Deine Hände
Deine Hände
Ich lasse mich auf das Sofa sinken und drücke meine Finger auf meine Augenlider. Alles um mich herum schwankt und spielt sich in doppelter Geschwindigkeit ab. Meine Haare fallen aus meinem Zopf und kleben an meinen nassen Wangen. Meine Gedanken rasen umher.
„Soll ich jemanden für Sie anrufen?“ fragt die Frau, die vor mir steht. Ich öffne leicht die Augen und kann die Kappen ihrer Schuhe erkennen. Sie riecht nach billigem Parfum aus einer TV-Werbung. Mir wird schlecht. Nur langsam schüttel ich den Kopf und schließe meine Augen wieder. Es kommt mir vor, als würden mir die Tränen aus den Augen schießen, wie in so einem schlechten Animefilm; wie früher bei Sailor Moon, wenn Bunny ihren Willen mal nicht bekommen hat. Dabei fühle ich nichts. Ich fühle mich, als hätte mich jemand ausgehüllt; ich könnte jederzeit in mich zusammensacken und tot sein, es würde keinen Unterschied machen. Ich spüre deine Hände auf meinen.
„Sind sie sicher, dass ich niemanden anrufen soll?“ fragt die Frau erneut. Ich kenne sie nicht und weiß auch nicht, wie sie hier herkommt, aber sie geht mir auf die Nerven. Ich habe Lust, ihr die Kehle aufzuschneiden. Ich lasse meine Augen kreisen, doch kann nichts erkennen, womit ihr die Kehle aufschneiden könnte. Also setze ich mich langsam auf und sehe sie an. Ich erkenne allerdings nicht viel, alles ist durch die Tränen so verschwommen. Wieder schüttel ich langsam den Kopf. Sie lächelt mich an, voller Mitleid und Sorge. Innerlich muss ich lachen. Wie lächerlich dieses ganze Getue ist. Die kennt mich doch gar nicht, was interessierts die denn? Anscheinend kann sie keine Gedanken lesen, denn sie legt tröstend ihre Hand auf meine Schulter, als ich versuche aufzustehen. Mein Körper will mir nicht gehorchen. Ich schwanke stark, und muss mich am Couchtisch abstützen, damit ich nicht falle. Sofort sind zwei Männer links und rechts von mir in ihren Neonorangenen Anzügen und halten mich auf den Beinen. Ich kann nichts dagegen tun. Sie reden irgendwas, aber ich verstehe nichts davon. Einer geht und legt meinen Arm hinter den Nacken des anderen. Ich fühle mich so schwach. Ich spüre deinen Atem an meinem Ohr. Sofort stellen sich meine Nackenhaare auf und mir läuft es eiskalt den Rücken herunter.
Plötzlich ist der andere orangene Anzug wieder da. Er hat eine Trage in der Hand. Wahrscheinlich soll ich mich hinlegen. Was solls. Ist mir egal.
Ich lege mich hin. Sie untersuchen mich. Wieder wird viel gesprochen und ich verstehe nichts davon. Ich fühle nur meinen hohlen Körper dort liegen, wie mein Herz langsam gegen meine Brust schlägt und meinen Bauch rotieren. Ein Kloß im Hals lässt mich erschwert atmen. Immernoch rollen mir große Tränen das Gesicht herunter. Aber ich muss nicht schluchzen. Ich bin zu schwach. Lautlos bahnen sich die Tränen den Weg über meine Stirn und Wangen.
Plötzlich ruckelt jemand an meiner Schulter. Ich öffne langsam meine Augen. Das Licht von der Deckenlampe blendet mich. Das Teil war mir immer schon zu hell. 40 Watt hätten es doch auch getan, Schatz.
„Frau Linden!“ Der Händedruck an meinem Arm schmerzt. Ich murmle etwas, aber kann mich selbst nicht verstehen. Der orangene Anzug richtet mich auf. „Frau Linden!“ Ich hab das Gefühl, es schreit mir jemand entgegen, sofort bekomme ich Kopfschmerzen. „Ja!“ entgegne ich schließlich, erschrocken von mir selbst. Meine Stimme klang heiser und mickrig, obwohl ich das Gefühl hatte, ich würde aus voller Kraft meiner Lungen rufen. Ich erkenne das Gesicht einer Frau, der Frau, der ich die Kehle aufschneiden will. Immernoch. Sie versucht, Sichtkontakt mit mir herzustellen.
„Frau Linden, wir müssen jemanden für sie anrufen. Wir können sie nicht in dem Zustand alleine lassen.“ Was will die von mir?
„Nein“ murmle ich wieder. Ich will einfach nur schlafen.
„Frau Linden. Wenn wir niemanden anrufen dürfen, müssen wir sie ins Krankenhaus bringen. Sie haben einen Schock sagen die Notärzte“ erklärt sie mir, in einem Ton als wäre ein Kleinkind mit Down-Syndrom. Wieder lasse ich meine Augen kreisen. Leider immernoch nichts scharfes entdeckt. Ich ziehe meine Schultern hoch. Es sollte ein Ausdruck meines Desinteresses sein, aber anscheinend verstand die Tussi mich falsch. Wieder legte sie ihre Hand auf meine Schulter und Ich fühl mich wie im Streichelzoo.
„Wenn Sie nicht sprechen können... können sie vielleicht in eine Richtung zeigen,wo vielleicht ein Adressbuch oder ihr Handy liegt?“ Die lässt echt nicht locker. Bevor mir gleich der Geduldsfaden reißt, deute ich auf den Schreibtisch rechts von ihr. Ich spüre deine Hände auf meinen Schultern. Du drückst mich langsam zurück auf die Trage und streichst mir behutsam über die Wange. Ich schließe die Augen und bereite mich zum schlafen vor. Du nimmst meine Hand.
„Wir haben jemanden angerufen. Ihren Bruder. Es wird gleich hier sein“ Ich nehme es zur Kenntnis. Aber egal ist es mir trotzdem. Ich will einfach nur schlafen, meinen Akku wieder aufladen und dann der blöden Kuh die Kehle aufschneiden.
Was machen die denn alle überhaupt hier. Ich sehe ja ein, irgendwas mit mir ist nicht so ganz normal, aber was geht das die Leute an. Ist doch normal, dass man mal krank wird. Da müssen sich nicht direkt 3 Leute um einen versammeln und so einen Aufstand machen. Ben wird denen das schon erklären können.
Orangener Anzug nimmt meinen Arm und setzt mir eine Infusion. Der Schmerz befriedigt mich auf eine seltsame Art und Weise. Ich lebe noch. Aber mein Körper fühlt sich immer noch hohl an. In meinem Kopf hämmert es und ich habe ständig das Gefühl, jemand spricht mit mir. Jetzt werd ich auch noch verrückt, oder was? Aber die Tränen haben nachgelassen. Irgendwann muss der Tank ja auch mal leer sein. Ein unangenehmes, spannendes Gefühl um die Augen bleibt: das Tränenwasser wird hart, wenn es trocknet. Warum habe ich eigentlich so schrecklich geweint? Seit wann weine ich denn, wenn ich krank werde? Irgendwie fällt mir dazu keine Antwort ein. Ich spüre, wie du meine Hand feste drückst. Du willst mir damit sagen, dass du da bist und dass ich mich auf dich verlassen kann. Dummerchen. Das weiß ich doch.
Ich will mich aufrichten, aber durch die Infusion ist ein Arm unbrauchbar und der andere ist alleine anscheinend nicht stark genug. Na gut. Ich bleibe liegen. Ist ja nicht so, als hätte ich was zu tun.
Ich werde geweckt von der Türklingel und dem anschließenden Getrampel zur Tür. Ich öffne die Augen und schließe sie direkt wieder vor dem schmerz, der mir direkt ins Hirn ballert. Ich spüre die Infusion in meinem Arm puckern und wie die Säure sich in meiner Vene mit meinem Blut vermischt. Mein Magen zieht sich zusammen und mir ist schlecht. Zustand: unverändert.
Ich höre Bens Schritt, und wie Stimmen auf ihn einreden. Ich kann allerdings nicht verstehen, was. Stattdessen steigt mir dein Aftershave in die Nase. Ich spüre deine Anwesenheit und mir wird warm ums Herz.
„Anna!“ stößt Ben heraus, als er mich auf der Trage auf dem Boden liegen sieht. Ich muss aber auch echt gut aussehen: haare im Gesicht klebend, rote Augen ohne Ende und Infusion im Arm. Da würd ich mich auch erschrecken.
Er kniet sich zu mir heruntern und drückt meinen Kopf gegen seine Brust und fängt an, so komisch mit mir zu schaukeln. Trotzdem bin ich froh, dass er da ist. Dann kann er ja für mich die Alte abstechen. Ich lege ihm meinen freien Arm um seinen Nacken. Ich bin froh, dass er da ist. Ich fange wieder an zu tränen. Es geht wieder los. Ich drücke ihn so fest ich kann und spüre deine Hand auf meinem Rücken.
„Es tut mir so leid, Anna. Es tut mir so leid“ Ben schluchzt. Ich schluchze mit, alles völlig automatisch. Warum weine ich denn nur? Das hab ich immernoch nicht heraus. „Wir schaffen das. Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das. Und wir kümmern uns auch um dein Kind. Es wird alles werden. Ich bin für dich da.“ Ich löse mich von seiner Umarmung und schaue an mir herunter. Ben legt eine Hand auf meinen großen Bauch.
Kaum hatte ich mich auf das Sofa gelegt um mir und dem Baby mal ein bisschen Ruhe zu können, klingelte es an der Tür.
Zwei Beamte in grüner Uniform standen auf meiner Türmatte und nahmen die Mütze ab, als sie mich sahen. Nein, nein, nein sagte ich mir im Kopf. Ich kenne das. Das hab ich schonmal erlebt. Nein, nein, nein!
„Frau Linden, wir müssen Ihnen eine wichtige Mitteilung machen. Dürfen wir eintreten?“ Ich ließ die Tür offen stehen und schlenderte ins Wohnzimmer, meine linke Hand behutsam auf meinem ungeborenen Kind. Nein, nein, nein hämmerte es in meinem Kopf.
„Wollen sie sich nicht lieber hinsetzen?“ Fragte die Beamtin. Aber ich gab einen Scheiß drauf, ob ich saß oder stand. Also sagte ich nichts. Sie räusperte sich, bevor sie fortfuhr. Nein, nein, nein, nein, nein!
„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihr Mann...“ Nein nein nein nein. Ich ließ mich auf das Sofa sinken und drückte meine Finger auf meine Augenlider. Alles um mich herum schwankte und spielte sich in doppelter Geschwindigkeit ab. Meine Haare fielen aus meinem Zopf und klebten an meinen nassen Wangen. Meine Gedanken rasten umher.
Ich lege meine Hand auf Bens und versuche, dich zu spüren, aber ich kann dich nicht finden. Ich schmeiße mich ins Bens Arme und trommle gegen seine Brust. „Er ist tot!“ will ich ihn anschreien, als wäre es seine Schuld. Stattdessen krächze ich nur: „Er ist tot.“
Er streichelt mir über den Kopf, den Rücken und redet leise auf mich ein. Ich höre ihm nicht zu. Mein Blick ist starr auf die Tür gerichtet, die Tränen nehmen mir die klare Sicht.
Ich erkenne den Umriss eines Menschen, ganz in Schwarz gekleidet. Er steht im Türrahmen und zeigt auf etwas. Ich versuche der Richtung zu folgen und dann sehe ich ihn. David. Dort steht David. Obwohl er nur zwei Meter von mir weg steht ist es, als wären eine Millionen Kilometer oder gar eine andere Welt. Er steht dort mit den Jeans, mit denen er heute morgen das Haus verlassen hat. Er sieht glücklich aus und grinst. Langsam kommt er auf mich zu. Ich höre, wie er mit mir spricht, aber seine Lippen bewegen sich nicht. „Anna, es tut mir leid. Ich muss gehen. Ich komme nicht mehr wieder, ich denke du weißt, dass das nicht geht. Ich liebe dich. Pass auf Rufus auf und liebe ihn, wie du mich liebst“ Er kommt näher und drückt mir einen Kuss auf meine Stirn. Dann dreht er sich um und geht zu dem anderen Mann, der in seinem schwarzen Anzug im Türrahmen steht. Er nimmt Davids Hand und weist ihm den Weg. Sie verschwinden langsam im Licht.
Ich liebe dich auch, sage in Gedanken zu meinem Mann und schließe meine Augen.
Er ist angekommen.