fingern.
Ich versuchte, im Schein der Teelichter zu erkennen, was mir da den Rücken hinunterlief, als sich dieser gebückte Schatten langsam in Bewegung setzte. Wieder dieses Gurgeln.
„Bleib stehen!“, kreischte ich in den Flur. „Sven!“
Alles begann sich zu drehen, das diffuse Licht wurde dunkler, driftete ins Unendliche.
Mein Rücken schmerzte, als ich träge die Augen aufschlug. Sven hing mir gegenüber in dem Sessel, sein Bein pendelte nicht mehr. Es knirschte in meinem Genick, als ich den Kopf drehte, und jetzt stellte ich fest, dass ich wieder auf meinem Sofa saß. Draußen war es hell, und eine dicke Wolkenschicht raste über das Firmament. Die Fensterscheibe der Balkontür war nass.
Mein Schädel brummte dermaßen, dass ich das Gefühl hatte, er müsste bei jedem Atemzug bersten. Wieder blickte ich zu Sven, der nur in Shorts bekleidet wie ein Gekreuzigter im Sessel hing. Seine Augen waren geschlossen, der Mund stand auf, und ein im tristen Tageslicht schimmernder Speichelfaden glänzte an seiner Wange.
„Alter Schwede“, brachte ich krächzend hervor. „Was für’n scheiß Zeug.“
Mein Finger pochte und nur mühsam brachte ich es zustande, meinen Arm zu heben. Das Toilettenpapier, das um den Zeigefinger gewickelt war, wies eine bräunlich verkrustete Färbung auf. Hämmernd schlug mein Herz gegen die nackte Brust, als ich mich an dieses Ding im Flur erinnerte.
Die dicke Kerze im Glas neben dem Fernseher bestand nur noch aus einem kleinen Klumpen Wachs. Wie lange lagen wir hier schon? Draußen prasselte jetzt Regen gegen die Scheiben. Dumpf drang jeder Tropfen zu mir herüber.
Ich beugte mich mühsam nach vorn, schrie, als ein Reißen an meinem Rücken eine Schmerzwelle durch meinen Körper jagte. Gegen irgendwas war ich im Bad mit dem Rücken gestoßen.
„Scheiße, Sven. Wach auf!“
Er bewegte sich nicht. Ein dumpfer Verdacht kroch in mir empor. Lebte er noch?
„Sven?“ Das Rufen brannte in meinem Hals, und ich stellte fest, dass mein Mund so trocken war, wie das Klopapier um meinen Finger.
„Das Neueste und Beste, was du zurzeit am Markt kriegst“, hörte ich Svens Stimme hinter meiner Stirn.
„Ein Dreck ist es. Ich hab noch nie so einen scheiß Trip gehabt.“
Als es draußen dunkel wurde, kam auch wieder der Gestank.
Noch immer konnte ich mich nicht richtig bewegen, noch immer hatte Sven sich nicht gerührt. Mein Kopf brummte stetig, und vor einiger Zeit – es schien mir eine Ewigkeit her – hatte ein Brennen in meinen Augen eingesetzt, das inzwischen so schlimm war, dass ich sie nur noch selten öffnen konnte.
Bald musste es doch vorbei sein, besser werden. Ich hatte das Gefühl, mich bei der kleinsten Bewegung übergeben zu müssen, überlegte, nach meinem Handy zu suchen, einen Arzt zu rufen. Nicht jetzt.
Bald musste es besser werden ...
Irgendwann später – sehr viel später – hatte ich mich sogar an den Gestank gewöhnt, und als ich es endlich mal wieder schaffte, die Augen zu öffnen, ohne das Gefühl zu haben, sie würden augenblicklich zerplatzen, erkannte ich, dass Sven tatsächlich tot sein musste.
Er hatte seine Lage noch immer nicht verändert, wohl aber war eine Veränderung in seinem Gesicht aufgetreten. Die Haut war eingefallen, und der offene Mund bleckte die Zähne wie ein tollwütiger Köter. Die übrige Haut seines Körpers hatte einen gräulichen Schimmer angenommen. Ich drehte den Kopf in Richtung des Fensters.
Es wurde Tag, es wurde Nacht, und wieder Tag. Immer wieder, während Sven mir gegenüber verweste. Ich hörte das Surren der Fliegen, die mittlerweile seinen Kadaver in einen schwarz vibrierenden Klumpen verwandelt hatten.
Ich wollte weinen, doch stattdessen hoffte ich nur, dass es bald besser werden würde. In absehbarer Zeit würde dieser Trip vorbei sein. Es konnte nicht mehr lange dauern.
Ein leises Gurgeln neben mir ließ mich innerlich zusammenzucken. Bewegen konnte ich mich nicht mehr. Es war heiß an meinen Beinen, brennend heiß.
„Sven?“
Stille.
Ich drehte den Kopf. Es dauerte Stunden. Oder Tage?
Irgendwann sah ich meinen Arm, das welke Fleisch, grün schimmernd, wie der Stoff, den wir gesnieft hatten. Dazwischen der Knochen. Fliegen hatten sich zwischen den verwesenden Fasern niedergelassen, gingen ihrer einzigen Daseinsberechtigung nach, die nur darin bestand, ihre Brut in mein Fleisch zu drücken. Ich blickte hinüber zu Sven, dessen offene Augen zur Decke starrten.
Sein rechter Arm war verschwunden, das fade Fleisch seines Schultergelenks erinnerte mich an ein mit Schimmel befallenes Brot. Ich wollte schreien, einfach nur diesen irren Anblick wegschreien. Was ging hier vor?
Warum kam niemand, um uns zu helfen? Für einen kurzen Augenblick dachte ich an die Nachbarn. Hatte ich überhaupt welche? Eine ältere Frau hatte ich mal draußen auf dem Flur gesehen, zu kurz für einen Gruß. Ich hasste die Anonymität dieser scheiß Siedlung, die ich damals so liebte. Ich hasste dieses scheiß Zeug, dass ich mir durch die Nase gejagt hatte, und ich hasste Sven.
Meine Gedanken waren träge. Ich schloss die Augen.
Das erste, was ich sah, als ich sie wieder öffnete, war, dass Svens Kopf nach vorn geneigt war. Er blickte mich aus toten Augen an. Sein Mund stand offen, und ein Speichelfaden hing herab. Wie war das möglich? Wir starrten uns in die Augen. Hatte er gerade geblinzelt?
Auch sein linker Arm war verschwunden; schwarze Hautlianen hingen herab wie ein nasser Vorhang.
Ich spürte einen Griff an meinem Bein. Ein gurgelndes Hauchen. Jemand zog daran, hauchte und zog. Ich wollte hinabblicken, doch es ging nicht. Jetzt setzte auch wieder das Brennen in meinen Augen ein. Grinste Sven herüber?
Das Beinziehen wurde fester, ein Rucken, ein kurzes Schmatzen, ein kaltes Gefühl in meiner Leiste. Etwas fehlte. Die Fliegen stoben auf, das Surren ihrer Millionen Flügel übertönte das Hauchen, übertönte die winzigen tapsenden Schritte, die sich gurgelnd entfernten.
Irgendwann schaffte ich es, hinabzublicken. Eines meiner Beine fehlte, und tausende von gelb schimmernden Maden wimmelten auf dem Sofa.
Als es wieder dunkel war, kam das Hauchen zurück. Es waren viele. Diesmal zogen sie am anderen Bein. Es ging schneller, fühlte sich danach genauso kalt an.
Mein Körper kippte zur Seite, irgendwann, ganz langsam, bevor sie wiederkamen.
Ja, es waren eindeutig mehrere. Wie die Fliegen. Sie griffen nach meinen Armen, zogen sie mit Leichtigkeit aus den Gelenken. Ich konnte nicht sagen, ob es der gleiche Tag oder die gleiche Nacht war. Ich hörte nur ihr Hauchen.
Sven hatte den Mund geschlossen, starrte noch immer herüber.
Etwas fasste meinem Kopf.