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Demontage
Früh hat er sie an diesem Morgen aus dem Bett getrieben. So früh, dass sie seit langem einmal wieder den Sonnenaufgang in seiner fast schon mystisch verheißungsvollen Ankündigung des nahenden Tages beobachten konnte. Doch das Naturspektakel konnte nicht wirklich ihre Aufmerksamkeit gewinnen, denn er ließ sie nicht los; irrte durch ihren Kopf – der Gedanke, dass es so nicht weiter gehen kann.
Und nun steht sie seit schon fast zwei Stunden vor dem Spiegel und befindet sich in einem undefinierbaren verwirrenden Schwebezustand zwischen Entsetzen, Trauer und faszinierter Neugier. Sie bemerkt es nicht, aber sie schüttelt ununterbrochen ganz leicht den Kopf; ihrem Unglauben Ausdruck verleihend. Wie hatte es nur so weit kommen können?
Sie kann einfach nichts an sich finden, dass ihr gehört. Alles, aber auch alles scheint gestohlen von ihren Mitmenschen. Wie hatte sie es wagen können? Sie merkt, wie sie vor lauter Anspannung an ihren flachen, breiten Nägeln kaut. Sie stockt - woher kam diese Angewohnheit? Nachdenklich beobachtet sie die winzigen feinen Rillen und überlegt, wann und wodurch sie sich diesen Tick zugelegt hat. Ihre Gedanken kreisen in der Vergangenheit und suchen jeden Winkel ihres Geistes ab – im Sommer ihres 12. Lebensjahres wurden sie endlich fündig: Maria war der Name dieses hinterlistigen Mädchens, das ihr in ihrem ersten und auch letzten Ferienlager erzählt hatte, dass ihr nachts, wenn sie schliefe, Spinnen und Käfer in Nase und Mund kriechen würden. Daraufhin hatte sie 3 Nächte nicht geschlafen. Sie saß immer nur kauernd auf dem Bett in dem schmutzigen Bungalow und kämpfte unter größtem Kraftaufwand gegen die Müdigkeit an. Im Zuge dieser unerträglichen Anspannung hatte sie nach der Hälfte der ersten Nacht angefangen, ihre Fingernägel systematisch abzukauen. Seitdem kehrte dieses Laster in stressigen Situationen immer wieder.
Diese Eigenschaft war nicht aus ihr selbst geboren sondern provoziert von diesem kleinen Biest und war somit inakzeptabel. Nach kurzem Überlegen geht sie in die Abstellkammer, wo sie alle Dinge aufbewahrt, die sie selten benutzt oder die zu sperrig sind, um sie im Rest der Wohnung unterzubringen. Sie muss kurz kramen. Es scheint ihr wie eine Ewigkeit, dass sie den Werkzeugkasten das letzte Mal gebraucht hat. Die Repro eines Selbstportraits von van Gogh war es, die sie damals mit Hammer und Nagel an der Wand befestigt hat.
Den Werkzeugkasten in der Hand geht sie zurück zum Spiegel und betrachtet sich noch einmal kurz ihre zerkauten Nägel. Dann greift sie entschlossen in den Werkzeugkasten, holt eine Zange heraus und setzt sie am ersten Nagel an. Es geht schwerer als gedacht - sie muss mit einem kräftigen Ruck ziehen - doch dann hält sie, fast schon triumphierend vor sich selbst, den in der Zange eingeklemmten Fingernagel in die Höhe. Begierig, sich den anderen zu widmen, schmeißt sie ihn achtlos auf den Boden und löst den nächsten Nagel von seinem Fleisch. Nach einiger Übung, schafft sie es, die letzten in Windeseile ohne Probleme, zu entfernen.
Voller stolz betrachtet sie ihr Werk. Erst an sich selbst, dann im Spiegel, in dem sie sich lächeln sieht. Doch ihr Gesicht friert plötzlich ein – ihr Lächeln. Immer hatte man ihr gesagt, dass sie es von ihrer Mutter habe. Was für ein Frevel. Es gehört nicht ihr. Sie darf und will es nicht benutzen, sondern will stattdessen ihr eigenes haben. Nachdem sie mit Bedacht jeden Zahn mit der schon zuvor benutzten Zange gezogen hat(es gestaltet sich etwas schwieriger als mit den Nägeln, denn es sind mehr und sie sind dichter beieinander, außerdem fällt es schwer mit der Zange an jeden einzelnen heranzukommen, aber schließlich hat sie es geschafft – all die Zähne ihrer Mutter liegen um sie herum verstreut auf dem Fußboden), wühlt sie wieder in ihrem Werkzeugkasten, findet aber nicht, was sie sucht. Deshalb geht sie in die Küche, in der noch der mittlerweile kalte Kaffee auf der Kaffeemaschine steht, denn sie heute früh aus lauter Gewohnheit angesetzt, dann aber über ihren abschweifenden Gedanken vergessen hat. Zielsicher öffnet sie die Schublade mit dem Besteck und zieht das größte Messer heraus, das sie hat. Mit ihrem Daumen prüft sie kurz die Klinge und holt dann den Wetzstein heraus, um sie noch etwas zu schärfen. Mit dem Ergebnis zufrieden, geht sie zurück zum Spiegel und schneidet sich in akkurater Arbeit die Lippen, exakt ihrem Verlauf folgend, heraus. Das Messer gleitet durch das Fleisch wie durch Wasser – ohne jeden Widerstand.
Entschlossen will sie ihren ganzen Körper nach weiterem Diebesgut untersuchen und zieht sich aus. Während sie diesen Körper taxiert manifestiert sich der Gedanke immer mehr in ihrem Kopf, dass das, was sie da sieht, nicht ihr Ich ist und lässt Zorn in ihr aufsteigen. Zorn auf die, die sie zu dem gemacht haben, was sie stattdessen ist, und Zorn auf sich selbst, dass sie es so weit hat kommen lassen. Ihr Blick bleibt an ihren krummen knochigen Zehen hängen, die sie von ihrer Großmutter geerbt hat. Mit einer stummen Entschuldigung an sie, dass sie ihr Eigentum all die Jahre missbraucht hat, greift sie wieder zu dem Messer und versucht, diese Fremdkörper von sich zu lösen. Doch sie kommt nicht durch die Knochen und greift voller Ungeduld zu der kleinen Axt in ihrem Werkzeugkasten. Seitdem sie diese besitzt, hat sie sich immer wieder gefragt, wozu sie so etwas gebrauchen konnte, doch nun gab es eine Antwort auf diese Frage. Mit Schwung lässt sie die Axt über jedem Zeh auf und nieder krachen. Das Glänzen in ihren Augen verrät, dass sie mit dem Ergebnis zufrieden ist. Irritiert betrachtet sie ihre graugrünen Augen, die sie von ihrem Vater hat. Wie hat sie die vergessen können. Schnell will sie sich ans Werk machen, aber sie weiß nicht recht, welches ihrer Instrumente ihr da weiterhelfen würde. Sie seufzt als sie erkennt, dass sie da wohl ohne Hilfsmittel arbeiten muss. Mit der linken Hand hält sie die Lider auseinander, und umgreift mit den Fingern der rechten den Augapfel. Sie muss etwas drehen und ziehen doch schließlich schafft sie es mit etwas Feingefühl gepaart mit einem abschließenden heftigen Ruck. Mit Eifer macht sie sich über das andere Auge her.
Unfähig ihren Körper nun weiter mit ihren Blicken nach Diebesgut abzutasten, benutzt sie ihre Hände. Während sie über ihre glatte Haut fährt, kommt ihr plötzlich der Gedanke, dass sie sich nur um das Äußere kümmert. Was ist aber mit den gestohlenen Eigenschaften, die ihren Charakter formen? Spontan kommt ihr das Misstrauen gegen alles und jeden in der Welt in den Sinn, was ihre Mutter in jahrzehntelanger akribischster Arbeit in sie hineingepflanzt hat. Mit plötzlich aufkeimender, unbändiger Wut, schabt sie jeden noch so kleinen Krümel Misstrauen aus sich heraus, den sie finden kann. Langsam gerät sie nun in Rage, denn die Gier, endlich zu ihrem wahren Ich durchzudringen, wird immer größer. Schnell sind ihre Stimmbänder entfernt, die immer wieder Worte formuliert haben, die nicht ihr selbst entsprangen, die sie nur von anderen Menschen übernommen hat, sodass sich mit der Zeit ein dicht geflickter Teppich gestohlener Worte ergeben hat. Danach schält sie sich mit dem Messer das Gesicht von den Knochen, dass über so viele Jahre die Mimiken anderer Menschen imitiert hat – das Schürzen der Lippen von ihrer ersten Grundschullehrerin mit den großen Augen, das melancholische Lächeln bei dem sie immer nur den rechten Mundwinkel in die Höhe zog von der alkoholkranken Nachbarin, die in ihrer ersten eigenen Wohnung neben ihr wohnte und dort auch starb, das Hochziehen nur einer Augenbraue von ihrem Ex-Freund, der sie nach drei Jahren Beziehung ohne Angabe von einem Grund einfach verlassen hat und so weiter und so fort. In diesem Hautlappen, der sich einmal „ihr“ Gesicht nannte, ist eine Menge Beute versteckt.
In schneller Abfolge trennt sie sich nun von ihrer Sturheit (in Kämpfen mit ihrer großen Schwester erlernt), ihrer Leidenschaft für französisches Essen (von ihrer ersten großen Liebe gestohlen), ihrer Höhenangst (von der Mutter anerzogen) und ihrem Reinheitswahn (Erbstück des Vaters).
Und sie ist noch lange nicht fertig.
Nachdem man zwei Jahre ohne Erfolg und ohne signifikante Spuren nach ihr gesucht hatte, gab man es schließlich auf. Sie schien sich einfach in Luft aufgelöst zu haben.