Deine Entscheidung
Manu Chaos Radio Bemba Sound System bildete den akustischen Kontrapunkt zu dem Schnee, der zentimeterhoch auf den Straßen lag und meinen Sommerreifen gewaltig zu schaffen machte. Im Schritttempo kroch ich durch das holländische Örtchen S...; entlang den zufrierenden Grachten, vorbei an den geduckten Häusern, hinein ins winterliche Treiben.
Was machte ich da bloß? Was hatte ich hier zu suchen? Ich hätte zuhause auf der Couch liegen und fernsehen sollen oder am Schreibtisch sitzen und arbeiten oder meine Mutter besuchen und ihr erzählen, wie es um mich stand, oder meine Freunde treffen, die stets mehr Verständnis für mein spleeniges Ego aufbrachten, als ich es je für ihres getan hätte.
Stattdessen kurvte ich hier herum und haderte mit dem Wetter, das mir willkürlich kalt erschien, den Menschen, die mir absichtlich begriffsstutzig vorkamen; und natürlich mit mir selbst, der ich, das Lenkrad fest umklammert und nach einem Parkplatz Ausschau haltend, dieses nervöse Zittern nicht unterdrücken konnte, das mich immer dann befiel, wenn ich drauf und dran war, eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen.
Wenn mich jemand fragte, pflegte ich zu antworten: Tu es! Tu es am besten gleich zwei Mal! Man kann nie wissen. Das Leben ist zu kurz, um es nicht zu tun. Ich kenne Menschen, die tragen eine Entscheidung wochenlang mit sich herum, nur um dann zu kneifen. Ich weiß ja, dass jeder Idee der Zweifel folgt, aber ich sage immer, um in den Löwenkäfig zu steigen, braucht’s halt Eier – große, mächtige, haarige Eier. Und wer keine Eier dieses Formats besitzt, muss sich nicht grämen; der kann sich ergötzen, an denen, die gefressen werden. As simple as that? As simple as that.
Eine Lücke tat sich auf, ich kurbelte am Lenkrad und der Wagen rutschte hinein. Ich steckte mir eine Zigarette an, nahm meinen Rucksack und stieg aus. Um ein Haar wäre ich ausgerutscht und in die Gracht gefallen, neben der ich geparkt hatte. Im letzten Moment konnte ich mich an dem schmiedeeisernen Geländer festhalten; der Schreck entlockte mir einen kleinen Fluch: merde. Da hatte ich mir wirklich einen feinen Tag ausgesucht, um mit dem Saufen aufzuhören. Ich glaubte, noch nie in meinem Leben so gefroren zu haben. Die Kälte griff sich mein Gesicht und ließ es augenblicklich erstarren. Ich stapfte los und musste schon wieder fluchen; die Sohlen meiner Schuhe waren der letzte Dreck, für dieses Wetter jedenfalls. Es dauerte nicht lange und ich hatte mich fünf Mal bekreuzigt, weil ich nicht gefallen war.
In meinem kurzen, bewegten Leben war mir das Glück sehr oft – oft genug auch in letzter Sekunde – zur Seite gesprungen; hatte mich gestützt, aufgefangen, bewahrt, was auch immer. Aber entschieden hatte sich alles an den drei Momenten des Unglücks. Darin besteht die Tragödie meines Lebens. Auch wenn das Leben selbst eine leichte Komödie ist, dieser Wahnsinn ist real. Nach dem Verlust meiner großen Liebe fing ich an Drogen zu nehmen; nach dem Verlust meines besten Freundes hörte ich damit auf. Eine schöne, produktive Zeit; bis ich es nicht mehr aushielt und das Saufen begann. Und das hatte ich jetzt satt.
Ich persönlich kann in den Holländern nichts weiter sehen als ein freundliches Volk. Klug scheinen sie zu sein, tüchtig und sprachbegabt; ruhig und besonnen, auf eine geheimnisvolle Art gelassen, selbst die Polizeibeamten; und im Schnitt sehen sie auch ganz passabel aus. Sicherlich mag es Schwachköpfe unter ihnen geben, aber die gibt es überall; und, jetzt mal ehrlich, gäbe es sie nicht, was hätten all die Schlauköpfe zu lachen? Hier, dort oder sonst wo?
Auch glaube ich nicht daran, dass sie im Großen und Ganzen etwas gegen uns Deutsche haben; nicht mehr als wir selbst, das steht mal fest.
Warum auch? Niemand hat ernsthaft etwas gegen den fortwährend jammernden Nachbarn, der schon seit Jahrzehnten gar nicht mehr weiß, weshalb er eigentlich jammert und, in manch bierselig-lichtem Moment, darüber in Tränen ausbricht. Dagegen hat man doch nichts; da schmunzelt man höchstens und geht seiner Wege.
Jedenfalls – soviel bleibt festzuhalten – hatten sie nichts gegen einen wie mich: einen zutiefst verstörten Feigling, der mit Inbrunst und einer Spur Fatalismus daran glauben wollte, im Zustand des Cannabisrausches eine Ahnung von den Fähigkeiten zu verspüren, die sein Geist besaß, wenn er ihm vertraute.
So wunderte es mich nicht, wie zuvorkommend mir ein großer, magerer Schwarzer mit bis zum Arsch hängenden Dreadlocks und glasig-roten Augen den Weg zum einzigen Coffeeshop erklärte, den es in diesem Örtchen gab. Ich war zwar schon einmal dort gewesen, vor ein oder zwei Jahren, aber wenn ich mich auf eines verlassen konnte, dann darauf, einen Weg niemals wieder zu finden, wenn ich ihn erst ein Mal gegangen war.
Die Wegbeschreibung des Schwarzen war ausgezeichnet, ich fand den Laden auf Anhieb.
Da stand ich nun und wusste weder aus noch ein. Die schwere, schwarze Eingangstür wirkte bedrohlich; einschüchternd. Mein Magen kreiste und ich steckte mir eine Zigarette an, um ihn zu beruhigen.
Diese Frauen, die mich hierher gebracht hatten, was taten sie wohl gerade? Ahnten sie, was hier vor sich ging? Scherten sie sich überhaupt darum? Und außerdem: Lag die eigentliche Schuld nicht bei ihnen? Weil sie Hoffnungen in mir am Leben gehalten hatten, die sich als Totgeburten herausstellten; weil sie Gedanken in mir wachgerufen hatten, die niemals mehr sein sollten als Gedachtes; weil sie Gefühle in mir entfacht hatten, die mir nun geradezu lächerlich-naiv erschienen. Sie hatten mich hierher gebracht – und ich wollte, dass sie es wussten; ich wollte, dass sie sich deshalb schlecht fühlten; ich wollte, dass sie hier wären und mich sähen, wie ich mit mir rang und mich nicht entscheiden konnte, ob ich das Richtige tat und das Falsche unterließ oder ob es sich genau andersherum verhielt. Im Grunde wollte ich, dass sie, wenigstens eine von ihnen, mir die Entscheidung abnahmen, weil ich nicht einsehen wollte, dass sie die Verantwortung trugen und ich die Konsequenzen.
Nein, vergiss das, sagte ich zu mir und sog an meiner Zigarette; du bist hier, weil du hier sein willst. Niemand sonst ist dafür verantwortlich, nur du allein. Ja, ja, mag sein, dass du im Moment keinen anderen Ausweg siehst, aber schieb es nicht auf die Mädchen, sie können am wenigsten dafür. Du allein hast es zu verantworten! Du allein. Niemand sonst. Wenn du jetzt da rein gehst, ist es deine Entscheidung gewesen. Deine ganz allein. Ich weiß, dass sie dich verrückt machen; ich weiß, dass sie selbst nicht ganz bei Trost sind – aber wenn du jetzt die Zigarette in den Schnee wirfst, die Klinke in die Hand nimmst und da rein marschierst, gibt es keine Ausreden mehr, dann liegen die Karten offen auf dem Tisch; und du weißt, was das bedeutet – es ist deine Entscheidung.
Ich erschrak.
Mitten hinein in diesen inneren Disput öffnete sich die Tür und ein Mann trat heraus. In seinem Mundwinkel hing etwas, das definitiv nach einem Joint aussah. Er sah mich an und lächelte schräg. Was hatte er da in der Hand? Eine Schnur? Ja, das war eine Schnur. Der Typ zog etwas hinter sich her. Was, bitte schön, zieht man denn im Winter hinter sich her? Einen Schlitten selbstverständlich, und auf dem Schlitten ein Kind; ein in einen winzigen, orangefarbenen Skioverall gestopftes Kind, das lachte, als es den Schnee unter seinem Schlitten knistern hörte. Ungläubig betrachtet zogen sie an mir vorbei, als gäbe es nichts Einleuchtenderes.