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Deadman’s Forest – 1992
Marc und John verabschiedeten sich von ihrem Freund Walter St.George. Es war etwa 21 Uhr und die Sonne war bereits untergegangen. Etwa 100 Meter von der Haustür der St.Georges entfernt fragte der 12 jährige Marc seinen zwei Jahre jüngeren Bruder, ob sie die Abkürzung durch den Wald nehmen wollten.
„Ich habe gehört, dass dort der Geist eines Mannes umgehen soll, der im letzten Jahrhundert von einer aufgebrachten Menge mit Äxten ermordet worden ist“, sagte John.
„Mein Gott, John, du glaubst doch nicht etwa diese Märchen?“
„Doch die glaube ich, Großmutter hat es mir erzählt.“
Echte Furcht stand in seinen Augen.
„Okay, wenn du Schiss hast, dann gehe ich eben alleine.“
So etwas wie Erleichterung stand in seinen Augen. Marc konnte ja nichts passieren, schließlich war er sein großer Bruder.
„Mal sehn, wer als Erster zu Hause ist“, sagte er frech.
„Gut, aber es wird nicht gerannt“, sagte Marc ernst.
„Einverstanden.“
Sie liefen einen Moment freundlich schweigend neben einander her.
Als sie die Abzweigung des Pfades erreichten, bog Marc in den Wald ab und John blieb auf der Straße.
Marc dachte über das nach, was sein Bruder gesagt hatte. Der Pfad wurde nur schwach vom Mondlicht beleuchtet und der Wald stand wie zwei schwarze Wände auf beiden Seiten des Pfades.
Plötzlich wollte er umkehren. Beruhig Dich, rief er sich zur Ruhe. Das einzige, was um diese Zeit durch den Wald strich, waren ein paar Rehe und Nagetiere, und natürlich er.
Er zuckte zusammen, als er es neben sich im Dickicht knacken hörte. Ein kleiner Schatten huschte über den Weg. Das war nur ein Tier, dachte er und glaubte seinen eigenen Gedanken nicht. Dieses laute Knacken konnte nicht von einem so kleinen Tier ausgelöst werden. Außerdem schien es, als sei der kleine Schatten vor irgendetwas auf der Flucht gewesen.
Seine Füße begannen ihn schneller zu tragen, ohne dass er sich dessen bewusst war.
Als er vor sich etwas aufblitzen sah, blieb Marc abrupt stehen. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten und kam auf ihn zu. Sie hielt etwas in der Hand, das in einem warmen Lichtschein funkelte. Marc starrte gebannt in dieses sanfte Glühen und vergaß darüber Zeit und Raum. Die Gestalt war jetzt nur noch zehn Meter von Marc entfernt. Er erkannte auf eine ganz sachliche Art und Weise, dass es eine Axt war, die das Wesen trug. Sie war es, die sanft vor sich hin glühte und das bewusste Denken in seinem Kopf einlullte.
Langsam kroch die Geschichte seines Bruders durch seine vernebelten Gedanken und aktivierte sein Angstzentrum. Mit viel Anstrengung löste er den Blick vom wunderschönen Leuchten der Axt. Sofort schoss ein Schub Adrenalin durch seinen Körper. Marc erkannte womit er zu tun hatte und warf sich herum, um zurück zur Straße zu laufen. Nach wenigen Schritten hörte er, dass das Wesen hinter ihm die Verfolgung aufnahm. Laut brach es durch den Wald. Äste knackten und ein kleiner Baum stürzte geräuschvoll um.
Der Wald sah anders aus und Marc verlor den Pfad aus den Augen. Die Gestalt folgte ihm. Deutlich konnte er ihre Schritte hören. Marc lief. Äste schlugen ihm ins Gesicht und er stolperte über Wurzeln, die wie hungrige Hände nach ihm zu greifen schienen. Er rannte schneller, als er jemals zuvor gerannt war. Er hatte das Gefühl, über den Waldboden zu fliegen. Langsam wurden die Schritte hinter ihm leiser. Ein Gefühl des Triumphs stieg in ihm auf, als er in einiger Entfernung die Straßenbeleuchtung entdeckte.
Ein Stein zerstörte dieses Gefühl abrupt, als er mit dem Fuß daran hängen blieb. Marc begann zu fliegen und landete unsanft auf einer Wurzel, dabei prellte er sich den Fußknöchel. Sein Atem ging schnell. Schweiß floss ihm in die Augen.
Er hörte, wie die Gestalt wieder näher kam, hörte die Schritte auf dem weichen Waldboden.
Marc begann weg von den Schritten zu kriechen und kam sich dabei nicht schneller als eine Schnecke vor. Nur weg hier! Durch die Bäume konnte er die Straßenbeleuchtung schimmern sehen, die ihm plötzlich sehr weit entfernt vorkam. Als er die Gartenzwerge entdeckte, die durch das Licht aus einem großen Wohnzimmerfenster beleuchtet wurden, begann seine Hoffnung wieder zu wachsen. Ein Haus! Wenn er es erreichte, war er gerettet.
Doch das Wesen kam schnell näher. Marc blickte auf und sah gerade noch, wie die Axt niedersauste. Tschack. Schlagartig schmerzte sein Knöchel nicht mehr. Es dauerte einen Moment bis sein Körper merkte, dass sein Fuß nicht mehr da war. Dann jagte der blutende Stumpf Schmerzen durch ihn, gegen die, die vorangegangenen, wie ein Schnakenstich wirkten. Sein Turnschuh fiel auf die Sohle und blieb schwankend stehen. Ein blutiger Stumpf ragte aus der Öffnung.
Marc verpasste dem Wesen mit seinem verbliebenen Fuß einen Tritt. Es gab einen Seufzer von sich und fiel auf den Boden. Marc wunderte sich über seine plötzliche Kraft. Schnell kroch er, vor Angst wimmernd, auf das Haus zu.
Ich schaffe es, dachte er.
Die Haustür war nur noch zwei Meter entfernt. Jetzt kam das Wesen wieder näher. Marc erreichte die Haustür und streckte den Arm nach der Klingel aus.
Geschafft, dachte er und merkte, wie er durch den Blutverlust schwächer wurde. Sein Finger berührte die Klingel, als die Axt erneut hernieder sauste. Wo eben noch sein Arm gewesen war, war plötzlich nur noch Luft. Verblüfft sah Marc, seinen Arm in einem Blumenrabatt liegen, dass an der Hauswand entlang angelegt worden war. Dann verließ ihn seine Kraft und er sackte in sich zusammen. Langsam drehte er sich um und sah zu dem Wesen hinauf.
„Ich will nicht sterben“, hauchte er.
„Niemand betritt bei Nacht meinen Wald“, sagte eine kratzende, fast tonlose Stimme.
Marc bemerkte, daß das Geschöpf eine schwere Wunde am Hals hatte, fast als hätte sich eine Axt in den Hals gegraben, aber den Kopf nicht abgetrennt.
Die Axt sauste ein letztes Mal hernieder. Nachdem Marcs Kopf mit einem schmatzenden Geräusch von der Eingangsstufe gerollt war, herrschte Stille. Das Wesen war verschwunden.
Die Eingangstür wurde aufgerissen. Mit seinem Gewehr im Anschlag trat Förster Eduard in die Nacht. Im Licht der Gartenbeleuchtung sah er den kopflosen Leichnam eines kleinen Jungen liegen.
Argwöhnisch musterte er den dunklen Wald.
„Martha?“
„Was ist denn? Wer ist da draußen“, ertönte die Stimme einer Frau aus dem Haus.
„Ruf die Polizei. Der Mörder hat wieder zu geschlagen.“
„Oh mein Gott!“
Langsam ließ Förster Eduard das angelegte Gewehr über den dunklen Wald wandern. Das leuchtende Augenpaar, das ihn durch einige Büsche hindurch beobachtete, sah er nicht.
Als einige Minuten später der Wald vom Blaulicht des eintreffenden Polizeiwagens gespenstisch beleuchtet wurde, waren die Augen verschwunden.
John wartete an diesem Abend sehr lange auf seinen Bruder. Als der Morgen trübe im Osten zu dämmern begann, wusste er, daß er nicht mehr kommen würde.
Nie mehr.
Nachwort:
Diese Geschichte habe ich im Alter von zwölf Jahren auf Notizzettel geschrieben. Damals haben ein Freund und ich uns immer gegenseitig mit kleinen Horrorgeschichten beglückt. Zufällig habe ich sie vor kurzem wieder entdeckt und mich beim ersten Lesen nach 13 Jahren wirklich ein bißchen gegruselt. Anlass genug für mich, sie euch jetzt, gründlich überarbeitet, zu präsentieren. Einen tieferen Sinn hat diese kleine Geschichte sicher nicht, doch ich denke, daß sie trotzdem mit ihrem "Horror" unterhalten kann. Danke für's Lesen.
K.