Dem Ruf folgen
Dem Ruf folgen
Unter quälenden Schmerzen trieb er seine Beine weiter durch den kniehohen Schnee. Sie hinterließen rote Striemen im sonst so makellosen Weiß.
Verdammtes Unterholz, fluchte Hugh in sich hinein. Die umherliegenden Äste hatten seine Hosenbeine zerrissen und waren ihm teilweise sehr tief ins Fleisch vorgedrungen. Es brannte höllisch. Der stellenweise schon vereiste Schnee kam Salz in einer Wunde gleich. Aber umdrehen konnte Hugh nicht. Erstens, weil zurückzugehen nicht in seiner Natur lag – vorankommen lautete seine Devise - , und zweitens gab es im Umkreis von Meilen keine vernünftige Ortschaft geschweige denn Stadt. Nur Schnee, welcher als weiße Masse die verwitterten Baumkadaver umflutete wie ein erstarrtes Meer.
Ab und zu landete mal ein verirrter Eiskristall auf seiner Nase, schmolz jedoch sofort auf dem hochroten Zinken. Hughs Gesicht glühte vor Anstrengung. Stoßweise zischte er helle Atemwolken in die kalte Winterluft. Die Stiefel, die Jacke, die Handschuhe und die dicke Wollmütze sollten ihn vor dem Erfrieren schützen. Jedenfalls solange, bis er sein Ziel erreicht hatte.
Immer wieder sprenkelte sich der Schnee vor seinen Füßen mit dem Blut seiner Frau. In dem Baum dort steckte das teure Küchenmesser mit dem er sie ermordet hatte. Eben jenes Messer, welches sie ihm zum 36. Geburtstag schenken wollte, er aber verfrüht entdeckt hatte. Wäre es nicht unter ihren Blusen versteckt gewesen, wäre sie jetzt vielleicht noch am Leben.
Er sah auf.
Wie Verdammte reckten die Bäume ihre Finger gen Himmel, auf das die hilfreiche Hand eines Engels sie ergriff, aus den Tiefen der Hölle befreite und im Paradies aufnahm. Dunkelgrauer Rauch stieg zwischen ihnen empor. Dort musste es sein.
In nicht allzu großer Entfernung erkannte Hugh seine Frau stehen. Seine, von diversen Aufputschpillen verschleierten Augen erblickten sie an einen Baum gelehnt. Sie war nackt. Einen Arm hatte sie zum Gruß erhoben. Deutlich stachen die tiefroten Schnitte an ihrem Hals und ihren Brüsten aus ihrer alabasterweißen Haut hervor. Auf ihrem kugelförmigen Bauch prangerten drei Stichwunden. Das Blut floss ihr in dicken Rinnsälen über den Körper.
Hugh senkte den Blick und stapfte weiter voran.
Bald erreichte er die Holzhütte.
Der Rauch entstieg einem kleinen Schornstein im windschiefen Dach. Holzscheite waren am Ostende der Hütte gestapelt und zum großen Teil von Schnee überdeckt. Vor der Tür war ein kurzer Pfahl in den Boden gerammt. An ihm hing eine Kette. Wahrscheinlich für den Hund, doch war weit und breit keiner zu sehen. Wirklich ungewöhnlich war jedoch nicht die Hütte selber, sondern der Schnee um sie herum. Er war komplett schwarz. In einem klar begrenzten Kreis um das Haus war nicht eine weiße Stelle zu finden. Als hätte hier ein Feuer gewütet. Nur für einen Sekundenbruchteil, und dann „Plopp“, war es wieder verschwunden. Der Schnee auf den Holzscheiten und auf dem Dach war hingegen normal. Zumindest von der Farbe her.
Hugh stand an der Grenze von Schwarz zu Weiß. Ihm frierte. Kleine Nadeln stachen in seine Muskeln und verwandelten jede Bewegung in eine Plage. Ihm schrumpften die Lungenflügel. Mühselig wurde das Atmen. Die starre Luft sog sämtliche Wärme aus seinen Adern und ließ ihn zurück wie eine kaputte Wärmeflasche.
Jetzt gab es kein zurück mehr. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Der kurze Weg über den schwarzen Schnee zur Haustür stellte sich als schwierig heraus. Die Kälte lähmte zunehmest seine Beine. Sie wurden steif und unbeweglich. Wie auf Krücken humpelte er vorwärts, immer schneller und schneller. Dann verlor er die Kontrolle über sich selbst. Er stürzte, prallte gegen die Tür, die krachend aufbrach und fiel längs in die Hütte.
Wärme umgab ihn. Er hörte das Knistern eines Feuers. Staub kitzelte ihm in der Nase. Er hob den Kopf und sah sich um.
Ein einfacher Kamin war in die Wand eingelassen. Das Licht der Flammen erhellte den Raum in warmen Rot- und Gelbtönen. Doch der Raum war leer.
„Bleib ruhig liegen“, sagte eine Stimme. Ihr Klang war einprägsam. Es war eine sehr wohlwollende Stimme der man gern lauschte.
Hugh wandte den Kopf zur gegenüberliegenden Seite des Raumes. Dort stand ein Tisch und ein Stuhl. Und auf dem Stuhl saß jemand, nur reichte das Licht nicht bis hin zu ihm. Hugh konnte die Person nicht erkennen, wusste aber dennoch, mit wem er es zutun hatte.
„Oh nein“, brachte er heraus. „Ich möchte nicht respektlos erscheinen.“
„Dann steh auf“, forderte die Stimme.
Hugh war, als besäße er nur noch Holzstangen unterhalb der Taille. Er drehte und wälzte sich am Boden bis es ihm schließlich gelang, sich an der Tür hochzuziehen.
„Schließe sie bitte!“
Er warf sie zu, schwankte, blieb aber aufrecht.
„Nun“, die Gestalt auf dem Stuhl regte sich, „weshalb bist du hier?“
Auf seiner Reise hatte Hugh sich diese Frage auch des öfteren gestellt. Warum war er hier? Eigentlich gab es nur eine sinnvolle Antwort darauf:„Ich bin deinem Ruf gefolgt.“
Stille. Sein Gesprächspartner schien zu überlegen.
„Das tun nicht viele. Den meisten gefällt alles so wie es ist und sie haben nicht vor dem ein Ende zu setzen. Sie ziehen ihr Leid unnötig in die Länge im festen Glauben, doch noch etwas ändern zu können. Warum bist du da anderer Ansicht?“
Da brauchte Hugh nicht zu überlegen.
„Ich habe meine Frau ermordet!“
„Das haben andere auch.“
„Aber ich habe sie geliebt!“
„Das ist bei vielen ebenso gewesen.“
Hugh biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte er den anderen überzeugen? Musste er das überhaupt? War nicht allein schon durch ihrer beiden Anwesenheit hier alles besiegelt? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Hugh sagte einfach, was am nächsten lag.
„Ich liebe auch mich!“
Wieder Stille. Die Wärme des Feuers zeigte Wirkung. Hughs Beine tauten langsam auf und er fühlte sich auch wieder lebendiger.
„Öffne die Tür!“
„Wie?“
„Nur zu, öffne sie!“
Da ihm nichts anderes übrig blieb, streckte er seine Hand nach der Türklinke aus und öffnete die Tür.
„Sieh!“
Widerwillig warf Hugh einen Blick nach draußen. Dort, auf dem schwarzen Schnee, stand seine Frau. Die roten Male ihrer Ermordung lächelten ihn an. Es waren seine Ketten in der Hölle.
Sie winkte ihm zu:„Liebster, komm zu mir! Oh so komm doch zu mir!“
Ihre Worte trieben ihm ein Pfahl ins Herz. Nie hätte er erwartet, sie wieder zu hören, noch einmal ihre Liebe zu spüren.
„Du kannst zu ihr gehen“, sagte die Stimme, „und weiterleben. Schande und Fluch wären deine Begleiter, aber du würdest leben!“
Tränen stiegen Hugh in die Augen. Glücklich waren sie beide gewesen. Er und seine Anna. Zwei die sich fanden und liebten bis...
„Oder“, fuhr die Gestalt fort, „du kommst mit mir. Und all dein Leid wär’ vergessen. Wähle!“
Sie winkte immer noch und versuchte zu lächeln. Der Schnitt an ihrem Hals lächelte mit.
Ich habe schreckliches getan, Liebling. Und ich kann so nicht weiterleben, nie mehr. Verzeih mir, bitte!
Langsam, ganz langsam schloss er die Tür wieder. Bevor sie entgültig ins Schloss fiel hörte er sie noch etwas sagen. Er schluchzte. Sie hatte seinen Namen gerufen.
Dann kehrte wieder Ruhe ein. Das Kaminfeuer knisterte unbeirrt vor sich hin.
„Warum hast du es getan“, fragte die Stimme.
Hugh seufzte. „Ein anderer...“
„Verstehe. Eifersucht! Ja die Liebe ist mächtig, und sie hat bisher die meisten Opfer gefordert. Glaube mir, du bist weder der Erste, noch der Letzte.“
„Aber für mich ist es das letzte Mal.“
Mit der Hand strich er über das Holz der Tür. Er zog sich einen Splitter ein und zuckte kurz zusammen.
„Und nun“, fragte er. „Wie geht es jetzt weiter?“
Die Gestalt regte sich.
„Komm her und knie nieder!“
Hugh tat wie ihm geheißen. Er durchquerte das Zimmer, wobei ihn seine Beine überraschend gut trugen, und ging vor dem Stuhl in die Knie. Noch immer war nichts genaues von der anderen Person zu erkennen.
Der Unbekannte streckte Hugh seine Hand entgegen. Eine knöchrige Hand an deren Ringfinger ein blutrotes Schmuckstück prunkte.
„Küss ihn und gelobe, nie wieder nach deinem Leben oder dem anderer zu trachten, sondern allein mir zu dienen. Auf ewig!“
Hugh berührte die Fingerknochen.
„Ich gelobe!“ Er küsste den Edelstein.
Die Gestalt erhob und schritt gemächlich zum Kamin herüber. Ihr langes schwarzes Gewand bedeckte jedes Körperteil und schleifte noch ein Stück über den Boden.
Dunkle Worte hallten in Hughs Kopf wieder. Das Feuer erlosch und wurde kurz darauf von einer blauen Flamme ersetzt, die nun den ganzen Raum erhellte.
„Komm!“ Der Leibhaftige wies Hugh neben sich. „Gehen wir.“
Sie schritten beide auf den Kamin zu.
„Eine Frage noch“, sagte Hugh.
„Deine letzte!“
„Ja.“ Er schluckte.
„Warum diese Hütte?“
Der Tod war ein wenig überrascht.
„Das ist deine letzte Frage? Du fragst mich nach dem Warum?“
Hugh dachte darüber nach.
„Stimmt... Entschuldige, es war eine törichte Frage.“
Tod nickte und zusammen verließen sie diese Welt.
Nur einer von ihnen würde wieder zurückkehren. Und in dieser Hütte warten. Warten darauf, dass wieder jemand seinem Ruf folgte.